# taz.de -- Der ganze mediterrane Wahnsinn! | |
> Trotz Dauerstaus, Wucherpreise, brutaler Überfälle – Urlaub an der Côte | |
> d’Azur. Die Riviera, einst Bühne für Kreative, Lebensstildilettanten, | |
> Boheme und Selbstdarsteller, spielt heute nur noch den Azur-Blues. Doch | |
> der Mythos lebt! | |
von EGBERT HÖRMANN | |
„An der Riviera konnte man sich im Sommer mehr herausnehmen“, schrieb der | |
literarische Golden Boy F.Scott Fitzgerald, „und alles, was da passierte, | |
schien etwas mit Kunst zu tun zu haben.“ So 1925 noch „ganz verrückt nach | |
der Riviera“, rief aber bereits 1934 allein schon ihre Erwähnung bei ihm | |
„ein Gefühl von etwas Unwirklichem und Nichtigem hervor“. | |
Kenner hatten uns geraten: „Die Côte d’Azur macht man nur im Juni, im | |
Herbst und im Frühwinter!“ Kritische Stimmen zur französischen | |
Mittelmeerküste gibt es genug: Nostalgisch beklagte sich Françoise Sagan | |
1984 exemplarisch über den Untergang von Saint-Tropez als eine | |
Boulevardtragödie, und Graham Greene warnte 1982: „Vermeiden Sie die Gegend | |
um Nizza – sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im | |
Süden Frankreichs.“ Tatsächlich ist das ganze Departement Alpes-Maritimes | |
ganz offiziell eine Hochkriminalitätszone. | |
Aber uns hatte schon vor langer Zeit, noch vor der Zeit von Bébé Bardot, | |
rettungslos die Literatur, dieses unbestrafte Laster, verführt: Als | |
Frühreife verfielen wir dem amoralischen Fluidum von Sagans „Bonjour | |
Tristesse“, dann Colette mit dem vielleicht schönsten Côte-d’Azur-Roman �… | |
naissance du jour“, dann Jean Giono und Marcel Pagnol sowieso, aber am | |
tiefsten geprägt hatte diese mediterrane Sehnsucht das emblematische, | |
zärtliche Foto von Lartigue, auf dem seine erste Frau Bibi im Restaurant | |
des Eden Roc am Cap d’Antibes sitzt, und alles ist nach den Worten von D. | |
H. Lawrence so frisch, so anmutig, so unschuldig und so jung wie Odysseus | |
am Morgen. | |
Das Häuschen hinter Hyères war ab Ende Juli zu mieten, ein Ebay-Schnäppchen | |
meiner Freundin Olga. Es gibt derzeit natürlich „angesagtere“ Urlaubsziele, | |
aber wie jährlich 35 Millionen Menschen konnten wir dem Sirenengesang der | |
Riviera nicht widerstehen. Luxus, die vage Hoffnung auf eine Erneuerung der | |
Unschuld, Dolce-Vita-Far-Niente, losgelöste Stars, wilde Natur, | |
Kassiaplatanen, immergrüne Eichen, Zypressen, baldachinartige | |
Palmenavenuen, laszive Erotik, „interessante“ Menschen, Hedonismus statt | |
Hegel, der ganze mediterrane Wahnsinn eben! Und zunächst bin ich noch | |
kindlich entzückt, als wir im Airbus in einem weiten Bogen langsam über dem | |
Meer auf Nizza zuschweben. Unvorstellbar die Gemütsbewegung, die die | |
Reisenden des 19. Jahrhunderts ergriffen haben muss, wenn sie nach einer | |
mühseligen winterlichen Kutschfahrt dieser Gestaden und des Meeres | |
ansichtig wurden, dieses doppelten Symbols der Auflösung und der | |
Versöhnung. Den im Schmuddelwetter Zurückgebliebenen berichteten sie | |
verzückt, dass hier die Kühe nicht mit Gras oder Kohl, sondern mit Orangen | |
gefüttert wurden. | |
Neunzehn Tage an der Côte d’Azur – und wir sind anpassungsfähig: Wir trag… | |
längs gestreifte Fischerhemden und Espadrilles und machen eine Pernod-Diät. | |
Olga schlittert in eine späte Romy- Schneider-Phase und tanzt mit den alten | |
Männern unten im Dorf. Und die Uhren gähnen. | |
Mythos Côte d’Azur! Der Ursprung anderer Mythen liegt im Dunkel der Zeiten | |
oder der Verklärung, aber die Riviera kennt ein entscheidendes Datum bei | |
der Bildung ihrer Mythologie, nämlich das Jahr 1887. Der französische | |
Dichter Stephen Liégeard gab einem Buch den Titel „La Côte d’Azur“, | |
ebenfalls Mythen bildend waren das im selben Jahr erschienene „Auf dem | |
Wasser“ von Guy de Maupassant und das „Journal de Marie Bashkirtseff“ ein… | |
in Nizza lebenden russischen Mythomanin. Die höheren Weihen erhielt die | |
Küste durch den ersten von insgesamt sieben Besuchen in zehn Jahren von | |
Queen Victoria in Cannes. Heute zieht der Süden Frankreichs vor allem die | |
Unterprivilegierten Osteuropas und Nordafrikas an. | |
Von Ausländern und Privatiers „erfunden“ und kolonialisiert, war die | |
Riviera über ein Jahrhundert lang die Bühne für TB-Kranke, | |
Lebensstildilettanten, Kreative, Boheme und Selbstdarsteller jeglicher | |
Spielart. Nach den Russen kamen im 19. Jahrhundert die Engländer, um in | |
einem milden winterlichen Klima zu überwintern. Danach folgte die | |
Entdeckung des Lichts. Erika und Klaus Mann schrieben: „… dort unten, wo | |
das Licht härter und heißer, zugleich satter, blühender und trockener ist; | |
italienisch, aber manchmal schon mit einem afrikanisch dürren Einschlag; | |
und dieser Einschlag wiederum französisch gemildert, gleichsam | |
durchzivilisiert, zarter, zärtlicher gemacht.“ Glaubte man im 19. | |
Jahrhundert noch, die Sonne stumpfe die Sensibilität ab, so steigerte sie | |
nun die Sinne. Als Coco Chanel 1923 tief gebräunt wie ein Fischer von der | |
Jacht des Herzogs von Westminster herunterstöckelte, war das Sonnenbaden | |
endgültig „de rigueur“. Der Boom begann dann so richtig nach 1931, als alle | |
Hoteliers der Küste zusammenkamen und vereinbarten, auch den Sommer über | |
geöffnet zu bleiben. | |
Das Dilemma von Hyères ist, dass es nicht am Meer liegt. Also raus hier, | |
wir wollen was erleben, wir fahren nach Monaco! Etwa 200 Kilometer lang ist | |
dieser mehr oder weniger unbequeme Korridor nach Italien, auf der einen | |
Seite vom Mittelmeer, auf der anderen von drei Gebirgszügen eingerahmt. Die | |
Luft zwischen Hyères und Monte Carlo hat einen Alkoholgehalt von circa 15 | |
Prozent und schmeckt nach Minzbonbons und Benzin. Wir fahren vorbei an | |
verheerenden Waldbränden, an riesigen Marinas, Golfplätzen, | |
High-Tech-Unternehmen, Vergnügungsparks, Tankstellenlandschaften, Neon, | |
Werbung und an Apartmentblocks, die jede erdenkliche Geschmackskatastrophe | |
in sich vereinen. Die absolute Krönung dieser neuen Côte d’Azur ist der | |
Industriepark Sophia Antipolis, das Silicone Valley der Küste. | |
Jeder Meter Land ist genau abgezählt, zubetoniert, und stündlich steigen | |
die Grundstückspreise in diesem Ersatz-Florida, das amorph bis nach | |
Süditalien hinein ausufert. Keine andere europäische Region hat sich derart | |
willig der Amerikanisierung hingegeben. | |
Wer Gesellschaft als Peepshow genießen kann, ist hier richtig. St. Tropez, | |
das jeden Sommer von fünf Millionen Menschen heimgesucht wird, ist wie kein | |
anderer Ort an der Küste von seiner eigenen Legende chloroformiert. In | |
Reihen sitzen die Touristen am Hafen und betreiben Celebrity-Watching. Die | |
hübschen jungen Damen und Herren hingegen haben andere Hoffnungen: Wird | |
jemand auftauchen, der sie entführt an einen Ort, wo sie nicht mehr für | |
sich selbst verantwortlich sein müssen? Cannes wiederum hält sich | |
verblendet immer noch für aristokratisch, weil einst gekrönte Häupter hier | |
abstiegen. Nizza, der verkehrsreichste Flughafen Frankreichs nach Charles | |
de Gaulle in Paris, ist verwirrend und irgendwie undurchsichtig. | |
Monaco schließlich ist ein Hochsicherheitstrakt für die „happy few“ mit | |
Atombunker, ein Schmiergeldmekka und El Dorado für Steuerallergiker. Über | |
dieses abgeschmackte Terrain wacht die Clownfamilie Grimaldi, die „Monaco | |
Inc“. Tschechows prophetische Meinung zu Monte Carlo: „Dieser | |
Roulette-Luxus wirkt auf mich wie ein unersättliches Klosett.“ Monaco ist | |
letztlich die Apotheose der ganzen Riviera-Chose, eine Orgie der | |
Vulgarität, in der alles versinkt. | |
Kotz d’Azur! Der Azur-Blues! Dies war noch vor nicht allzu langer Zeit ein | |
zeitloses, archaisches Land von herber Schönheit. Aber es verkommt eben | |
alles. Auch das viel besungene Mittelmeer ist bei genauer Betrachtung eine | |
Kloake. Einst legte es nur poetisch Schiffbrüchige am Ufer ab, heute | |
schwemmt es wahrhaft Unaussprechliches an. | |
Die Franzosen, spottete Jean Cocteau, sind in Wahrheit nichts anderes als | |
schlecht gelaunte Italiener. Kein Wunder, denn etwa die Hälfte der | |
einheimischen Bevölkerung arbeitet hier in der Tourismusindustrie. Und da | |
treffen sie nur zwei Sorten Menschen. Den reichen Pöbel des internationalen | |
Sets und den gemeinen Pöbel, jene Ärmsten, die den Urlaub als Erfolg | |
verbuchen, wenn sie Sylvester Stallone im Hafen von St. Tropez erblicken. | |
Luxus, sagt Juvenal, ist rücksichtsloser als Krieg, aber wenn die Reichen | |
hier mit ihren Jachten und PS-starken Rennbooten protzen, werden sie dafür | |
vom Plebs noch begafft und beklatscht. Die Sonne zieht zwielichtige | |
Charaktere an, in der Tat, aber schließlich ist die Riviera, wie ein | |
Beobachter bereits 1905 notierte, ein Landstrich, „wo ein schlechter Ruf | |
noch niemandem geschadet hat“. | |
Nein, das ist keine zeitlose Gegend mehr. Dennoch: Die Macht der alten | |
Mythen ist immer noch nützlich und ist stärker als jede schnöde Realität. | |
„Fakten, Fakten!“, schreien wir den immer alles Besserwissenden entgegen, | |
„nein, so weit ist es mit uns noch nicht gekommen!“. Das Faszinosum kann | |
zwar erklärt, auch demontiert, aber nicht entzaubert werden. Die Côte | |
d’Azur war einmal ein Fluchtpunkt und ein Ort, an dem man einen Lebenstraum | |
verwirklichen konnte, und als dieser Traum vorbei war, schrieb | |
Riviera-Habitué Gerald Murphy 1935, war „nur der erfundene Teil unseres | |
Lebens – der unwirkliche Teil – sinnvoll und schön gewesen“. | |
14 Jan 2006 | |
## AUTOREN | |
EGBERT HÖRMANN | |
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