# taz.de -- Todesstrafe für ein Leben | |
> „Ehrenmord“-Prozess in Berlin: Hatun Sürücü musste sterben, weil sie | |
> nicht nach den Maßstäben ihrer Familie lebte | |
VON SABINE AM ORDEUND PLUTONIA PLARRE | |
Es war wie eine Hinrichtung. Drei Schüsse in den Kopf, aus nächster Nähe | |
abgefeuert. Eine Kugel traf die rechte Stirn, eine ihren linken Mundwinkel, | |
die dritte das rechte Ohr. Heute vor einem Jahr, am 7. Februar 2005, ist | |
die 23-jährige Deutschkurdin Hatun Sürücü in der Nähe ihrer Wohnung in | |
Berlin-Tempelhof auf offener Straße ermordet worden. Geschossen hat der | |
19-jährige Ayhan, ihr jüngster Bruder. Seit September wird gegen Ayhan und | |
zwei seiner älteren Brüder vor der 18. Strafkammer des Berliner | |
Landgerichts verhandelt. | |
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die drei den Mord gemeinsam | |
begangen haben. Damit wollten sie, so die Anklage, die Familienehre | |
wiederherstellen – die Hatun mit ihrem Lebensstil beschmutzt haben soll | |
(siehe Text rechts). Ob der Prozess aber wirklich mit einem Schuldspruch | |
für alle drei Angeklagten enden wird, ist bislang nicht absehbar. | |
Als Hatun Sürücü starb, wurde im ganzen Land über Integrationsprobleme und | |
Parallelgesellschaften diskutiert. Der Mord an dem niederländischen | |
Regisseur und Islamkritiker Theo van Gogh kurz zuvor hatte nicht nur das | |
Nachbarland aufgerüttelt. Ungewöhnlich viele Bücher und Magazine über | |
Schicksale muslimischer Frauen in Deutschland kamen auf den Markt. Und dann | |
das: Die attraktive, junge Hatun Sürücü, die sich aus der Unterdrückung | |
durch ihre Familie befreit hatte – ermordet von den eigenen Brüdern? Von | |
strenggläubigen Muslimen? Für den Kampf der Kulturen schien ein | |
Paradebeispiel gefunden zu sein, so ähnlich wie dies dieser Tage die | |
Auseinandersetzungen um die islamkritischen Karikaturen aus Dänemark sind. | |
Das öffentliche Interesse am Tod der Mutter eines fünfjährigen Sohnes war | |
riesig. | |
Dass den Mord Angehörige der Familie Sürücü begangen haben könnten, ist f�… | |
die Polizei zuerst nur eine Theorie unter vielen. Doch als fünf Tage nach | |
der Tat eine 18-jährige Zeugin namens Melek A. aussagt, verstärkt sich der | |
Verdacht. Melek ist die damalige Freundin von Ayhan Sürücu. Sie gibt an, | |
drei Brüder Hatuns seien an dem Mord beteiligt gewesen. Der 26-jährige | |
Mutlu soll die Waffe besorgt, der 25-jährige Alpaslan in der Nähe des | |
Tatorts gewartet und Ayhan geschossen haben. | |
Fast alles, was Melek berichtet, weiß sie aus Erzählungen ihres Freundes, | |
also hauptsächlich vom Hörensagen. Aber die Ermittler halten die junge Frau | |
für so glaubwürdig, dass gegen die Brüder Haftbefehl erlassen wird. | |
Ayhan ist ein ernster junger Mann, der stets mit akkurat gestutztem | |
Bärtchen und im schwarzen Hemd vor Gericht erscheint. Am ersten Prozesstag | |
legt er überraschend ein Geständnis ab. Anders als er Melek erzählt habe, | |
habe er den Mord allein begangen, sagt Ayhan. „Niemand hat mir dabei | |
geholfen.“ Das Leben seiner Schwester mit ihren „oft wechselnden“ | |
Männerbeziehungen habe ihn abgestoßen. Mit 19 Jahren kann Ayhan noch mit | |
einer Verurteilung nach dem Jugendstrafrecht rechnen, die Höchststrafe | |
betrüge dann zehn Jahre. | |
Ayhan habe über lange Zeit in dem Gefühl gelebt, wegen Hatun „etwas regeln | |
zu müssen“, wird der psychiatrische Gutachter später im Prozess sagen. Er | |
beschreibt Ayhan als unreifen, leicht beeinflussbaren, streng religiösen | |
jungen Mann. Nachdem die älteren Brüder ausgezogen waren und der Vater | |
häufig in der Türkei weilte, habe der jüngste Sohn die Rolle des | |
Familienoberhaupts übernommen. Ayhan habe sich für etwas Besonderes | |
gehalten – und sich überschätzt. Der Vaterrolle sei er nicht gewachsen | |
gewesen. „Er wollte die Probleme in der Familie alleine lösen“, sagt der | |
Gutachter, „sich durchsetzen und andere dominieren.“ | |
Der junge Mann wisse heute, „dass er Scheiße gebaut hat“, das hat Ayhan dem | |
Psychologen erzählt. Allerdings nicht, weil Hatun ihm leid tue – Ayhan | |
sorgt sich um seine Brüder, „die seit über acht Monaten im Knast sind wegen | |
mir“. Alpaslan und Mutlu, die beiden Älteren, bestreiten bis heute jede | |
Beteiligung an der Tat. | |
Alpaslan, der mit seiner runden Brille und dem lockigem Haar wie ein | |
weltoffener Student wirkt, ist leicht erregbar. Immer wieder während des | |
Prozesses springt er auf, ruft dazwischen, beschimpft die Hauptzeugin | |
lautstark als „Lügnerin“, die Journalisten im Saal als „Arschlöcher“.… | |
selbst stellt er als aufgeschlossenen Muslim dar, der daher gar kein Motiv | |
für den Mord an seiner Schwester habe. Schließlich, das betont sein Anwalt | |
immer wieder, trage seine Ehefrau kein Kopftuch. | |
Mutlu dagegen, der älteste der drei Angeklagten, sitzt meist mit halb | |
geschlossenen Augen im Gerichtssaal und schweigt. Das Wenige, was man von | |
dem Mann mit Vollbart und langen Haaren weiß, ist, dass er das religiöse | |
Oberhaupt der Sürücüs sein soll. Regelmäßig hat er eine Moschee besucht, | |
die zu einer Abspaltung der islamistischen und gewaltbereiten Vereinigung | |
des ehemaligen Kalifen von Köln, Metin Kaplan, gehört. Auch Ayhan soll dort | |
verkehrt haben. Er ist auch auf Aufnahmen von Veranstaltungen der | |
inzwischen verbotenen islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir zu sehen. | |
Die Frage, ob islamistische Gruppen oder deren Ideologie die Tat | |
beeinflusst haben, spielt in dem Prozess bislang aber keine Rolle. | |
Das einzige, das die Anklage eines Brüderkomplotts stützt, ist Meleks | |
Aussage. Dreimal wird die junge Frau, die zum Tatzeitpunkt knapp drei | |
Wochen mit Ayhan zusammen war, als Zeugin gehört. Das Paar hatte sich über | |
Ayhans Schwester kennen gelernt. Durch den Kontakt zu den Sürücüs | |
veränderte sich Melek stark. Aus dem selbstbewussten Mädchen, das seine | |
Haare zeigte und in Discos ging, wurde zum Entsetzen ihrer Mutter eine in | |
sich gekehrte Kopftuchträgerin, die sich hinter islamischen Büchern | |
verkroch. Immer mehr dachte die junge Frau wie ihr religiöser Freund. Ayhan | |
und Melek waren so verliebt, dass sie heiraten wollten. | |
Es war Meleks Mutter, die die Tochter dazu drängte, die Wahrheit zu sagen. | |
Sie hatte gespürt, dass Melek etwas über Hatuns Tod weiß. Für Meleks | |
Aussage zahlen die beiden Frauen bis heute einen hohen Preis: Sie leben an | |
einem geheimen Ort. | |
Dreimal wird Melek, die ihr Haar wieder offen trägt, unter Polizeischutz | |
als Zeugin gehört. Als sie von den Richtern befragt wird, spricht die junge | |
Frau stockend. Aber was sie erzählt, ist eindeutig. Das ändert sich, als | |
sie den Verteidigern Rede und Antwort stehen muss. Sie zieht sich auf | |
Allgemeinplätze zurück, antwortet häufig „Ich weiß nicht“ oder „Ich k… | |
mich nicht erinnern“. Und sie berichtet von Details, die sie zuvor noch nie | |
erwähnt hat. Zum Beispiel, dass Alpaslan einige Tage nach der Tat zu Ayhan | |
in der U-Bahn gesagt habe: „Ich hab dir doch gesagt, schieß ihr in den | |
Kopf.“ Ein Satz von großer Bedeutung, weil er einer der wenigen ist, den | |
Melek selbst gehört haben will. | |
Die Verteidiger setzen auf Ayhan als Einzeltäter – sie versuchen, Melek als | |
unglaubwürdig darzustellen. Die Zeugin habe von den Mordplänen gewusst, | |
aber nichts dagegen unternommen, betonen die Anwälte immer wieder. Um ihr | |
Gewissen zu entlasten, habe Melek sich ein Komplott der Brüder | |
zusammenfantasiert. | |
Manche Prozessbeobachter meinen, dass Meleks Aussage nicht ausreichen wird, | |
um den älteren Brüdern die Tat nachzuweisen. Dass die beiden immer noch in | |
Untersuchungshaft sitzen, lässt aber auch eine andere Deutung zu: Dass die | |
Kammer alle drei Angeklagten verurteilen will. Alpaslans Alibizeugen haben | |
schon bei der Kripo den Eindruck gemacht, als hätten sie sich abgesprochen. | |
Inzwischen wird gegen sie wegen uneidlicher Falschaussage ermittelt. | |
Fragen nach Alpaslans Alibi, der zur Tatzeit zu Hause gewesen sein will, | |
wirft auch eine SMS auf, die Ayhan ihm wenige Minuten nach Hatuns Tod | |
geschickt hat. „Ich bin am Kotti. Wo bist du?“ schreibt der, er meint das | |
Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Die SMS könnte vom Gericht als Indiz im | |
Sinne der Anklage gewertet werden: Dass Alpaslan in der Nähe des Tatorts | |
gewartet hat, nach dem ersten Schuss flüchtete und später von Ayhan gesucht | |
wurde. So hat es Melek A. ausgesagt. | |
Ein Indizienprozess, in dessen Verlauf mitunter das Grausame der Tat in den | |
Hintergrund rückt: dass eine Frau ihre Unabhängigkeit mit dem Leben bezahlt | |
hat, dass ein Sohn seine Mutter verloren hat. Das Urteil wird frühestens | |
Ende März erwartet. | |
7 Feb 2006 | |
## AUTOREN | |
SABINE AM ORDE / PLUTONIA PLARRE | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |