Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kein stiller „Abtrag“
> Zu Besuch bei einer leidenschaftlichen Bestatterin
VON GABRIELE GOETTLE
Claudia Marschner, Bestatterin in Berlin. Einschulung 1972 in die
Carl-Bolle-Grundschule, danach Fontane-Oberschule. 1980 Tod der Mutter.
1982 Beendigung der Schule u. Ausbildung zur Bauzeichnerin, Abschluss 1985.
Ausbildung zur Bürokauffrau bis 1986. Arbeit als Logistik-Organisatorin bei
einer Kosmetikfirma bis 1988. 1988–1989 Immobilien-Maklerin. 1990–1992
Arbeit in einem konventionellen Bestattungsunternehmen. 1992 Eröffnung
eines eigenen Bestattungsgeschäftes, Deutschlands erstes „Buntes
Bestattungs-Institut“. 2002 Veröffentlichung ihres Buches „Bunte Särge“
(Ullstein Verlag). Claudia Marschner wurde 1966 in Berlin geboren, sie ist
ledig und hat keine Kinder, ihr Vater war Rechtsanwalt, die Mutter war
Hausfrau und später Verkäuferin.
Rund 800.000 Menschen sterben jährlich in Deutschland. Allein in Berlin
sind es 35.000 bis 40.000, jeder Zweite davon wird in einem anonymen
Urnenbegräbnis beigesetzt. „Stiller Abtrag“ heißt im Bestatterjargon eine
Beisetzung ohne Feier. Das sang- und klanglose Verschwindenlassen der Toten
ist an der Tagesordnung. Es ist die logische Fortsetzung ihres sozialen
Todes, den Alte, Kranke und Überflüssige schon zu Lebzeiten erleiden
müssen, also dann, wenn sie noch mitten unter uns sind. Es gibt kein
Erbarmen in unserer Hochzivilisation. Der Tod ist sozusagen aus dem Leben
geschieden, jeder bewältigt seinen privaten Alltag mit gehöriger
Todesverachtung. Verlust und Trauer kann sich niemand leisten, Schmerz und
Todesangst sind medikamentierbar. Stirbt ein Angehöriger, so ist die
Verwirrung groß und der Schock über die Kosten oft beklemmender als jedes
andere Gefühl. Seit 2004 die so genannte Gesundheitsreform das Sterbegeld
aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen und aus dem
Sozialgesetzbuch gestrichen hat, herrscht eine ablehnende und störrische
Haltung gegen Beerdigungskosten vor. Man möchte sein Geld nicht zum Fenster
hinauswerfen für einen Toten, die Verzweiflung am Leben verschlingt schon
so Unsummen genug. Viele Bestatter kommen dem entgegen, bieten
kostengünstig schnelle und diskrete Beseitigung des Problems. Angehörige
hingegen, die sich um ihre Toten umfangreich und individuell kümmern
möchten, stoßen ernüchternd schnell an die engen Grenzen, die vorgegeben
sind durch Hygienevorschriften, konfektionierte Bestattung nach DIN-Norm,
nach Zeittakten, nach Friedhofsverordnungen.
Deutschland hat innerhalb Europas das rigideste Friedhofs- und
Bestattungsrecht, viele der Verordnungen und Vorschriften stammen noch aus
der Nazi-Zeit und regeln den Umgang mit dem Leichnam und dem, was alles die
Hygiene- oder die Würde des Friedhofs stören könnte. Dass bundesweit die
innerstädtischen Friedhöfe – die lange Zeit das wichtigste Memento mori
waren – immer mehr verfallen und unwürdig verwahrlosen, wird aus
Kostengründen hingenommen. Auf dem Friedhof stagniert ohnehin alles.
Hauptsache scheint, dass das Milliardengrab Autobahn ein bequemes und
zügiges Vorankommen der mobilen Gesellschaft garantiert.
Bei alldem herrscht aber weiterhin das Leitbild bürgerlicher Trauerkultur
des 19. Jahrhunderts. Schamhaft lässt sich der geizige Bürger in der Urne
entsorgen und weiß insgeheim, dass es eine Schande ist, so weit
zurückzufallen – die Arbeiterschaft gründete in der Weimarer Republik aus
Not „Arbeiter-Feuerbestattungsvereine“, Feuerbestattung fürs Proletariat
war die Folge von Weltkrieg und Massenarbeitslosigkeit. Fürs heutige
Repräsentationsbedürfnis des Bürgers hat das Bestattungsgewerbe Besonderes
im Angebot, das Pressen der Totenasche zu einem Diamanten, lupenrein
gelangt so der teure Gatte an den Ringfinger der Witwe; es gibt die DNS des
Verstorbenen im Schmuckkästchen für zu Hause; man kann auf
„Internet-Friedhöfen“ virtuelle Locken, Bilder und Geschichten des Toten
präsentieren; die Asche lässt sich in den Weltraum schießen oder in der
Sahara verstreuen. Alltag sind aber die anonymen Urnen, die unentwegt in
die größer werdenden Rasenflächen unserer Friedhöfe gesenkt werden, damit
schnell Gras über die Sache wachse.
Es müssen neue Rituale gefunden werden, in denen sich die Gesellschaft
wieder auf den Tod beziehen und nur so auch neu konstituieren kann. Durch
die Erfahrung mit Aids kam in den 80er- und 90er-Jahren eine neue
Trauerkultur auf, die sich auch außerhalb der Homosexuellenszene allmählich
durchsetzt. Claudia Marschner war die erste Bestatterin in Deutschland, die
ein neues Konzept entwickelt und gewagt hat (inzwischen findet sich viel
davon in der Angebotspalette der konventionellen Bestatter wieder, fremd
und beziehungslos geworden).
Ihr Bestattungsinstitut liegt in Kreuzberg, in U-Bahn-Nähe, nicht weit vom
Mehringdamm. Hier herrscht noch normales Kiezleben, mit kleinen Kneipen und
Geschäften ringsum, in den Höfen spielen Theatergruppen, arbeiten Künstler.
Auf den Hauswänden der renovierten alten Mietshäuser ziehen sich die
Schriftzeichen der männlichen Jugend hin, nur am Bestattungsgeschäft
scheint es einigen die Hand verkrampft zu haben. Tür und Schaufensterrahmen
sind weiß. Der Blick ins Innere ist erwünscht und unverhüllt. Zu sehen sind
drei Särge, einer davon ist bunt bemalt. Als wir eintreten erhebt sich ein
kleiner schwarzer Hund, dehnt und streckt sich in der warmen
Nachmittagssonne und betrachtet uns mit freundlicher Zurückhaltung. Die
Herrin telefoniert nebenan, und wir sehen uns um im Ausstellungsraum. Die
linke Seite des Raums ist bemalt, zeigt eine Landschaft der Erinnerung.
Durch helles Himmelblau mit Kumuluswolken schweben kleine Szenerien: ein
sich umarmendes Paar von hinten ist zu sehen, eine Buddhafigur, ein Mensch
liegt in einer Hängematte, eine Frau springt mit ihrem Hund davon, ein
Stück Meer und Palmenstrand lugen hervor, und drüber hinweg fährt ein Mann
auf einem Surfbrett dahin.
Direkt am Schaufenster steht der bunte Sarg. Er hat eine konventionelle
Form und wurde von Kindern in kräftigen Farben bemalt. Zu erkennen ist ein
blaues Gespenst auf grünem Untergrund, ein rotes Herz mit gekreuzten
Knochen, Fische, Vögel, Blumen, und etwas, das wie ein Totenkopf aussieht.
Auf dem Sargdeckel steht zwischen kleinen mexikanischen Totenköpfen aus
Zuckerguss eine stählerne klassische Urne, gekrönt von dem Wort „Karma“ in
blauer Neonleuchtschrift. Die Mitte des Raumes nimmt ein feierlich schöner
Sarg ein, er hat einen flachen Deckel und abgerundete Ecken, es ist ein
spanischer Sarg mit langer Messinggriffstange an jeder Seite. Sein Holz ist
matt poliert und schimmert goldfarben. Auf dem Deckel steht eine Urne mit
dem Aussehen einer angeschnittenen Wassermelone, eine weitere Urne ruht auf
dem Kopfteil des Sarges, eingehüllt in ein aufgeplustertes rotes
Plüschherz. Auf dem dritten Sarg, der ganz dunkelbraun und konventionell
ist, stehen mehrere, teils bemalte Urnen und auch runde Urnen. Hier, und
auch nebenan im Beratungszimmer, ist alles hell und lichtdurchflutet, es
gibt keine Kreuze, keine betenden Hände, keine Palmwedel, keine
08/15-Abfertigung.
Wir nehmen an einem schlichten Tisch aus hellem Holz Platz, betrachten das
Skelett, das mit gezückter Lanze auf einem Pferdeskelett galoppiert, zu
Füßen hat es ein naiv gemachtes Pappmaschee-Skelett sitzen. „Das ist eine
Leihgabe“, erklärt Frau Marschner, „die stammt noch von einem mexikanischen
Totenfest.“ Sie zündet sich eine Gauloises an, schiebt das Körbchen mit den
Tempotaschentuchpäckchchen für die Tränen der Trauernden etwas zur Seite
und erzählt, während der kleine Hund sich auf dem Parkettboden wohlig
ausstreckt.
Auf die Frage, ob sie Angst hat vor dem Tod, sagt sie: „Ja natürlich, klar
habe ich Angst vor dem Tod, vor diesem Moment, irgendwann, wo es dann –
zsss … und das war der letzte Atemzug. Jetzt bin ich 39. Früher war ich
gern auch ein Enfant terrible. Ich habe ja mit 26 hier begonnen, und damals
war ich so weit, wie man in dem Alter ist. Mittlerweile bin ich da
reingewachsen und sehe das sehr klar, wie schlimm das ist, dass die
Gesellschaft nichts über den Tod weiß und auch nichts wissen will. Auch die
Kinder werden ja nicht informiert. Es ist ein ganz großes Versäumnis! Es
kann jeden jederzeit treffen. Dass der Tod erst im Alter irgendwann kommt,
ist eine der großen Lebenslügen. Es sterben Kinder, es sterben Leute in
meinem Alter, Brustkrebs ist ein großes Thema, Jugendliche nehmen sich das
Leben, geliebte Partner haben Aids oder einen Unfall usw. Ich höre oft, der
oder die sei vollkommen überfordert. Als meine Freundin an Krebs erkrankte,
sind fünfzig Prozent der Freunde weggeblieben. Sie waren so überfordert,
sie wissen gar nicht, wie sie jemand begegnen sollen, dem die Haare
ausfallen, der so schlecht drauf ist. Also diese Leute fühlen sich nicht
überfordert, sie fühlen sich gefordert. Da weichen sie aus, dazu sind sie
zu faul. Bestenfalls sind sie auch noch ängstlich.
Aber wir sind dazu in der Lage, den Freund oder die Freundin, die Mutter,
bei der Krankheit und ins Sterben zu begleiten. Menschen können so was!
Aber wir sind eine blöde, bequeme, versicherte Gesellschaft, die sich nicht
mit dem Tod beschäftigen will. Aber der Tod beschäftigt sich natürlich mit
uns. Er ist ja eines der wichtigsten Naturereignisse, auch eigentlich ein
Naturspektakel, dramatisch, der geschwisterliche Teil der Geburt. Es gibt
keinen Grund, ihn zu verschweigen, und es hat auch gar keinen Sinn.
Jetzt, wo ich langsam älter werde, sehe ich das Ausmaß der Ignoranz, und
ich dachte, ich muss vielleicht anfangen, meiner Nachgeneration was zu
erzählen, die 15-, 16-, 17-Jährigen aufklären. Also habe ich beschlossen,
in die Schulen zu gehen. Ob ich Angst habe oder nicht, ist da zweitrangig,
es ist meine Pflicht. Ich habe dann eine Aktion gestartet, im Rahmen von
Religions- und Ethikunterricht. Und es ging besser als erwartet. Auf die
Frage, wer schon mal einen Sterbefall in seiner näheren Umgebung hatte, hat
fast die Hälfte der Klasse den Arm gehoben. So heil ist also die Welt auch
hier schon gar nicht mehr. Und in den seltensten Fällen wird in den
Familien darüber geredet mit den Kindern, es gibt keine Aufklärung, im
Gegenteil, es wird alles verschwiegen. Ich weiß das sehr gut aus meiner
eigenen Familie. Als meine Mutter eben sehr früh starb, da haben meine
Schwester und ich einem schwarzen Wagen hinterhergeguckt. Keiner hat
gesagt, wohin meine Mutter kommt, warum, wieso. Es sind nur Andeutungen
gefallen. Meine Mutter kam in die Gerichtsmedizin, sie war ja ein
Suizidfall. Dann kommt immer die Polizei und die Gerichtsmedizin. Und ich
habe natürlich überlegt, was geschieht dort, wer hat sie ausgezogen, wer
untersucht, waren das nette Menschen oder waren das Fleischer, haben sie
Witzchen gemacht. Ich hatte ja keine Bilder. Das waren für mich
schreckliche Gedanken. Das fand ich viel schlimmer eigentlich noch. Nicht,
dass sie tot war, weil ich wusste, irgendwie hat sie es jetzt auch gut, das
spürt man einfach so ein bisschen, als christlich verwurzelter Mensch. Ich
hätte gerne gewusst, weshalb sie sich das Leben genommen hat, aber meine
Oma hat es abgelehnt, darüber zu reden, sie sagte nur, das bringt nichts,
es würde nichts ändern, wir müssen jetzt nach vorne schauen.
Ich war immer diejenige, die nach hinten geschaut hat. Schweigen und
ignorieren, das ist für mich das Schlimmste. Und ich sehe, dass die Kinder
darüber reden wollen. Erst mal sind sie cool, die sehen Sendungen wie
„Autopsie“, da werden Kinder exhumiert, die sehen Internetseiten, wo man
zerstückelte Leichen betrachten kann. Die haben schon einiges gesehen, aber
eben nicht wirklich, keinerlei Erfahrung damit gemacht. Einer sagte, gut,
wir haben jetzt viel vom Tod geredet, die Särge gesehen, haben Sie auch ein
Foto von einem wirklichen Toten? Ich erkläre, dass ich, selbst wenn ich
eins hätte, es nicht zeigen würde. Hättest du selbst es denn gern, wenn man
das Foto deiner toten Mutter hier der ganzen Klasse herzeigt? Dann merken
sie, oh, das ist jetzt nicht das Fernsehen, da gibt es was, das noch heilig
ist. Das finde ich wichtig. Ich sage immer: Versucht mal, in der Ich-Form
zu reden. Dann fällt es natürlich schon viel schwerer.
Bei den Erwachsenen ist das nicht so leicht. Die Leute wollen zwar nicht
alt werden, aber alt sterben. Und bei Paaren höre ich oft: Ich aber zuerst,
sonst muss ich zu sehr leiden, ich möchte nicht übrig bleiben. Also das ist
die faule Gesellschaft. Ist so! Ich erlebe es auch immer wieder, dass Leute
sagen, also ich hab mit deinem Beruf kein Problem. Aber sie besuchen mich
nie im Geschäft und stellen auch nie eine Frage. Es hat ja System, auch
gesellschaftspolitisch, dass diese Fragen nicht im Bewusstsein verankert
werden. Es könnte ja auch ganz anders sein, die Berührung mit dem
verstorbenen Opa oder der Oma könnte eine Selbstverständlichkeit sein für
die Kinder oder dass gesagt wird zu den Nachbarn, kommt mal rüber, wir
nehmen Abschied und trinken zusammen einen Wein. Die Kinder würden
begreifen, der Tod ist gar nicht das Bedrohliche, Schreckliche, er ist ganz
natürlich. Also wenn Menschen mit so einem Bewusstsein aufwachsen und
durchs Leben gehen, dann würde doch keiner 60 Stunden in der Woche bei
Siemens Platinen löten! Jeder würde Prioritäten setzen und sich überlegen,
wie er sein Leben gestaltet.
Missverstehen Sie mich nicht, es geht nicht darum, mehr „rauszuholen“. Das
ist ja nur pseudo und letzten Endes selbstzerstörerisch. Es geht um die
große Lehre vom Tod, vielleicht das Leben kennen zu lernen, die Welt. Aber
stattdessen hängt man in so einem Gefängnis von Geld und scheinbarer
Freiheit. Und das ist diese große Leere, die viele auch fühlen, eben auch
so eine spirituelle Leere. Die Kirche hat versagt. Die Pfarrer gehen nicht
mehr raus, treiben nicht mehr richtig Seelsorge, und die Bestatter haben es
versäumt, Kulturarbeit zu leisten. Traditionen zu pflegen. Alle wollen nur
irgendwie am Markt bestehen. Sämtliche Bestatter werben über den Preis,
nicht über das Angebot – auf Berlin jetzt mal bezogen.
Im Grund habe ich das Gefühl, dass ich als Bestatterin eine alte Tradition
erhalte und auch transformiere ins 21. Jahrhundert, letzten Endes. Meine
bunten Särge sind ja nicht als Gag gedacht, wie manche vielleicht denken.
Sie bedeuten nicht, dass ich locker mit dem Tod umgehe. Sie sollen den Tod
und die Trauer ja nicht schmälern, sondern sie sollen sie ermöglichen. Und
wer sagt, also das sind für mich keine Särge, der muss aber wirklich mal in
die Kulturgeschichte gucken. Die klassische Sargfarbe zum Beispiel im
Hochmittelalter war dunkelblau. Es gab pompöse Särge, die in der Kapelle
standen, und über der Gruft ging unten der Sargboden auf und der Leichnam
flog polternd in die Tiefe. Es gab vieles. Und auch heute sind ja die
meisten Särge nicht schwarz, sondern es ist ja eine einzige braune Soße.
Das beispielsweise ändere ich, aber bei mir bleibt ein Sarg ein Sarg. Und
ich verkaufe ja nicht nur Särge, ich verkaufe im Grunde genommen auch eine
Vermutung, eine Illusion, wenn Sie so wollen, aber eine legitime Illusion
oder eine Hoffnung. Mehr haben wir ja nicht. Wir haben ja nicht, wie die
Mexikaner, ein traditionelles buntes Totenfest. Wir haben einen flauen
Totensonntag, und unsere Friedhöfe sind keine Begegnungsstätten mehr,
sondern sie veröden. Es gibt auch keine Familiengräber mehr. Das ist ein
Spiegel der Gesellschaft.
Deshalb habe ich mich auch gefreut, muss ich sagen, dass die Friedhöfe 2005
– weil sie erkannt haben, hoppla, wir müssen unsere Gräberkultur erhalten �…
beschlossen haben, die Gräber günstiger zu machen und die anonymen Wiesen
teurer. Und wenn jetzt die Angehörigen vor mir sitzen und sagen, also Oma
wollte immer eine anonyme Bestattung, das hat mit dem Geld nichts zu tun.
Dann sage ich ganz ruhig: Na, ist gar kein Thema, ich muss sie nur darüber
aufklären, es wird 200 bis 300 Euro teurer. Und siehe da, die meisten
rücken sehr schnell von der anonymen Bestattung ab und nehmen dann doch
lieber ein Grab. Es wird sich zeigen, dass es nicht Ideologie war, sondern
eine reine Geldfrage.
Wenn es um diesen Kulturverfall geht, da bin ich konventioneller, als viele
vielleicht denken. Ich wurde gefragt, was haben Sie denn gegen Pappsärge?
Haben wir heute Pappsärge, dann haben wir morgen Papptüten, oder wir haben
die Verstorbenen mit Muskulatur, mit Haut, in irgendwelchen
Wanderausstellungen … oder irgendwann sogar für zu Hause. Ich habe das
nicht angeschaut, aber ich kenne viele, die in den „Körperwelten“ – dies…
Leichenausstellung, oder wie man das nennen soll – gewesen sind. Sie haben
das bestaunt, denn es sind ja echte Menschen. Aber sie haben deshalb doch
nicht den Körper besser verstanden – und schon gar nicht den Tod!
Dass das der Körper sein soll, das ist eben das Missverständnis. Um die
Leiche, den Tod, wirklich etwas zu verstehen, ist es wichtig, dass Sie am
„Kadaver“, sag ich mal, wirklich sitzen. Ihn auch anfassen und begreifen,
das ist der Körper, den wir natürlich auch geliebt haben, an Händen, an
Nase, an Augen, Kopf und Ohren. Nun ist er tot und auf unsere Hilfe
angewiesen, für die neue Etappe, die beginnt, wenn der „Geist“, sagen die
Spirituellen, oder die „Seele“, sagen die Gläubigen, dann aus dem Körper
geht. Und dazu gehört ja auch eine liebevolle Bestattung. Aber dazu gehört
auch, wenn es möglich ist, die Teilnahme am Sterben. Also nehmen wir an,
die Freundin, der Mann, das Kind ist im Krankenhaus, es gibt eine
Todesdiagnose. Man kann nichts mehr für sie tun. Dann kann ich sagen, gut,
es macht Umstände, es wird schrecklich sein, aber ich nehme mir die Zeit
und hole sie nach Hause zum Sterben, in ihre vertraute Umgebung. Technisch
ist das kein Problem, es gibt Homecare-Ärzte, Pflegehilfen, Infusionen und
Schmerzmittel. Viele sagen, sie haben Angst davor, dass sie nicht erkennen,
wenn der Tod eingetreten ist. Aber so ist das nicht, man spürt es. Die
Menschen müssen einfach wieder vertraut gemacht werden mit ihren eigenen
Instinkten, mit ihrer Intuition, mit ihren Stärken. Diese Eigenschaften und
dieses Wissen, das jeder in sich trägt, ermöglicht auch, genau zu sehen,
das ist jetzt ohnmächtig, oder das ist tot. Das spürt man genau, darauf
kann man sich verlassen. Sie brauchen keinen Arzt dazu. Der Arzt muss
natürlich trotzdem geholt werden, um den Leichenschauschein auszustellen,
mit dem dann der ganze bürokratische und organisatorische Teil bei den
Ämtern eingeleitet wird. Im Prinzip kann jeder auch die Behördengänge
selbst erledigen, aber in der Regel übernehmen das die Bestatter.
Und dann haben sie drei Tage Zeit zum Abschiednehmen zu Hause. Sie können
in aller Ruhe und ungestört die Waschungen vornehmen, auch die Haare noch
mal waschen, sie können sagen, ich schneide noch mal die Fingernägel und
die Fußnägel, und ich ziehe ihm vielleicht seine Lieblingssachen an. Aber
das nehmen die wenigsten Leute in Anspruch. Meist werden die Bestatter
sofort geholt und die bringen den Toten weg. Und wenn ihr Angehöriger im
Krankenhaus stirbt oder die Leiche wegen Unfall, Suizid und Ähnlichem
beschlagnahmt wurde, dann bekommen sie den wegen der Vorschriften ohnehin
nicht mehr nach Hause. Sie haben aber die Möglichkeit, den Toten noch mal
zu sehen und Abschied zu nehmen, in unseren Räumen, die liegen etwas
außerhalb von Berlin, wegen der Vorschriften. Wir lassen uns eigentlich
unsere Toten viel zu leicht wegnehmen, leider. Wir lassen uns doch sonst
nichts im Leben wegnehmen, nicht den Autoschlüssel und nicht den
Geldbeutel, nicht die Handtasche. Aber unsere Toten … generell den Tod.
Viele sagen auch, sie haben es nicht geschafft, sie haben Angst, auch vor
den Gerüchen. Am zweiten Tag können die Gerüche schon mal leicht unangenehm
werden für unsere unerfahrenen Nasen. Das hat natürlich auch viel mit der
Medikamentierung zu tun. Es ist schwierig, zum Beispiel bei Krebspatienten,
das muss ich den Hinterbliebenen sagen. Die haben Chemobomben hinter sich,
die Leichenflecken kommen schneller, wenn der Bakterienhaushalt explodiert,
die Flüssigkeiten treten einfach aus, weil die Zellen zerstört sind. Da
muss man viel Flüssigkeit dämmen und wattieren, das nimmt schon dramatische
Züge an, manchmal. Dann rufe ich eben schon nach einem Tag den Bestatter.
Aber in der Regel verläuft das ganz normal, früher wusste man eben, man
schließt dem toten die Augen, das Kinn wird hochgebunden, damit der Mund
geschlossen bleibt, Gläubige haben die Hände gefaltet zum Schluss. Heute
erfahren die Angehörigen alles von mir, was nötig ist. Manchmal werde ich
gefragt, ob ich die Toten auch schminke für den Abschied. Also ich hab’s
mal probiert, noch mal die Lippen ein bisschen und so, und da dachte ich,
NEIN! Das sieht gemein aus, das geht ins Puppige, ins Groteske. Der Tod
setzt sich einfach durch, zielstrebig, da lässt sich nichts parfümieren,
nichts schminken, also, lass es sein.
Im Prinzip kann jeder seinem Verstorbenen die letzten Dienste und Ehrungen
selbst erweisen, bis auf Sarg und Überführung. Aus der Sargtischlerei und
den Fuhrbetrieben ist der Bestatterberuf ja mal hervorgegangen. Bei uns
darf keiner privat einen Leichnam transportieren, das darf nur in den dafür
speziell präparierten und zugelassenen Leichenfahrzeugen der Bestatter
gemacht werden. Für die Farbe besteht keine Vorschrift. Bei mir gibt es ein
silbergrauen, ein dunkelblaues und ein schwarzes. Meine Fahrer haben
übrigens dunkelblaue Anzüge an. Also, wenn ich jetzt hier Kunden begrüße in
weißer Bluse und Jeans, dann gibt es da kaum Irritationen, ich begrüße ja
die Lebenden. Aber meine Fahrer, die fahren ja die Verstorbenen. Und ich
würde das auch nicht schätzen, wenn einer im Karohemd und mit Jeansjacke
käme und sagt: Begrüße Sie, Firma Marschner! Ich bereite meine Fahrer
natürlich auch darauf vor, wie sie mit Emotionen umgehen. Eine ältere Frau
hat mal meinem Lieblingsfahrer ein blaues Auge gehauen. Sie war außer sich,
weil’s im Moment des „Wegnehmens“ war, ihr Mann wurde rausgetragen. Und da
ist dann der Fahrer stehen geblieben wie ein Baum! Auf meine Leute muss ich
mich voll verlassen können.
Ich selbst beschäftige mich ja vorwiegend mit den Lebenden hier, und da ist
mein eigentliches Thema der Abschied. Während der Leichnam im Kühlraum
liegt, können zum Beispiel Eltern, Freunde, Kinder hier im Laden gemeinsam
den Sarg für den verstorbenen Menschen bemalen, wenn sie wollen, als
letztes Geschenk, und sich dabei unterhalten, weinen, lachen, die
Lieblingsmusik der Toten hören, Kaffee trinken, rauchen. Hier herrscht
keine verlogene Pietät, ich täusche nichts vor mit Leichenbittermine, ich
helfe den Kunden dabei – denn hier begegnen sich ja Kaufmann und Kunde –,
dass er sich nicht alles aus den Händen nehmen lässt. Dass sie den Toten,
und den Tod als solchen, in ihr Leben mit einbeziehen können, trauern
können. Bei mir ist jede Beerdigung ganz individuell, und ich reiße eben
nicht, wie üblich, die gesamte Organisation an mich. Im Gegenteil, ich
ermuntere den Angehörigen, die Trauerrede selbst zu halten, das Musizieren,
die Blumen und so weiter, das alles, da lass ich total los. Wer’s aber
möchte, für den organisiere ich natürlich die gesamte Gestaltung, das mache
ich in vielen Fällen auch.
Deshalb fällt eben immer wieder das Wort „Event-Managerin“. Ich habe ja mal
zwei Jahre bei einem ganz konventionellen, dunklen Bestatter gesessen,
alles ging nach Schema F. Das war wichtig und heilsam für mich. Ich wollte
es anders machen, und das Konzept ist aufgegangen. Meine Kunden sind meist
aus dem Mittelstand, im Prinzip kommen alle Altersklassen vor, vom Greis
bis zum Kind, vom Sozialbegräbnis bis zum Akademiker. Die Leute brauchen
einfach adäquate Trauerzeremonien, und dafür sorge ich, dass sie die
bekommen.“
Sie steht auf, um in der kleinen Büroküche nebenan noch einen Kaffee zu
machen. Der Hund blinzelt uns verschlafen an. Er weiß anscheinend, dass wir
nicht Leid tragend sind. Es dämmert bereits. Nebenan sind die Leuchtzeichen
der Urnen angegangen, die verblendeten Wandlampen tauchen die Räume in ein
zartes, warmes Licht. Frau Marschner, die das alles geschaffen hat, und
dabei selbst einen überraschend harten Eindruck macht, reicht uns schwarzen
Kaffee, zündet sich eine Zigarette an und ist bereit, noch etwas von sich
zu erzählen. Aus ihrem sehr offenen und persönlichen Buch weiß ich, dass
sie sozusagen in Drachenblut gebadet wurde – und dass sie einen
eintätowierten Drachen auf dem Rücken hat.
„Also ich musste meine eigene Geschichte erzählen, weil sie ja viel zu tun
hat mit diesem Bestattungsinstitut. Es war sozusagen das Erbe meiner
Mutter, dass ich mich an dieses Thema rantraute. Ich habe es ja vorhin
schon erwähnt, dass sie sich umgebracht hat. Für mich war es einfach so,
dass ich auf dem Heimweg von der Schule vom Tod meiner Mutter erfuhr,
mitten auf der Turmstraße. Eine Nachbarin war geradezu erfreut, mir als
Erste diese Nachricht zu überbringen. Ich konnte das natürlich gar nicht
glauben. In meinem Zimmer hing ein Stück rote Wäscheleine an der Leiter zu
meinem Hochbett. Meine Mutter war einfach in mein Zimmer gegangen und hatte
sich an dieser Leiter erhängt. Es war nur ein einfacher Knoten in der
Wäscheleine, das Ersticken muss lang gedauert haben. Sie hat eine einzige
Zeile hinterlassen: Ich kann nicht mehr. Und meine Oma hat dann einen ganz
großen Fehler gemacht. Sie entschied sich für eine Feuerbestattung, es gab
eine abscheuliche Urne aus gehämmertem Kupfer, die kam neben Opas Grab.
Fertig. Nichts davon hatte mit meiner Mutter was zu tun, aber alle haben
gesagt, es war ein würdiger Abschied. Die Wohnung wurde schnell aufgelöst,
meine Schwester und ich, wir lebten ja bereits vorher, bis auf die letzten
zwei Jahre, meistenteils bei meiner Oma, die im gleichen Haus wohnte.
Die Erwachsenen versuchten unsere Trauer im Keim zu ersticken. Es gab
keinen Trost, keine Gespräche, nichts. Ich musste nicht nur den Tod meiner
Mutter ignorieren, auch ihr Leben, die ganze Person. Ich hätte gern
gewusst, was mit ihr war. Alle sagten früher immer, Mann, du hast so eine
tolle Mutter, sie ist witzig, sie lacht, sie hat schöne Zähne … Das war
alles nur Wahnsinnsfassade. Meine Mutter ist für mich eine Frau, die nicht
greifbar ist. Sie war zu sehr mit sich beschäftigt. Ich hab sie wild
erlebt, manchmal auch chaotisch, aber keiner hat mal gesagt, also ich hab
sie auch soundso gekannt. Ich hörte höchstens, deine gute Mutter … das
ganze Heuchelprogramm, mit dem man die Toten gutspricht. Ich durfte ja zum
Beispiel auf keinen Fall sagen, dass ich meine Mutter sehr anstrengend,
sehr nervig fand, dass es Momente gab, wo ich dachte, ich bin froh, dass
sie tot ist. Das ist normal, Kinder denken so. Aber die Toten sind sofort
heilig. Man muss das Lügen mitmachen. Aber nach dem Tod meiner Mutter fing
im Grund mein Leben wieder an, mir Spaß zu machen.
Es war auch eine Befreiung. Meine Mutter ist ein klassischer 68er-Fall. Sie
ist irgendwie völlig dran vorbeimarschiert, an der Selbstbefreiung. Mein
Vater ist ganz schnell wieder verschwunden. Beide waren so 22, mit 24 ist
er gegangen. Es funktionierte nicht, beide wollten nicht in so ein
Eheprogramm reingepresst werden, und das in den 60ern. Meine Mutter hatte
oft ganz schlimme, verzweifelte Phasen, mit schweren Depressionen. Dann war
sie wieder wie ein Orkan. Ich fand das als Kind sehr schwer. Es hat mich
aber sehr sensibilisiert dafür, in Augen zu lesen, Stimmungen zu wittern.
Das kommt mir heute zugute. Meine Oma dagegen, bei der meine Schwester und
ich eigentlich aufwuchsen, die war für mich wie ein Leuchtturm, hat für
Ordnung und Regelmäßigkeit gesorgt, nach der Schule war das Essen auf dem
Tisch. Das hat mich angeödet damals, aber heute sind das die Sachen, die
mir echt Halt geben. Und im Vergleich zu meiner Mutter war meine Oma –
Jahrgang 1905 – eine total emanzipierte und fortschrittliche Frau, die
alles geregelt hat. Für sich selbst hatte sie übrigens auch eine Vorsorge
getroffen, Feuerbestattung, ab ins Grab zu Opa. So war’s geplant. Aber zwei
Jahre vor ihrem Tod, sie wurde 92, sagte sie, du hast ja jetzt dein eigenes
Beerdigungsinstitut, Mensch Claudia, schick mich mal nicht durchs Feuer.
Ich glaub, ich will doch lieber eine Erdbestattung. Da dachte ich, Oma, du
hast die schreckliche Beerdigung meiner Mutter damit ein bisschen wieder
gutgemacht. Und so war es dann auch. Meine Schwester und ich konnten am
Sarg meiner Oma auch unsere Mutter betrauern und um sie weinen. Noch eine
Urne hätte ich nur schwer ertragen.
Nun konnte ich auch wieder auf den Friedhof. Siebzehn Jahre habe ich den
Friedhof, auf dem meine Mutter lag, nicht betreten. Wegen der schrecklichen
Beerdigung. Ich mag Friedhöfe. Ich hab das auch gemerkt bei der Umbettung
der Urne von meiner Mutter, dass ich Friedhöfe sehr sympathisch finde. Es
ist für uns alle wichtig, dass es sie gibt. Also dass es Orte für die Toten
gibt, wo auch die sind, die ich nicht kenne, wo ich mich besinnen kann,
spazieren gehen kann, ein Datum lese, wo es viele Gräber gibt und
Geschichten. Das ist wichtig.“
27 Mar 2006
## AUTOREN
GABRIELE GOETTLE
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.