# taz.de -- Wahrheit, Recht und irgendwann Frieden | |
> GENOZID Die juristische Aufarbeitung des Völkermords ist bald beendet – | |
> ein Erfolg der Gacaca-Gerichte, sagt Dorfrichter Uwayezu | |
AUS KIGALI SIMONE SCHLINDWEIN | |
Es ist ein friedlicher Samstagmorgen in Nyanza, oben auf einem der tausend | |
Hügel Ruandas nahe der Hauptstadt Kigali. Dieudonné Uwayezu schlurft in | |
Gummistiefeln durch die schlammigen Straßen. Eben kommt der 36-Jährige von | |
der Gemeindeversammlung. Auf seinem Nachhauseweg bleibt Uwayezu immer | |
wieder stehen, grüßt die Nachbarn, tauscht Neuigkeiten mit dem Pfarrer aus | |
und diskutiert mit der alten Frau, die in einer Wellblechbude | |
Haushaltswaren, Bier und Eier verkauft. | |
Das Wort friedlich scheint noch immer nicht zu Ruanda zu passen, auch 16 | |
Jahre nach dem Völkermord von 1994 nicht. Denn noch immer sitzt das Trauma | |
tief, noch immer ist die Gesellschaft gespalten, das Misstrauen zwischen | |
Hutu und Tutsi groß. So auch in Nyanza. Eben haben die Dorfvorsteher auf | |
der Sitzung beschlossen: Jeder Einwohner muss sich neu registrieren lassen, | |
jede Familie muss Besucher, die über Nacht bleiben, beim Dorfältesten | |
anmelden. Fremden traut hier keiner: „Man weiß ja nie, was die 1994 | |
getrieben haben“, sagt Uwayezu. Nur in der eigenen Gemeinde fühle er sich | |
sicher. Denn er kennt sie alle: die Massenmörder, die Mitläufer, die | |
Überlebende der Massaker – Uwayezu hat all ihre Geständnisse gehört, all | |
ihre Zeugenaussagen aufgenommen. Uwayezu ist Tutsi und einer der wenigen, | |
die das Massenschlachten in Nyanza überlebten. Heute ist er der oberste | |
Richter im lokalen Dorfgericht, dem Gacaca. | |
Gacaca bedeutet „Grasfeld“ – die Wiese, auf welcher traditionell die | |
Gemeinde zusammenkommt, um Streitigkeiten auszudiskutieren. In den letzten | |
Jahren wurden auf Gacaca-Gerichten in Ruanda die Verbrechen von 1994 | |
aufgearbeitet, als 800.000 Menschen, meist Tutsi, grausam ermordet wurden. | |
In Nyanza brachten Hutu-Milizen in der Grundschule rund 2.500 Frauen und | |
Kinder um, kurz nachdem die UNO-Blauhelme abgezogen waren und die Menschen, | |
die in den Klassenzimmern Schutz gesucht hatten, ihrem Schicksal überlassen | |
hatten. | |
Heute wachsen lila Blümchen auf den Massengräbern rund um die Schule. Die | |
einst blutverschmierten Klassenzimmer wurden renoviert, die Wände frisch | |
gestrichen. Nur ein Denkmal mit den eingravierten Namen der Opfer erinnert | |
noch an das Massaker. | |
Doch die Vergangenheit lässt sich in Ruanda nicht so einfach ausblenden. In | |
den wöchentlichen Gacaca-Prozessen wurden die Erinnerungen an den | |
Völkermord zwangsläufig lebendig gehalten. Uwayezu sitzt auf einem Schemel | |
vor seiner Lehmhütte und zieht Bilanz. Als einer der erster Richter in | |
Ruanda hat er seiner 660 Gacaca-Prozesse bereits abgewickelt. Es war nicht | |
leicht, gibt er zu. „Doch ohne Gacaca wäre die Situation in Nyanza heute | |
noch viel schwieriger. Wir können die Vergangenheit nun hinter uns lassen.“ | |
16 Jahre nach dem Genozid werden in Ruanda jetzt die Gacaca-Akten | |
geschlossen. Damit neigt sich ein entscheidendes Kapitel in Ruandas | |
Geschichte seinem Ende entgegen. Nur noch rund 1.000 Fälle befinden sich | |
derzeit im Berufungsverfahren und werden im Laufe dieses Jahres | |
abgewickelt. | |
Nach Bürgerkrieg und Völkermord musste das Land die Justiz von null | |
aufbauen. Bis zum Jahr 2002 gab es immerhin rund 7.000 Prozesse. | |
Währenddessen aber warteten bis zu 135.000 mutmaßliche Täter in den | |
Gefängnissen auf ihre Verfahren. Das UN-Tribunal für Ruanda klagte zugleich | |
lediglich 80 Hauptverantwortliche des Völkermords an. So war Gacaca eine | |
pragmatische Lösung: Statt tausende Zeugen zu überforderten Gerichten in | |
die Städte zu beordern, ging die Justiz aufs Land und ernannte Dorfrichter | |
wie Uwayezu. | |
Die 12.000 Gacaca-Gerichte bewältigten die umfangreichste juristische | |
Aufarbeitung, die die Welt je gesehen hat. Sie verhandelten über 1,2 | |
Millionen Fälle und verurteilten über eine Million Täter. Diese mussten vor | |
der versammelten Gemeinde ihre Taten gestehen und die Angehörigen ihrer | |
Opfer um Vergebung bitten. Nur so erhielten sie Strafnachlass, um | |
Sozialarbeit zu leisten, anstatt in einem der überfüllten Gefängnisse | |
schmachten zu müssen. | |
Die Entlassenen sind in ihre Dörfer zurückgekehrt. So wohnen heute überall | |
in Ruanda Tutsi-Überlebende Tür an Tür mit den Hutu-Mördern. Auch in | |
Nyanza, berichtet Uwayezu. Der Gacaca-Richter musste die Mörder seiner | |
Tante und ihres Babys richten. „Es war sehr schwer, neutral zu bleiben“, | |
seufzt er. Zehn Jahre Haft hatte er dem Mann aufgebrummt, doch jetzt ist er | |
frei. Wie 60.000 andere Verurteilte auch, profitierte von einer der | |
insgesamt drei Teilamnestien, die es in den vergangenen Jahren gab. Uwayezu | |
zeigt die Straße hinunter: „Er lebt nicht weit von mir“, sagt er. | |
Wenn Uwayezu heute wieder den Mördern begegnet, die er einst verurteilt | |
hat, fühlt er noch immer deren „tiefen Hass im Herzen“, wie er sagt. Auf | |
die Frage nach Versöhnung verdreht er die Augen: „Wir haben viele Konflikte | |
in unserer Gemeinde“, gesteht er. Viele Hutu hätten noch immer Probleme, | |
mit Tutsi zusammenzuleben. „Sie meiden unsere Hochzeiten und sie weigern | |
sich, in der Kirche neben uns Tutsi zu sitzen.“ Doch immerhin: Sie können | |
ihm nichts mehr anhaben. „Vor Gacaca hat die ganze Gemeinde ihre Aussagen | |
angehört, jeder kennt die Wahrheit.“ Das gebe ein Gefühl der Sicherheit. | |
Die Wahrheit herauszufinden lautete „das erste Ziel von Gacaca“, erklärt | |
Denis Bikesha, einer der Direktoren der Gacaca-Kommission, die landesweit | |
die Dorfgerichte koordiniert. Vor wenigen Wochen ist die Behörde in Kigali | |
in kleinere Räumlichkeiten umgezogen. Zahlreiche Mitarbeiter wurden | |
entlassen. Auch Bikesha sucht nun nach einem neuen Job, denn sobald die | |
letzten Fälle verhandelt sind, wird die Gacaca-Kommission geschlossen. | |
Bis dahin arbeitet Bikesha an einem Abschlussbericht. „Wenn ich die Mission | |
in Betracht ziehe, die Gacaca erfüllen sollte, kann ich guten Gewissens | |
sagen: Wir haben sie erfüllt“, nickt er. Ohne die Gacaca-Gerichte wären | |
viele unbestraft davongekommen, ist er überzeugt. So aber habe das Land | |
bewiesen, dass es seine Probleme selbst lösen könne | |
Wenn in Zukunft Menschen in Ruanda des Völkermordes angeklagt werden, dann | |
wird dies vor ordentlichen Gerichten geschehen. Die ruandischen Gerichte | |
sind heute, dank internationaler Hilfe, im Vergleich zu anderen | |
Justizsystemen in der Region gut ausgestattet. Sie verhandeln 45.000 Fälle | |
pro Jahr. Doch praktisch fehlen trotzdem Kapazitäten. So sind Richter | |
verpflichtet, mindestens 30 Fälle pro Monat anzuhören und mindestens 15 | |
Urteile zu fällen. Doch Prozesse wegen Völkermord sind aufwändig. | |
Justizminister Tharcisse Karugarama ist dennoch stolz auf seine Bilanz. Der | |
große Mann sitzt am Konferenztisch im Justizministerium, gegenüber dem | |
Parlament, an dessen Fassade noch immer die Einschusslöcher vom Bürgerkrieg | |
zu sehen sind. Er zeigt aus dem Fenster, wo auf dem Nachbargrundstück | |
Baggerschaufeln im Sand graben. Hier entsteht eines der modernsten | |
Konferenzzentren Afrikas. „Man muss sich doch nur umsehen“, prahlt | |
Karugarama: „Wir bauen unser Land wieder auf und haben seit 15 Jahren | |
Frieden.“ Dazu habe Gacaca einen wichtigen Beitrag geleistet. „Ohne die | |
Versöhnung in den Dörfern wäre die soziale Entwicklung nicht möglich | |
gewesen.“ | |
Versöhnung ja, bestätigt Janvier Forongo, „doch auf wessen Kosten?“ Der | |
Leiter von Ibuka, eine Vereinigung überlebender Tutsi, hat sein Büro neben | |
der Grundschule von Nyanza, um die Erinnerung aufrecht zu erhalten und die | |
Interessen der Überlebenden zu vertreten. Denn es stürben noch immer Tutsi | |
in Ruanda, berichtet Forongo. „Auch wegen Gacaca“, sagt er und liest eine | |
Statistik vor: Allein im Jahr 2009 wurden 24 Gacaca-Zeugen ermordet, alles | |
Tutsi. 6 wurden angegriffen, 19 haben Briefe mit Todesdrohungen erhalten. | |
Forongo hofft, dass mit dem Ende der Prozesse die Überlebenden ihren | |
Frieden finden werden. | |
Diesen Frieden benötigen vor allem die Jungen – die Kinder der Opfer wie | |
die Kinder der Täter. „Nicht die Generation unserer Väter, sondern wir | |
können die Gesellschaft vereinen“, sagt Celestin Ntawirema. Der 25-Jährige | |
hat in Nyanza den Jugendclub „Never Again“ gegründet, der mittlerweile für | |
seine Tanzshows und Theaterstücke in Kigali bekannt ist. Celestin hat | |
erkannt: „Wir Jugendlichen haben dieselben Probleme. Ob mein Vater 1994 | |
ermordet wurde oder seitdem im Gefängnis sitzt – wir haben alle kein Geld | |
für Schulbücher“, sagt er. | |
Celestin hat selbst unzählige Gacaca-Prozesse besucht, denn seine ganze | |
Familie wurde 1994 umgebracht. Doch er ist froh, dass diese Sitzungen nun | |
vorbei sind. „Jetzt können wir am Sonntag endlich Fußball spielen“, strah… | |
er. Richter Uwayezu trainiert nun die Fußballmannschaft von Nyanza. Wenn | |
sein Team gegen das der Nachbargemeinde spielt, kommt fast das ganze Dorf | |
zusammen. Hutu und Tutsi. | |
7 Apr 2010 | |
## AUTOREN | |
SIMONE SCHLINDWEIN | |
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