# taz.de -- Das Eigenleben der Erzählungen | |
> NARRATION Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke geht der Frage | |
> nach, wie Erzählungen sozialen Zusammenhalt stiften können – gerade weil | |
> sie gar nicht stimmen und nicht widerspruchsfrei sein müssen | |
VON MORITZ BASSLER | |
Mit zwanzig sei er Mathematiker gewesen, mit dreißig habe es noch zum | |
Physiker, mit vierzig zum Philosophen gereicht, er hoffe, er bringe es | |
nicht noch zum Literaturwissenschaftler, bemerkte Bertrand Russell einst | |
kokett. Altersbedingt schwindende Geisteskräfte, so wollte er wohl sagen, | |
erzwingen die Abnahme wissenschaftlicher Exaktheit – was dabei allerdings | |
zunimmt, ließe sich ergänzen, ist Welthaltigkeit. | |
Der Konstanzer Germanist und Leibnizpreisträger Albrecht Koschorke hat mit | |
seinem neuen Buch „Wahrheit und Erfindung“ nun geradezu ein Lob | |
begrifflicher Unbestimmtheit vorgelegt. Unsere kulturelle Sinnsphäre, so | |
die Kernthese, verfügt zwar über begrifflich hell ausgeleuchtete | |
Wissensbezirke – die sind aber jeweils nur wenigen Experten zugänglich. An | |
ihren Rändern werden sie deshalb zum Gegenstand höchst unscharfer | |
Erzählungen, die dieses Fachwissen weniger transformieren als vielmehr | |
filtern und so der Allgemeinheit zugänglich machen. | |
„Das Erzählen ist, wenn man so will, eine demokratische Kunst“, aber eine | |
mit erheblichem Eigenleben: Erzählungen sind nicht einfach wahr oder | |
falsch, sie verfügen über kein immanentes Wahrheitskriterium und tendieren | |
zur Fiktion. Aber dafür verlangen sie unbedingt nach so sinnstiftenden | |
Dingen wie Kausalität und Motivation, sie dynamisieren Zustände und | |
favorisieren dabei die interessante Ausnahme über die langweilige Regel. | |
Sie schreiben Vorgänge bestimmten Agenten, handelnden Subjekten zu, sie | |
stiften und vernichten Bedeutung und vor allem: Sind sie einmal etabliert, | |
beweisen sie eine enorme Beharrungskraft, das heißt, sie lassen sich bei | |
aller Variabilität nur noch mühsam verändern, schon gar nicht durch so | |
profane Zumutungen wie die Faktenlage. | |
Gerade in dieser „ontologischen Unzuverlässigkeit“, so lautet Koschorkes | |
Pointe, liegt jedoch der eigentliche Funktionswert des Erzählens in der | |
sozialen Dimension. Denn erzählt wird an den Rändern der Institutionen, auf | |
den Fluren und vor den Türen, wo Gerüchte kochen und sich Meinungen bilden: | |
in den semiotisch heißen Grenzzonen zwischen Geregeltem und Ungeregeltem. | |
Der Untertitel „Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie“ führt also et… | |
in die Irre. Koschorke legt keinen Beitrag zum nach wie vor lebhaft | |
beforschten Gebiet der Narratologie vor. Was ihn interessiert, ist die | |
soziologische Dimension des Erzählens, die Frage, wie die intrinsischen | |
Eigenschaften von Narrationen – gerade ihre Neigung zur Fiktion, ihr | |
jederzeit lockerbarer Sachbezug – Gesellschaften und insbesondere unsere | |
Mediendemokratie ermöglichen, prägen und zusammenhalten. | |
Sein Buch ist dabei ein Musterbeispiel jener „Theorie nach der Theorie“, | |
wie sie derzeit die Geisteswissenschaften prägt. Das Interesse gilt nicht | |
mehr primär der Definition, Systematik oder Dekonstruktion | |
literaturwissenschaftlicher Begriffe, sondern dem unübersichtlichen, | |
vielschichtigen Kuddelmuddel, in dem trotz aller Unschärfen und | |
Widersprüche immer wieder Kultur entsteht und neu verhandelt wird. Eine | |
solche Kulturpoetik stellt durchaus noch die Fragen von Diskursanalyse, | |
Dekonstruktion und Systemtheorie und bedient sich ihrer Werkzeuge, nur will | |
sie wissen, wie es „mit den konkreten epistemischen Konstellationen ‚vor | |
Ort‘ bestellt ist“, im je historisch gegebenen Fall. „Sinn“ wird als un… | |
bestimmten Bedingungen erzeugter „Effekt und nicht als schlechthinnige | |
Prämisse kultureller Aktivität“ verstanden. | |
Erfolgreiche große Erzählungen zeichnen sich dabei offenbar gerade nicht | |
durch Homogenität und Widerspruchsfreiheit aus, sondern treten im Gegenteil | |
stets als „Bimythie“ auf, begleitet, ja durchwoben von einer zweiten | |
Erzählung, die der ersten sachlich und systematisch widerspricht. Gerade | |
das gewährleistet in der Sozialdimension die nötige Flexibilität und hält | |
eine Kultur vital. Schon im Paradies war der Gottesebenbildlichkeit das | |
Verbot an die Seite gestellt, wie Gott zu sein (die Schlange!). Legalität | |
und Legitimität sind eigentlich so wenig vereinbar wie das Wissen darum, | |
dass unsere Fakten nur über Theorie und Instrumente auf uns kommen, mit der | |
Behauptung, es seien dennoch Fakten. | |
Die Welt, wie wir sie denken, ist also im Grunde „epistemologisch | |
inkonsistent“, und das, schreibt Koschorke allen logischen Puristen und | |
Sprachpositivisten ins Stammbuch, ist auch gut so. Denn gerade die | |
epistemische Lücke ist der Ort der kulturellen Produktivität. Das gilt am | |
Ende sogar für die vermeintlich durchtheoretisierten Zonen unseres Wissens: | |
Noch die theoriegeleitete „Herstellung von Fakten“ in den | |
Naturwissenschaften unterliegt einem solchen produktiven Paradox. Wobei die | |
„Ungewissheit der Fremdreferenz“ in der Moderne „ein Moment ihres komplex… | |
Funktionierens, nicht ihres Versagens darstellt“. | |
Und wie halten wir als gebildete Verstandesmenschen diese Abwesenheit von | |
Widerspruchsfreiheit aus? Nun, „durch variable Mischungsgrade von | |
Irritation und Gewöhnung, halbem Wissen und halbem Beiseiteschieben, oder | |
schlicht durch folgenlose Inkonsequenz“. Touché! Bleiben wir also getrost | |
Literaturwissenschaftler und tun das, was wir am besten können: den | |
konkreten kulturellen Text lesen! | |
Bei alledem ist klar, dass Koschorke selbst schwerlich eine geschlossene | |
allgemeine Theorie vorlegen (wollen) kann, und schon gar keine des | |
Erzählens. Man könnte ja fragen, ob es in der medialen Gegenwart überhaupt | |
noch die alteuropäischen grands récits sind, die die von ihm skizzierte | |
Kulturleistung tragen. Schon die Beispiele, die der Autor selbst | |
heranzieht, haben ja oft eher die Form von Oppositionen und Differenzen | |
(zum Beispiel Legalität vs. Legitimität) als von Erzählungen im engeren | |
Sinne. | |
Insgesamt scheint die Funktion, die dem Narrativ in der abendländischen | |
Tradition zweifellos zukam, längst auf andere Organisationsformen | |
übergegangen zu sein: Das Web 2.0 verknüpft seine Informationen kaum mehr | |
über Erzählungen; Algorithmen, Listen, Netzstrukturen und visuelle | |
Arrangements treten an ihre Stelle. Selbst dort, wo noch eine narrative | |
Grundlage rekonstruierbar ist, kristallisiert sie sich zumeist in | |
Schlagworten, Ikonen, Gedächtnisorten, Assoziationen, Images, in Marken, | |
Maps und Links. Diese Formen werden weiter prozessiert und erinnert; das | |
narrative Skript ist heute nur mehr ein Darstellungsmuster unter vielen | |
anderen. Und auf der anderen Seite scheint Narration in den seriellen | |
Formaten und alternativen Spielwelten unserer Medienpraxis neue Funktionen | |
anzunehmen, die mit den kulturellen Gründungserzählungen, von denen | |
Koschorke ausgeht, kaum noch etwas gemein haben. | |
Die Studie bleibt aber auch dann erhellend, wenn man ihre Einsichten vom | |
Erzählen im engeren Sinne entkoppelt. Überzeugend bleibt die Beschreibung | |
einer Wissens- und Sinnsphäre, die der funktionalen Ausdifferenzierung der | |
Gesellschaft erfolgreich widersteht und just darin ihre kulturpoetische | |
Funktion hat. Der Wirtschaftsethiker Ingo Pies beklagte jüngst, dass sich | |
ökonomisches Fachwissen im Zuge seiner popularisierenden, medialen und | |
politischen Vermittlung gelegentlich geradezu in sein sachliches Gegenteil | |
verkehre – und sprach damit sicherlich manchem Experten auch anderer Fächer | |
aus der Seele. Bei Albrecht Koschorke dagegen lernen wir: Gerade an den | |
Schnittstellen von Fach- und Allgemeinwissen, von Institutionen und | |
Gesellschaft, Offiziellem und Privatem wird unsere Kultur verhandelt – in | |
Alltagssprache, mithilfe von Schemata und Skripten, deren Unschärfe und | |
innere Widersprüchlichkeit nicht zwangsläufig auszumerzende Fehler, sondern | |
möglicherweise durchaus funktional und der Sache angemessen sind. | |
Da ist eine methodische Urteilskraft gefragt, mit deren Hilfe auch das | |
Unscharfe, das Halbgare und nicht Durchrationalisierte lesbar wird. Ein | |
Anfang ist hier gemacht. | |
■ Albrecht Koschorke: „Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen | |
Erzähltheorie“. Fischer, Frankfurt a. M. 2012, 480 Seiten, 24,99 Euro | |
14 May 2013 | |
## AUTOREN | |
MORITZ BASSLER | |
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