# taz.de -- Kein stiller „Abtrag“ | |
> Zu Besuch bei einer leidenschaftlichen Bestatterin | |
VON GABRIELE GOETTLE | |
Claudia Marschner, Bestatterin in Berlin. Einschulung 1972 in die | |
Carl-Bolle-Grundschule, danach Fontane-Oberschule. 1980 Tod der Mutter. | |
1982 Beendigung der Schule u. Ausbildung zur Bauzeichnerin, Abschluss 1985. | |
Ausbildung zur Bürokauffrau bis 1986. Arbeit als Logistik-Organisatorin bei | |
einer Kosmetikfirma bis 1988. 1988–1989 Immobilien-Maklerin. 1990–1992 | |
Arbeit in einem konventionellen Bestattungsunternehmen. 1992 Eröffnung | |
eines eigenen Bestattungsgeschäftes, Deutschlands erstes „Buntes | |
Bestattungs-Institut“. 2002 Veröffentlichung ihres Buches „Bunte Särge“ | |
(Ullstein Verlag). Claudia Marschner wurde 1966 in Berlin geboren, sie ist | |
ledig und hat keine Kinder, ihr Vater war Rechtsanwalt, die Mutter war | |
Hausfrau und später Verkäuferin. | |
Rund 800.000 Menschen sterben jährlich in Deutschland. Allein in Berlin | |
sind es 35.000 bis 40.000, jeder Zweite davon wird in einem anonymen | |
Urnenbegräbnis beigesetzt. „Stiller Abtrag“ heißt im Bestatterjargon eine | |
Beisetzung ohne Feier. Das sang- und klanglose Verschwindenlassen der Toten | |
ist an der Tagesordnung. Es ist die logische Fortsetzung ihres sozialen | |
Todes, den Alte, Kranke und Überflüssige schon zu Lebzeiten erleiden | |
müssen, also dann, wenn sie noch mitten unter uns sind. Es gibt kein | |
Erbarmen in unserer Hochzivilisation. Der Tod ist sozusagen aus dem Leben | |
geschieden, jeder bewältigt seinen privaten Alltag mit gehöriger | |
Todesverachtung. Verlust und Trauer kann sich niemand leisten, Schmerz und | |
Todesangst sind medikamentierbar. Stirbt ein Angehöriger, so ist die | |
Verwirrung groß und der Schock über die Kosten oft beklemmender als jedes | |
andere Gefühl. Seit 2004 die so genannte Gesundheitsreform das Sterbegeld | |
aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen und aus dem | |
Sozialgesetzbuch gestrichen hat, herrscht eine ablehnende und störrische | |
Haltung gegen Beerdigungskosten vor. Man möchte sein Geld nicht zum Fenster | |
hinauswerfen für einen Toten, die Verzweiflung am Leben verschlingt schon | |
so Unsummen genug. Viele Bestatter kommen dem entgegen, bieten | |
kostengünstig schnelle und diskrete Beseitigung des Problems. Angehörige | |
hingegen, die sich um ihre Toten umfangreich und individuell kümmern | |
möchten, stoßen ernüchternd schnell an die engen Grenzen, die vorgegeben | |
sind durch Hygienevorschriften, konfektionierte Bestattung nach DIN-Norm, | |
nach Zeittakten, nach Friedhofsverordnungen. | |
Deutschland hat innerhalb Europas das rigideste Friedhofs- und | |
Bestattungsrecht, viele der Verordnungen und Vorschriften stammen noch aus | |
der Nazi-Zeit und regeln den Umgang mit dem Leichnam und dem, was alles die | |
Hygiene- oder die Würde des Friedhofs stören könnte. Dass bundesweit die | |
innerstädtischen Friedhöfe – die lange Zeit das wichtigste Memento mori | |
waren – immer mehr verfallen und unwürdig verwahrlosen, wird aus | |
Kostengründen hingenommen. Auf dem Friedhof stagniert ohnehin alles. | |
Hauptsache scheint, dass das Milliardengrab Autobahn ein bequemes und | |
zügiges Vorankommen der mobilen Gesellschaft garantiert. | |
Bei alldem herrscht aber weiterhin das Leitbild bürgerlicher Trauerkultur | |
des 19. Jahrhunderts. Schamhaft lässt sich der geizige Bürger in der Urne | |
entsorgen und weiß insgeheim, dass es eine Schande ist, so weit | |
zurückzufallen – die Arbeiterschaft gründete in der Weimarer Republik aus | |
Not „Arbeiter-Feuerbestattungsvereine“, Feuerbestattung fürs Proletariat | |
war die Folge von Weltkrieg und Massenarbeitslosigkeit. Fürs heutige | |
Repräsentationsbedürfnis des Bürgers hat das Bestattungsgewerbe Besonderes | |
im Angebot, das Pressen der Totenasche zu einem Diamanten, lupenrein | |
gelangt so der teure Gatte an den Ringfinger der Witwe; es gibt die DNS des | |
Verstorbenen im Schmuckkästchen für zu Hause; man kann auf | |
„Internet-Friedhöfen“ virtuelle Locken, Bilder und Geschichten des Toten | |
präsentieren; die Asche lässt sich in den Weltraum schießen oder in der | |
Sahara verstreuen. Alltag sind aber die anonymen Urnen, die unentwegt in | |
die größer werdenden Rasenflächen unserer Friedhöfe gesenkt werden, damit | |
schnell Gras über die Sache wachse. | |
Es müssen neue Rituale gefunden werden, in denen sich die Gesellschaft | |
wieder auf den Tod beziehen und nur so auch neu konstituieren kann. Durch | |
die Erfahrung mit Aids kam in den 80er- und 90er-Jahren eine neue | |
Trauerkultur auf, die sich auch außerhalb der Homosexuellenszene allmählich | |
durchsetzt. Claudia Marschner war die erste Bestatterin in Deutschland, die | |
ein neues Konzept entwickelt und gewagt hat (inzwischen findet sich viel | |
davon in der Angebotspalette der konventionellen Bestatter wieder, fremd | |
und beziehungslos geworden). | |
Ihr Bestattungsinstitut liegt in Kreuzberg, in U-Bahn-Nähe, nicht weit vom | |
Mehringdamm. Hier herrscht noch normales Kiezleben, mit kleinen Kneipen und | |
Geschäften ringsum, in den Höfen spielen Theatergruppen, arbeiten Künstler. | |
Auf den Hauswänden der renovierten alten Mietshäuser ziehen sich die | |
Schriftzeichen der männlichen Jugend hin, nur am Bestattungsgeschäft | |
scheint es einigen die Hand verkrampft zu haben. Tür und Schaufensterrahmen | |
sind weiß. Der Blick ins Innere ist erwünscht und unverhüllt. Zu sehen sind | |
drei Särge, einer davon ist bunt bemalt. Als wir eintreten erhebt sich ein | |
kleiner schwarzer Hund, dehnt und streckt sich in der warmen | |
Nachmittagssonne und betrachtet uns mit freundlicher Zurückhaltung. Die | |
Herrin telefoniert nebenan, und wir sehen uns um im Ausstellungsraum. Die | |
linke Seite des Raums ist bemalt, zeigt eine Landschaft der Erinnerung. | |
Durch helles Himmelblau mit Kumuluswolken schweben kleine Szenerien: ein | |
sich umarmendes Paar von hinten ist zu sehen, eine Buddhafigur, ein Mensch | |
liegt in einer Hängematte, eine Frau springt mit ihrem Hund davon, ein | |
Stück Meer und Palmenstrand lugen hervor, und drüber hinweg fährt ein Mann | |
auf einem Surfbrett dahin. | |
Direkt am Schaufenster steht der bunte Sarg. Er hat eine konventionelle | |
Form und wurde von Kindern in kräftigen Farben bemalt. Zu erkennen ist ein | |
blaues Gespenst auf grünem Untergrund, ein rotes Herz mit gekreuzten | |
Knochen, Fische, Vögel, Blumen, und etwas, das wie ein Totenkopf aussieht. | |
Auf dem Sargdeckel steht zwischen kleinen mexikanischen Totenköpfen aus | |
Zuckerguss eine stählerne klassische Urne, gekrönt von dem Wort „Karma“ in | |
blauer Neonleuchtschrift. Die Mitte des Raumes nimmt ein feierlich schöner | |
Sarg ein, er hat einen flachen Deckel und abgerundete Ecken, es ist ein | |
spanischer Sarg mit langer Messinggriffstange an jeder Seite. Sein Holz ist | |
matt poliert und schimmert goldfarben. Auf dem Deckel steht eine Urne mit | |
dem Aussehen einer angeschnittenen Wassermelone, eine weitere Urne ruht auf | |
dem Kopfteil des Sarges, eingehüllt in ein aufgeplustertes rotes | |
Plüschherz. Auf dem dritten Sarg, der ganz dunkelbraun und konventionell | |
ist, stehen mehrere, teils bemalte Urnen und auch runde Urnen. Hier, und | |
auch nebenan im Beratungszimmer, ist alles hell und lichtdurchflutet, es | |
gibt keine Kreuze, keine betenden Hände, keine Palmwedel, keine | |
08/15-Abfertigung. | |
Wir nehmen an einem schlichten Tisch aus hellem Holz Platz, betrachten das | |
Skelett, das mit gezückter Lanze auf einem Pferdeskelett galoppiert, zu | |
Füßen hat es ein naiv gemachtes Pappmaschee-Skelett sitzen. „Das ist eine | |
Leihgabe“, erklärt Frau Marschner, „die stammt noch von einem mexikanischen | |
Totenfest.“ Sie zündet sich eine Gauloises an, schiebt das Körbchen mit den | |
Tempotaschentuchpäckchchen für die Tränen der Trauernden etwas zur Seite | |
und erzählt, während der kleine Hund sich auf dem Parkettboden wohlig | |
ausstreckt. | |
Auf die Frage, ob sie Angst hat vor dem Tod, sagt sie: „Ja natürlich, klar | |
habe ich Angst vor dem Tod, vor diesem Moment, irgendwann, wo es dann – | |
zsss … und das war der letzte Atemzug. Jetzt bin ich 39. Früher war ich | |
gern auch ein Enfant terrible. Ich habe ja mit 26 hier begonnen, und damals | |
war ich so weit, wie man in dem Alter ist. Mittlerweile bin ich da | |
reingewachsen und sehe das sehr klar, wie schlimm das ist, dass die | |
Gesellschaft nichts über den Tod weiß und auch nichts wissen will. Auch die | |
Kinder werden ja nicht informiert. Es ist ein ganz großes Versäumnis! Es | |
kann jeden jederzeit treffen. Dass der Tod erst im Alter irgendwann kommt, | |
ist eine der großen Lebenslügen. Es sterben Kinder, es sterben Leute in | |
meinem Alter, Brustkrebs ist ein großes Thema, Jugendliche nehmen sich das | |
Leben, geliebte Partner haben Aids oder einen Unfall usw. Ich höre oft, der | |
oder die sei vollkommen überfordert. Als meine Freundin an Krebs erkrankte, | |
sind fünfzig Prozent der Freunde weggeblieben. Sie waren so überfordert, | |
sie wissen gar nicht, wie sie jemand begegnen sollen, dem die Haare | |
ausfallen, der so schlecht drauf ist. Also diese Leute fühlen sich nicht | |
überfordert, sie fühlen sich gefordert. Da weichen sie aus, dazu sind sie | |
zu faul. Bestenfalls sind sie auch noch ängstlich. | |
Aber wir sind dazu in der Lage, den Freund oder die Freundin, die Mutter, | |
bei der Krankheit und ins Sterben zu begleiten. Menschen können so was! | |
Aber wir sind eine blöde, bequeme, versicherte Gesellschaft, die sich nicht | |
mit dem Tod beschäftigen will. Aber der Tod beschäftigt sich natürlich mit | |
uns. Er ist ja eines der wichtigsten Naturereignisse, auch eigentlich ein | |
Naturspektakel, dramatisch, der geschwisterliche Teil der Geburt. Es gibt | |
keinen Grund, ihn zu verschweigen, und es hat auch gar keinen Sinn. | |
Jetzt, wo ich langsam älter werde, sehe ich das Ausmaß der Ignoranz, und | |
ich dachte, ich muss vielleicht anfangen, meiner Nachgeneration was zu | |
erzählen, die 15-, 16-, 17-Jährigen aufklären. Also habe ich beschlossen, | |
in die Schulen zu gehen. Ob ich Angst habe oder nicht, ist da zweitrangig, | |
es ist meine Pflicht. Ich habe dann eine Aktion gestartet, im Rahmen von | |
Religions- und Ethikunterricht. Und es ging besser als erwartet. Auf die | |
Frage, wer schon mal einen Sterbefall in seiner näheren Umgebung hatte, hat | |
fast die Hälfte der Klasse den Arm gehoben. So heil ist also die Welt auch | |
hier schon gar nicht mehr. Und in den seltensten Fällen wird in den | |
Familien darüber geredet mit den Kindern, es gibt keine Aufklärung, im | |
Gegenteil, es wird alles verschwiegen. Ich weiß das sehr gut aus meiner | |
eigenen Familie. Als meine Mutter eben sehr früh starb, da haben meine | |
Schwester und ich einem schwarzen Wagen hinterhergeguckt. Keiner hat | |
gesagt, wohin meine Mutter kommt, warum, wieso. Es sind nur Andeutungen | |
gefallen. Meine Mutter kam in die Gerichtsmedizin, sie war ja ein | |
Suizidfall. Dann kommt immer die Polizei und die Gerichtsmedizin. Und ich | |
habe natürlich überlegt, was geschieht dort, wer hat sie ausgezogen, wer | |
untersucht, waren das nette Menschen oder waren das Fleischer, haben sie | |
Witzchen gemacht. Ich hatte ja keine Bilder. Das waren für mich | |
schreckliche Gedanken. Das fand ich viel schlimmer eigentlich noch. Nicht, | |
dass sie tot war, weil ich wusste, irgendwie hat sie es jetzt auch gut, das | |
spürt man einfach so ein bisschen, als christlich verwurzelter Mensch. Ich | |
hätte gerne gewusst, weshalb sie sich das Leben genommen hat, aber meine | |
Oma hat es abgelehnt, darüber zu reden, sie sagte nur, das bringt nichts, | |
es würde nichts ändern, wir müssen jetzt nach vorne schauen. | |
Ich war immer diejenige, die nach hinten geschaut hat. Schweigen und | |
ignorieren, das ist für mich das Schlimmste. Und ich sehe, dass die Kinder | |
darüber reden wollen. Erst mal sind sie cool, die sehen Sendungen wie | |
„Autopsie“, da werden Kinder exhumiert, die sehen Internetseiten, wo man | |
zerstückelte Leichen betrachten kann. Die haben schon einiges gesehen, aber | |
eben nicht wirklich, keinerlei Erfahrung damit gemacht. Einer sagte, gut, | |
wir haben jetzt viel vom Tod geredet, die Särge gesehen, haben Sie auch ein | |
Foto von einem wirklichen Toten? Ich erkläre, dass ich, selbst wenn ich | |
eins hätte, es nicht zeigen würde. Hättest du selbst es denn gern, wenn man | |
das Foto deiner toten Mutter hier der ganzen Klasse herzeigt? Dann merken | |
sie, oh, das ist jetzt nicht das Fernsehen, da gibt es was, das noch heilig | |
ist. Das finde ich wichtig. Ich sage immer: Versucht mal, in der Ich-Form | |
zu reden. Dann fällt es natürlich schon viel schwerer. | |
Bei den Erwachsenen ist das nicht so leicht. Die Leute wollen zwar nicht | |
alt werden, aber alt sterben. Und bei Paaren höre ich oft: Ich aber zuerst, | |
sonst muss ich zu sehr leiden, ich möchte nicht übrig bleiben. Also das ist | |
die faule Gesellschaft. Ist so! Ich erlebe es auch immer wieder, dass Leute | |
sagen, also ich hab mit deinem Beruf kein Problem. Aber sie besuchen mich | |
nie im Geschäft und stellen auch nie eine Frage. Es hat ja System, auch | |
gesellschaftspolitisch, dass diese Fragen nicht im Bewusstsein verankert | |
werden. Es könnte ja auch ganz anders sein, die Berührung mit dem | |
verstorbenen Opa oder der Oma könnte eine Selbstverständlichkeit sein für | |
die Kinder oder dass gesagt wird zu den Nachbarn, kommt mal rüber, wir | |
nehmen Abschied und trinken zusammen einen Wein. Die Kinder würden | |
begreifen, der Tod ist gar nicht das Bedrohliche, Schreckliche, er ist ganz | |
natürlich. Also wenn Menschen mit so einem Bewusstsein aufwachsen und | |
durchs Leben gehen, dann würde doch keiner 60 Stunden in der Woche bei | |
Siemens Platinen löten! Jeder würde Prioritäten setzen und sich überlegen, | |
wie er sein Leben gestaltet. | |
Missverstehen Sie mich nicht, es geht nicht darum, mehr „rauszuholen“. Das | |
ist ja nur pseudo und letzten Endes selbstzerstörerisch. Es geht um die | |
große Lehre vom Tod, vielleicht das Leben kennen zu lernen, die Welt. Aber | |
stattdessen hängt man in so einem Gefängnis von Geld und scheinbarer | |
Freiheit. Und das ist diese große Leere, die viele auch fühlen, eben auch | |
so eine spirituelle Leere. Die Kirche hat versagt. Die Pfarrer gehen nicht | |
mehr raus, treiben nicht mehr richtig Seelsorge, und die Bestatter haben es | |
versäumt, Kulturarbeit zu leisten. Traditionen zu pflegen. Alle wollen nur | |
irgendwie am Markt bestehen. Sämtliche Bestatter werben über den Preis, | |
nicht über das Angebot – auf Berlin jetzt mal bezogen. | |
Im Grund habe ich das Gefühl, dass ich als Bestatterin eine alte Tradition | |
erhalte und auch transformiere ins 21. Jahrhundert, letzten Endes. Meine | |
bunten Särge sind ja nicht als Gag gedacht, wie manche vielleicht denken. | |
Sie bedeuten nicht, dass ich locker mit dem Tod umgehe. Sie sollen den Tod | |
und die Trauer ja nicht schmälern, sondern sie sollen sie ermöglichen. Und | |
wer sagt, also das sind für mich keine Särge, der muss aber wirklich mal in | |
die Kulturgeschichte gucken. Die klassische Sargfarbe zum Beispiel im | |
Hochmittelalter war dunkelblau. Es gab pompöse Särge, die in der Kapelle | |
standen, und über der Gruft ging unten der Sargboden auf und der Leichnam | |
flog polternd in die Tiefe. Es gab vieles. Und auch heute sind ja die | |
meisten Särge nicht schwarz, sondern es ist ja eine einzige braune Soße. | |
Das beispielsweise ändere ich, aber bei mir bleibt ein Sarg ein Sarg. Und | |
ich verkaufe ja nicht nur Särge, ich verkaufe im Grunde genommen auch eine | |
Vermutung, eine Illusion, wenn Sie so wollen, aber eine legitime Illusion | |
oder eine Hoffnung. Mehr haben wir ja nicht. Wir haben ja nicht, wie die | |
Mexikaner, ein traditionelles buntes Totenfest. Wir haben einen flauen | |
Totensonntag, und unsere Friedhöfe sind keine Begegnungsstätten mehr, | |
sondern sie veröden. Es gibt auch keine Familiengräber mehr. Das ist ein | |
Spiegel der Gesellschaft. | |
Deshalb habe ich mich auch gefreut, muss ich sagen, dass die Friedhöfe 2005 | |
– weil sie erkannt haben, hoppla, wir müssen unsere Gräberkultur erhalten �… | |
beschlossen haben, die Gräber günstiger zu machen und die anonymen Wiesen | |
teurer. Und wenn jetzt die Angehörigen vor mir sitzen und sagen, also Oma | |
wollte immer eine anonyme Bestattung, das hat mit dem Geld nichts zu tun. | |
Dann sage ich ganz ruhig: Na, ist gar kein Thema, ich muss sie nur darüber | |
aufklären, es wird 200 bis 300 Euro teurer. Und siehe da, die meisten | |
rücken sehr schnell von der anonymen Bestattung ab und nehmen dann doch | |
lieber ein Grab. Es wird sich zeigen, dass es nicht Ideologie war, sondern | |
eine reine Geldfrage. | |
Wenn es um diesen Kulturverfall geht, da bin ich konventioneller, als viele | |
vielleicht denken. Ich wurde gefragt, was haben Sie denn gegen Pappsärge? | |
Haben wir heute Pappsärge, dann haben wir morgen Papptüten, oder wir haben | |
die Verstorbenen mit Muskulatur, mit Haut, in irgendwelchen | |
Wanderausstellungen … oder irgendwann sogar für zu Hause. Ich habe das | |
nicht angeschaut, aber ich kenne viele, die in den „Körperwelten“ – dies… | |
Leichenausstellung, oder wie man das nennen soll – gewesen sind. Sie haben | |
das bestaunt, denn es sind ja echte Menschen. Aber sie haben deshalb doch | |
nicht den Körper besser verstanden – und schon gar nicht den Tod! | |
Dass das der Körper sein soll, das ist eben das Missverständnis. Um die | |
Leiche, den Tod, wirklich etwas zu verstehen, ist es wichtig, dass Sie am | |
„Kadaver“, sag ich mal, wirklich sitzen. Ihn auch anfassen und begreifen, | |
das ist der Körper, den wir natürlich auch geliebt haben, an Händen, an | |
Nase, an Augen, Kopf und Ohren. Nun ist er tot und auf unsere Hilfe | |
angewiesen, für die neue Etappe, die beginnt, wenn der „Geist“, sagen die | |
Spirituellen, oder die „Seele“, sagen die Gläubigen, dann aus dem Körper | |
geht. Und dazu gehört ja auch eine liebevolle Bestattung. Aber dazu gehört | |
auch, wenn es möglich ist, die Teilnahme am Sterben. Also nehmen wir an, | |
die Freundin, der Mann, das Kind ist im Krankenhaus, es gibt eine | |
Todesdiagnose. Man kann nichts mehr für sie tun. Dann kann ich sagen, gut, | |
es macht Umstände, es wird schrecklich sein, aber ich nehme mir die Zeit | |
und hole sie nach Hause zum Sterben, in ihre vertraute Umgebung. Technisch | |
ist das kein Problem, es gibt Homecare-Ärzte, Pflegehilfen, Infusionen und | |
Schmerzmittel. Viele sagen, sie haben Angst davor, dass sie nicht erkennen, | |
wenn der Tod eingetreten ist. Aber so ist das nicht, man spürt es. Die | |
Menschen müssen einfach wieder vertraut gemacht werden mit ihren eigenen | |
Instinkten, mit ihrer Intuition, mit ihren Stärken. Diese Eigenschaften und | |
dieses Wissen, das jeder in sich trägt, ermöglicht auch, genau zu sehen, | |
das ist jetzt ohnmächtig, oder das ist tot. Das spürt man genau, darauf | |
kann man sich verlassen. Sie brauchen keinen Arzt dazu. Der Arzt muss | |
natürlich trotzdem geholt werden, um den Leichenschauschein auszustellen, | |
mit dem dann der ganze bürokratische und organisatorische Teil bei den | |
Ämtern eingeleitet wird. Im Prinzip kann jeder auch die Behördengänge | |
selbst erledigen, aber in der Regel übernehmen das die Bestatter. | |
Und dann haben sie drei Tage Zeit zum Abschiednehmen zu Hause. Sie können | |
in aller Ruhe und ungestört die Waschungen vornehmen, auch die Haare noch | |
mal waschen, sie können sagen, ich schneide noch mal die Fingernägel und | |
die Fußnägel, und ich ziehe ihm vielleicht seine Lieblingssachen an. Aber | |
das nehmen die wenigsten Leute in Anspruch. Meist werden die Bestatter | |
sofort geholt und die bringen den Toten weg. Und wenn ihr Angehöriger im | |
Krankenhaus stirbt oder die Leiche wegen Unfall, Suizid und Ähnlichem | |
beschlagnahmt wurde, dann bekommen sie den wegen der Vorschriften ohnehin | |
nicht mehr nach Hause. Sie haben aber die Möglichkeit, den Toten noch mal | |
zu sehen und Abschied zu nehmen, in unseren Räumen, die liegen etwas | |
außerhalb von Berlin, wegen der Vorschriften. Wir lassen uns eigentlich | |
unsere Toten viel zu leicht wegnehmen, leider. Wir lassen uns doch sonst | |
nichts im Leben wegnehmen, nicht den Autoschlüssel und nicht den | |
Geldbeutel, nicht die Handtasche. Aber unsere Toten … generell den Tod. | |
Viele sagen auch, sie haben es nicht geschafft, sie haben Angst, auch vor | |
den Gerüchen. Am zweiten Tag können die Gerüche schon mal leicht unangenehm | |
werden für unsere unerfahrenen Nasen. Das hat natürlich auch viel mit der | |
Medikamentierung zu tun. Es ist schwierig, zum Beispiel bei Krebspatienten, | |
das muss ich den Hinterbliebenen sagen. Die haben Chemobomben hinter sich, | |
die Leichenflecken kommen schneller, wenn der Bakterienhaushalt explodiert, | |
die Flüssigkeiten treten einfach aus, weil die Zellen zerstört sind. Da | |
muss man viel Flüssigkeit dämmen und wattieren, das nimmt schon dramatische | |
Züge an, manchmal. Dann rufe ich eben schon nach einem Tag den Bestatter. | |
Aber in der Regel verläuft das ganz normal, früher wusste man eben, man | |
schließt dem toten die Augen, das Kinn wird hochgebunden, damit der Mund | |
geschlossen bleibt, Gläubige haben die Hände gefaltet zum Schluss. Heute | |
erfahren die Angehörigen alles von mir, was nötig ist. Manchmal werde ich | |
gefragt, ob ich die Toten auch schminke für den Abschied. Also ich hab’s | |
mal probiert, noch mal die Lippen ein bisschen und so, und da dachte ich, | |
NEIN! Das sieht gemein aus, das geht ins Puppige, ins Groteske. Der Tod | |
setzt sich einfach durch, zielstrebig, da lässt sich nichts parfümieren, | |
nichts schminken, also, lass es sein. | |
Im Prinzip kann jeder seinem Verstorbenen die letzten Dienste und Ehrungen | |
selbst erweisen, bis auf Sarg und Überführung. Aus der Sargtischlerei und | |
den Fuhrbetrieben ist der Bestatterberuf ja mal hervorgegangen. Bei uns | |
darf keiner privat einen Leichnam transportieren, das darf nur in den dafür | |
speziell präparierten und zugelassenen Leichenfahrzeugen der Bestatter | |
gemacht werden. Für die Farbe besteht keine Vorschrift. Bei mir gibt es ein | |
silbergrauen, ein dunkelblaues und ein schwarzes. Meine Fahrer haben | |
übrigens dunkelblaue Anzüge an. Also, wenn ich jetzt hier Kunden begrüße in | |
weißer Bluse und Jeans, dann gibt es da kaum Irritationen, ich begrüße ja | |
die Lebenden. Aber meine Fahrer, die fahren ja die Verstorbenen. Und ich | |
würde das auch nicht schätzen, wenn einer im Karohemd und mit Jeansjacke | |
käme und sagt: Begrüße Sie, Firma Marschner! Ich bereite meine Fahrer | |
natürlich auch darauf vor, wie sie mit Emotionen umgehen. Eine ältere Frau | |
hat mal meinem Lieblingsfahrer ein blaues Auge gehauen. Sie war außer sich, | |
weil’s im Moment des „Wegnehmens“ war, ihr Mann wurde rausgetragen. Und da | |
ist dann der Fahrer stehen geblieben wie ein Baum! Auf meine Leute muss ich | |
mich voll verlassen können. | |
Ich selbst beschäftige mich ja vorwiegend mit den Lebenden hier, und da ist | |
mein eigentliches Thema der Abschied. Während der Leichnam im Kühlraum | |
liegt, können zum Beispiel Eltern, Freunde, Kinder hier im Laden gemeinsam | |
den Sarg für den verstorbenen Menschen bemalen, wenn sie wollen, als | |
letztes Geschenk, und sich dabei unterhalten, weinen, lachen, die | |
Lieblingsmusik der Toten hören, Kaffee trinken, rauchen. Hier herrscht | |
keine verlogene Pietät, ich täusche nichts vor mit Leichenbittermine, ich | |
helfe den Kunden dabei – denn hier begegnen sich ja Kaufmann und Kunde –, | |
dass er sich nicht alles aus den Händen nehmen lässt. Dass sie den Toten, | |
und den Tod als solchen, in ihr Leben mit einbeziehen können, trauern | |
können. Bei mir ist jede Beerdigung ganz individuell, und ich reiße eben | |
nicht, wie üblich, die gesamte Organisation an mich. Im Gegenteil, ich | |
ermuntere den Angehörigen, die Trauerrede selbst zu halten, das Musizieren, | |
die Blumen und so weiter, das alles, da lass ich total los. Wer’s aber | |
möchte, für den organisiere ich natürlich die gesamte Gestaltung, das mache | |
ich in vielen Fällen auch. | |
Deshalb fällt eben immer wieder das Wort „Event-Managerin“. Ich habe ja mal | |
zwei Jahre bei einem ganz konventionellen, dunklen Bestatter gesessen, | |
alles ging nach Schema F. Das war wichtig und heilsam für mich. Ich wollte | |
es anders machen, und das Konzept ist aufgegangen. Meine Kunden sind meist | |
aus dem Mittelstand, im Prinzip kommen alle Altersklassen vor, vom Greis | |
bis zum Kind, vom Sozialbegräbnis bis zum Akademiker. Die Leute brauchen | |
einfach adäquate Trauerzeremonien, und dafür sorge ich, dass sie die | |
bekommen.“ | |
Sie steht auf, um in der kleinen Büroküche nebenan noch einen Kaffee zu | |
machen. Der Hund blinzelt uns verschlafen an. Er weiß anscheinend, dass wir | |
nicht Leid tragend sind. Es dämmert bereits. Nebenan sind die Leuchtzeichen | |
der Urnen angegangen, die verblendeten Wandlampen tauchen die Räume in ein | |
zartes, warmes Licht. Frau Marschner, die das alles geschaffen hat, und | |
dabei selbst einen überraschend harten Eindruck macht, reicht uns schwarzen | |
Kaffee, zündet sich eine Zigarette an und ist bereit, noch etwas von sich | |
zu erzählen. Aus ihrem sehr offenen und persönlichen Buch weiß ich, dass | |
sie sozusagen in Drachenblut gebadet wurde – und dass sie einen | |
eintätowierten Drachen auf dem Rücken hat. | |
„Also ich musste meine eigene Geschichte erzählen, weil sie ja viel zu tun | |
hat mit diesem Bestattungsinstitut. Es war sozusagen das Erbe meiner | |
Mutter, dass ich mich an dieses Thema rantraute. Ich habe es ja vorhin | |
schon erwähnt, dass sie sich umgebracht hat. Für mich war es einfach so, | |
dass ich auf dem Heimweg von der Schule vom Tod meiner Mutter erfuhr, | |
mitten auf der Turmstraße. Eine Nachbarin war geradezu erfreut, mir als | |
Erste diese Nachricht zu überbringen. Ich konnte das natürlich gar nicht | |
glauben. In meinem Zimmer hing ein Stück rote Wäscheleine an der Leiter zu | |
meinem Hochbett. Meine Mutter war einfach in mein Zimmer gegangen und hatte | |
sich an dieser Leiter erhängt. Es war nur ein einfacher Knoten in der | |
Wäscheleine, das Ersticken muss lang gedauert haben. Sie hat eine einzige | |
Zeile hinterlassen: Ich kann nicht mehr. Und meine Oma hat dann einen ganz | |
großen Fehler gemacht. Sie entschied sich für eine Feuerbestattung, es gab | |
eine abscheuliche Urne aus gehämmertem Kupfer, die kam neben Opas Grab. | |
Fertig. Nichts davon hatte mit meiner Mutter was zu tun, aber alle haben | |
gesagt, es war ein würdiger Abschied. Die Wohnung wurde schnell aufgelöst, | |
meine Schwester und ich, wir lebten ja bereits vorher, bis auf die letzten | |
zwei Jahre, meistenteils bei meiner Oma, die im gleichen Haus wohnte. | |
Die Erwachsenen versuchten unsere Trauer im Keim zu ersticken. Es gab | |
keinen Trost, keine Gespräche, nichts. Ich musste nicht nur den Tod meiner | |
Mutter ignorieren, auch ihr Leben, die ganze Person. Ich hätte gern | |
gewusst, was mit ihr war. Alle sagten früher immer, Mann, du hast so eine | |
tolle Mutter, sie ist witzig, sie lacht, sie hat schöne Zähne … Das war | |
alles nur Wahnsinnsfassade. Meine Mutter ist für mich eine Frau, die nicht | |
greifbar ist. Sie war zu sehr mit sich beschäftigt. Ich hab sie wild | |
erlebt, manchmal auch chaotisch, aber keiner hat mal gesagt, also ich hab | |
sie auch soundso gekannt. Ich hörte höchstens, deine gute Mutter … das | |
ganze Heuchelprogramm, mit dem man die Toten gutspricht. Ich durfte ja zum | |
Beispiel auf keinen Fall sagen, dass ich meine Mutter sehr anstrengend, | |
sehr nervig fand, dass es Momente gab, wo ich dachte, ich bin froh, dass | |
sie tot ist. Das ist normal, Kinder denken so. Aber die Toten sind sofort | |
heilig. Man muss das Lügen mitmachen. Aber nach dem Tod meiner Mutter fing | |
im Grund mein Leben wieder an, mir Spaß zu machen. | |
Es war auch eine Befreiung. Meine Mutter ist ein klassischer 68er-Fall. Sie | |
ist irgendwie völlig dran vorbeimarschiert, an der Selbstbefreiung. Mein | |
Vater ist ganz schnell wieder verschwunden. Beide waren so 22, mit 24 ist | |
er gegangen. Es funktionierte nicht, beide wollten nicht in so ein | |
Eheprogramm reingepresst werden, und das in den 60ern. Meine Mutter hatte | |
oft ganz schlimme, verzweifelte Phasen, mit schweren Depressionen. Dann war | |
sie wieder wie ein Orkan. Ich fand das als Kind sehr schwer. Es hat mich | |
aber sehr sensibilisiert dafür, in Augen zu lesen, Stimmungen zu wittern. | |
Das kommt mir heute zugute. Meine Oma dagegen, bei der meine Schwester und | |
ich eigentlich aufwuchsen, die war für mich wie ein Leuchtturm, hat für | |
Ordnung und Regelmäßigkeit gesorgt, nach der Schule war das Essen auf dem | |
Tisch. Das hat mich angeödet damals, aber heute sind das die Sachen, die | |
mir echt Halt geben. Und im Vergleich zu meiner Mutter war meine Oma – | |
Jahrgang 1905 – eine total emanzipierte und fortschrittliche Frau, die | |
alles geregelt hat. Für sich selbst hatte sie übrigens auch eine Vorsorge | |
getroffen, Feuerbestattung, ab ins Grab zu Opa. So war’s geplant. Aber zwei | |
Jahre vor ihrem Tod, sie wurde 92, sagte sie, du hast ja jetzt dein eigenes | |
Beerdigungsinstitut, Mensch Claudia, schick mich mal nicht durchs Feuer. | |
Ich glaub, ich will doch lieber eine Erdbestattung. Da dachte ich, Oma, du | |
hast die schreckliche Beerdigung meiner Mutter damit ein bisschen wieder | |
gutgemacht. Und so war es dann auch. Meine Schwester und ich konnten am | |
Sarg meiner Oma auch unsere Mutter betrauern und um sie weinen. Noch eine | |
Urne hätte ich nur schwer ertragen. | |
Nun konnte ich auch wieder auf den Friedhof. Siebzehn Jahre habe ich den | |
Friedhof, auf dem meine Mutter lag, nicht betreten. Wegen der schrecklichen | |
Beerdigung. Ich mag Friedhöfe. Ich hab das auch gemerkt bei der Umbettung | |
der Urne von meiner Mutter, dass ich Friedhöfe sehr sympathisch finde. Es | |
ist für uns alle wichtig, dass es sie gibt. Also dass es Orte für die Toten | |
gibt, wo auch die sind, die ich nicht kenne, wo ich mich besinnen kann, | |
spazieren gehen kann, ein Datum lese, wo es viele Gräber gibt und | |
Geschichten. Das ist wichtig.“ | |
27 Mar 2006 | |
## AUTOREN | |
GABRIELE GOETTLE | |
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