# taz.de -- Gottesdienst für Atheisten: Andacht ohne Gott | |
> Einmal im Monat trifft sich die Gruppe Sunday Assembly in Hamburg zu | |
> einer Art Gottesdienst. Die Bewegung sucht nach einem besseren Leben. | |
Bild: Fast ein ganz normaler Gottesdienst: Einmal im Monat trifft sich die athe… | |
HAMBURG taz | Zum Singen stehen sie auf. Sie lassen die Arme hängen und | |
schauen auf den Liedtext, der mit einem Beamer an die Stirnseite des Raumes | |
projiziert wird. Sie beginnen mit „Shout“ des britischen Popduos Tears for | |
Fears, ein Hit aus den 80ern. Die Lieder, sie sollen die Lesungen und | |
Vorträge strukturieren, sie aber auch auflockern; die Beteiligten sechzig | |
Minuten lang aus dem Alltag holen. | |
Christian, der heute als Moderator durch die Session führt, spricht in ein | |
Mikrophon. „Wir wollen uns zusammen Gedanken machen und wir wollen anderen | |
helfen“, sagt er. Helfen, besser zu leben. Darum geht es bei den | |
nachmittäglichen Sessions des Sunday Assembly in Hamburg. Einer Bewegung, | |
die ursprünglich aus den USA und aus England stammt, wo sie vor allem in | |
London praktiziert wird und wo sich regelmäßig bis zu 300 Menschen | |
versammeln, um miteinander zu feiern, sich zu begegnen, sich gemeinsam | |
intensiv zu fühlen und zu bestärken. Das ist die vornehmliche Idee: Sich | |
einfach zu treffen, um Zeit miteinander zu verbringen. | |
In Hamburg ist das alles eine Nummer kleiner. Gut 30 Leute kommen an diesem | |
Sonntag zusammen, im Centro Sociale im Schanzenviertel, einem hohen, hellen | |
Veranstaltungsraum mit Bartresen, wo man normalerweise schwerwiegende | |
Themen wie den Landraub an indigenen Bevölkerungsgruppen oder die | |
Geschichte der NSU-Morde verhandelt, wo aber auch eine Gruppe wie die | |
Sunday Assembly ihren Platz findet – selbst offen für jeden, der kommen | |
mag. | |
Dazu wird jeder einzeln begrüßt. Von Christian aus dem Organisationsteam. | |
Mit Handschlag. Und dann der Satz, der Verbindlichkeit schaffen und der in | |
den Nachmittag hinüberführen soll: „Schön, dass du da bist.“ | |
„Schön, dass du da bist, Greta.“ „Schön, dass du da bist, Martina.“ �… | |
dass du da bist, Hannes.“ „Schön, dass du da bist, Frank.“ | |
Man sucht sich einen Platz, um sich zu setzen – und wieder aufzustehen, | |
sobald der Gitarrist den ersten Akkord anschlägt und sich der dreiköpfige | |
Chor aufstellt, der einem aber das Singen nicht abnehmen, sondern einen im | |
Gegenteil zum Singen animieren soll. | |
## Bedürfnis nach Gemeinschaft | |
“Ein Drittel der Leute sind Stammgäste, ein Drittel kommt immer mal wieder, | |
ein Drittel der Leute sind jedes Mal neu“, sagt Rainer Sax, der mit seine | |
Frau Vanessa Boysen vor gut einem Jahr die Hamburger Gruppe ins Leben | |
gerufen hat. Heute sagt er: „Es gibt auch bei Menschen, die nicht glauben, | |
ein Bedürfnis nach Gemeinschaft – egal, ob man nun radikaler Atheist ist | |
oder nur ein bisschen.“ | |
Interessanterweise rede man zuweilen vornehmlich mit Journalisten über | |
Religion und Gott. Dabei gebe es den doch gar nicht. Mindestens solange man | |
gut leben und sein Leben selbst in die Hand nehmen wolle. An diesem | |
Nachmittag ist „Selbstgefühl“ das Thema, dass Treffen und Vorträge prägen | |
soll. | |
Die Besucher erfahren so, dass sie selbst das Zentrum ihrer kleinen Welt | |
seien und dass wenn es einem gut geht, dieses nach außen ausstrahlen werde | |
– im Großen wie auch im Kleinen. Sie werden ermuntert, aktiv Einfluss auf | |
die äußeren Umstände zu nehmen, um so für perfekte Bedingungen für sich | |
selbst zu sorgen. Eine Frau stellt sich als „Mentaltrainerin“ vor und | |
beginnt einen kurzen Vortrag. Sie berichtet davon, dass die Wissenschaft | |
festgestellt habe, dass sich im Herzen ein Gebilde aus etwa 40.000 | |
Hirnzellen befände und dass so das Herz ständig mit dem Hirn in einem | |
intensiven Dialog stände, wobei das Herz 5-mal mehr Informationen an das | |
Hirn schicke als umgekehrt. | |
Es folgen Lebensweisheiten, wie man sie etwa in Frauenzeitschriften lesen | |
kann: Dass man sich nicht allzu viel auf einmal vornehmen solle, um | |
hinterher nicht enttäuscht zu sein, wenn man nicht alles, was man in seinem | |
Leben ändern wollte, geändert hat. Umgekehrt sei es doch viel | |
motivierender, verstände man es, kleine Erfolge zu einem großen zu | |
addieren. Was ist dagegen schon einzuwenden? | |
Zwischendurch wird gesungen. „Es geht mir gut“ von Marius | |
Müller-Westerhagen – oder: „Über sieben Brücken muss du gehen“ von Kar… | |
von damals aus dem Osten, bevor sie Peter Maffay coverte. Manch einer | |
schließt dabei die Augen. Andere bewegen die Lippen und singen vorsichtig | |
mit, andere mit Inbrunst. Es sind jüngere Frauen mit geringelten Leggins; | |
junge Männer, die die Beine ausgestreckt haben. Vorn in der ersten Reihe | |
wiegt sich ein älterer Mann in Cordhose abwechselnd nach links und rechts. | |
Das Singen, das Zuhören, das Zusammensein mit anderen, diese Stunde | |
bedeuten ihm etwas und er ist gerne hier. Ansprache, Lesung und die | |
anschließende Interpretation – es ist die Struktur eines ganz normalen | |
Gottesdienstes, der man an diesem Nachmittag folgt. Nur, dass niemand die | |
Hände hebt und dem Herrn dankt. | |
„Die Kirche hat 2.000 Jahre lang Zeit gehabt, sich zu überlegen, wie man | |
sich am Sonntag eine gute Zeit macht – warum sollen wir uns nicht daran | |
bedienen“, fragt Rainer Sax, der katholisch aufgewachsen ist. Gerne | |
erinnert er sich an die Wallfahrten mit seiner Oma nach Altötting, wo man | |
aus dem Bus stieg und die ganze Stadt nach Weihrauch gerochen hatte. „Und | |
dann die Marien-Hooligans, wie sie sangen und beteten.“ Verurteilen will er | |
das nicht. | |
Irgendwann sei ihm aber der Bezug zum Glaubensinhalt abhanden gekommen. Er | |
trat aus der Kirche aus, obwohl er sich das Interesse an den großen Fragen | |
dieser Welt erhielt. Kürzlich waren er und seine Frau zu einer Tagung der | |
evangelischen Nordkirche eingeladen. Das Thema: Was glauben die, die nicht | |
glauben. Das sei zwar eine tolle Frage, doch eine richtige Antwort hatten | |
auch sie nicht zu bieten. Aber man habe sie respektvoll und freundlich | |
behandelt, als Experten einer Bewegung, von der man noch nicht sagen könne, | |
ob es eine ernstzunehmende Bedrohung oder nur um eine Eintagsfliege | |
handele. Der normale Gläubige sei ja auch nicht besonders gläubig, sagt | |
Vanessa Boysen. Und er frage sich auch, was denn der Nutzen seines Glaubens | |
sei. Für diesen Pragmatismus hat Sax vollstes Verständnis: Er gehe ja auch | |
nur dann zur Post, wenn er ein Paket abholen wolle, sagt er. | |
Was ihnen aber nicht ins Haus kommt, ist die Esoterik. Sax sagt: “Da ist | |
mir eine halbwegs monotheistische Religion mit solider Lehre und gut | |
ausgebildeten Theologen wirklich lieber.“ Richtig schwierig wird es mit der | |
Spiritualität. Es gebe Leute, die sagen von sich, dass sie Atheisten seien | |
– aber auch spirituell. Damit kann Sax wenig anfangen. | |
## Fotos vom Sternennebel | |
Er hat einen Verdacht: Bei diesen Leuten müsse es spuken. Wobei er der | |
sichtbaren Welt durchaus etwas abgewinnen kann. Auf seinem Smartphone lädt | |
er sich immer wieder neue Fotos von Sternennebeln oder Milchstraßen | |
herunter, die das Weltraumteleskop Hubble aus dem Weltall fischt. „Das | |
Universum ist schon krass“, sagt er, „irgendwie erhaben.“ | |
Doch transzendent sei es nicht. Seiner Frau fehlen solide philosophische | |
Ableitungen und Begründungen zentraler Begriffe wie Demokratie und | |
Menschenwürde: „Die Religiösen haben ihre Geschichten“, sagt sie. „Aber | |
welche Geschichten können wir Humanisten eigentlich erzählen?“ Kant sei nun | |
wirklich keine „catchy Geschichte“. | |
Mit einem letzten Lied geht diese Stunde zu Ende. Wer bleiben will, nimmt | |
noch Kaffee und Kuchen. Manche gehen gleich, andere rauchen vor der Tür | |
eine Zigarette. Man kennt und unterhält sich. „Leute wie wir können es gut | |
aushalten, nicht alles zu wissen“, sagt Vanessa Boysen. Das sei wie ein | |
Glaube, nur andersrum. Ihr Mann wiederspricht: “Wir sind eine Gemeinschaft | |
ohne Flagge.“ Heilige Texte gebe es nicht, ein Dogma oder eine Gottheit | |
ebenfalls nicht. Es handele sich eben um ein Experiment, bei dem man immer | |
noch gespannt sei, wie es ausgeht. | |
9 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
## TAGS | |
Religion | |
Gottesdienst | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |