# taz.de -- Der Versuch | |
> AUFKLÄRUNG Berlin, Ende der sechziger Jahre: Straßenkinder werden von | |
> pädosexuellen Straftätern betreut. Ein Modellprojekt, amtlich genehmigt. | |
> Warum störte das niemanden? Eine Erkundung | |
VON NINA APIN UND ASTRID GEISLER | |
Ulrich war 13 Jahre alt, abgehauen aus dem Kinderheim, Stricher am Bahnhof | |
Zoo. Er hatte kein Zuhause, lesen und schreiben konnte er nicht. Aber sein | |
„Vorteil war, dass er gut aussah und dass ihm Sex Spaß machte; so konnte er | |
pädophil eingestellten Männern, die sich um ihn kümmerten, etwas | |
zurückgeben.“ | |
Das schreibt der renommierte Sexualwissenschaftler Helmut Kentler über den | |
Jungen, den er Ulrich nennt, in einem Bericht über ein pädagogisches | |
Modellprojekt, das er 1969 in Westberlin ins Leben rief. Ulrich bekam auf | |
Kentlers Betreiben hin ein neues Zuhause: bei einem vorbestraften | |
Pädosexuellen, mit Genehmigung der von der SPD geführten Senatsverwaltung | |
für Jugend. | |
Drei vorbestrafte Hausmeister wurden auf diese Weise zu offiziellen | |
Pflegevätern gemacht und für ihre Betreuung der Minderjährigen mit | |
staatlichem Pflegegeld entlohnt. Kentler übernahm die Supervision und | |
machte zweimal die Woche Hausbesuche. | |
Man kann sich das, von heute aus betrachtet, kaum vorstellen: Sex zwischen | |
Betreuern und ihren Schutzbefohlenen – gefördert von einer Behörde. | |
Der Berliner Fall übertrifft, was die Recherchen über pädophile | |
Verstrickungen von Grünen und FDP bisher ans Licht brachten. Die | |
Verantwortlichen waren linke Sozialdemokraten und nicht etwa Mitglieder der | |
Indianerkommune – diesem hippiehaften Nürnberger Wohnprojekt, das freien | |
Sex von Kindern mit Erwachsenen forderte. Sie setzten eine Forderung der | |
Pädophilenlobby in die Praxis um, die damals in linksliberalen Kreisen | |
nicht unpopulär war: die Idee, nicht nur homosexuelle, sondern auch | |
pädosexuelle Beziehungen zu legalisieren. | |
## Wo, fragt man sich, blieb der große Aufschrei? | |
Der Parteienforscher Franz Walter, der im Auftrag der Grünen derzeit deren | |
Pädophilieverstrickungen aufarbeitet, bezeichnet Helmut Kentler, der 2008 | |
starb, als „Schlüsselfigur“ der damaligen Debatte über die sexuelle | |
Gleichberechtigung Homosexueller und Pädophiler. | |
Die Feministin Alice Schwarzer griff Kentlers Idee vom einvernehmlichen | |
Pädophilensex als eine der Ersten scharf an. Doch die gesellschaftliche | |
Debatte kam nie über die Figur des Wissenschaftlers hinaus. Bis heute ist | |
unklar: Wie erging es Ulrich und den anderen Jungen tatsächlich in dem | |
Feldversuch? Und wie konnte der Senat dieses Projekt überhaupt genehmigen? | |
Erstaunlich eigentlich, denn Kentler machte seinen Pilotversuch in den | |
achtziger Jahren mehrfach publik: in der linken Zeitschrift konkret, dann | |
vor FDP-Bundestagsabgeordneten, 1988 in einem von der Jugendbehörde bei ihm | |
in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Gutachten. Ein Jahr später brachte | |
Rowohlt Kentlers pädophilenfreundliche Thesen unter dem Titel „Leihväter“ | |
sogar als Buch heraus. | |
In all diesen Publikationen beschreibt Kentler sein Projekt als | |
Erfolgsgeschichte: „Sekundärschwachsinnige“ Analphabeten hätten sich durch | |
die zärtliche Fürsorge der Pädosexuellen zu selbstständigen | |
Persönlichkeiten entwickelt, die ein „ordentliches, unauffälliges Leben“ | |
führten. Ja, nicht mal schwul seien sie geworden. | |
Dass die pädophilen Betreuer mit ihren Zöglingen Sex haben wollten, gehörte | |
für Kentler ausdrücklich zum Konzept. „Mir war klar, dass die drei Männer | |
vor allem darum so viel für ‚ihren‘ Jungen taten, weil sie mit ihm ein | |
sexuelles Verhältnis hatten“, schrieb der Wissenschaftler in dem | |
offiziellen Senatsgutachten. „Sie übten aber keinerlei Zwang auf die Jungen | |
aus, und ich achtete bei meiner Supervision besonders darauf, dass sich die | |
Jungen nicht unter Druck gesetzt fühlten.“ | |
Wo, fragt man sich, blieb der große Aufschrei? | |
1988 – knapp zwanzig Jahre nach Beginn des Modellprojekts – erhielt Kentler | |
von der Berliner FDP-Jugendsenatorin Cornelia Schmalz-Jacobsen den Auftrag, | |
die Eignung Homosexueller als Pflegeeltern zu beurteilen. In seinem | |
Gutachten, das der taz vorliegt, lieferte der Wissenschaftler unverlangt | |
auch eine Empfehlung für Sex mit Schutzbefohlenen ab. Löste das keinen | |
Protest beim Auftraggeber aus? | |
Man würde zu all diesen Fragen gerne mehr wissen. Gerade jetzt, wo in | |
Deutschland diskutiert wird, wie sehr die pädophilen Positionen damals | |
Mainstream waren, gesellschaftsfähig – in grünen Kreisen und auch bei der | |
taz. Und was das für unsere Gesellschaft heute bedeutet. Doch die Suche | |
nach Antworten ist schwierig. Die FDP-Senatorin a. D. reagiert nicht auf | |
Fragen. Die aktuelle Berliner Senatsverwaltung für Jugend erwischt die | |
Anfrage der taz offensichtlich kalt, obwohl der Fall vor einer Woche auch | |
Thema im Spiegel war. Man verfüge „aktuell über keinerlei Unterlagen zu den | |
fraglichen Sachverhalten“, schreibt die Behörde – und bittet die taz | |
höflich, „sachdienliche Hinweise beizubringen, die uns eine Klärung | |
erleichtern“. Es sei „aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar“ wie dieses | |
Projekt eine „wie auch immer geartete Förderung durch die für Jugend | |
zuständige Senatsverwaltung erhalten konnte“. | |
Helmut Kentler, Jahrgang 1928, war keine gesellschaftliche Randfigur, im | |
Gegenteil. Der homosexuelle Diplompsychologe, politisch im linken SPD-Lager | |
zu Hause, zählte zu den Stars der Sexualwissenschaft, war als progressiver | |
Erziehungswissenschaftler gefragt – und galt, anders als die ausgeflippten | |
Typen aus der Indianerkommune, nicht als Spinner. Vielleicht verschaffte | |
genau das die Akzeptanz für seine pädophilen Ideen auch unter | |
Bildungsbürgern. | |
## Ein Charismatiker aus dem Reformlabor | |
Seine Sexratgeber begeisterten schon früh auch Bürgerliche und | |
Intellektuelle, die den Verklemmungen der Nachkriegszeit entfliehen | |
wollten. Als Gastautor empfahl er 1969 den Lesern der Zeit, sich doch bei | |
der Sexualerziehung daheim lockerer zu machen. Warum, fragte er, solle ein | |
Kind „seinen Vater immer nur ohne Sexualität wie ein griechisches Standbild | |
kennenlernen, beispielsweise erst dann, wenn seine morgendliche Erektion | |
abgeklungen ist?“ | |
Zur Zeit des Modellversuchs arbeitete Kentler als Abteilungsleiter beim | |
Pädagogischen Zentrum in Berlin, einem bundesweit beachteten Reformlabor. | |
Ein Charismatiker, der beeindruckend reden konnte, und ein Kümmerer. Der | |
Pädagoge nahm selbst gestrandete Jungs bei sich auf, drei von ihnen | |
adoptierte er. Auch die evangelische Kirche schätzte ihn als progressiven | |
Mitstreiter. | |
Kentler lehrte am Studienzentrum für Evangelische Jugendarbeit im | |
bayerischen Josefstal, arbeitete dort mit Behinderten und deren Familien, | |
referierte an Evangelischen Akademien, stritt gemeinsam mit der | |
„Ökumenischen Gemeinschaft Homosexuelle und Kirche“ für die Akzeptanz | |
schwuler Pfarrer. | |
Kentler war ein Pädagogik-Idol. Auch daran könnte es liegen, dass viele so | |
reserviert auf Nachfragen reagieren. Sie wollen seinen Ruf nicht posthum | |
schädigen. Und es scheint noch etwas Größeres auf dem Spiel zu stehen: Wer | |
will schon dabei mithelfen, die sexuelle Befreiung, das große Vermächtnis | |
der eigenen Generation, in Misskredit zu bringen? Ausgerechnet jetzt, wo | |
die Pädophiliedebatte unter dem Verdacht steht, im Wahlkampf von | |
Konservativen instrumentalisiert zu werden. Zumal ja selbst Kentlers | |
Kritiker versichern, sie hielten ihn bis heute für „absolut integer“. | |
Eine beliebte Gegenfrage in solchen Gesprächen lautet: Was bringt es, diese | |
Sache ausgerechnet jetzt noch einmal zu thematisieren? Wer profitiert von | |
so einem Zeitungsartikel? Das Thema spiele doch nur jenen in die Hände, die | |
seit je fortschrittliche Köpfe wie Kentler diskreditieren wollten. | |
Manchmal klingt die Sorge an, da wühlten junge Leute unbedarft in den | |
Archiven einer Epoche, die sie nicht verstünden. Vom Erbe der 68er | |
profitieren, aber penibel die Kollateralschäden dieser | |
Emanzipationsbewegung analysieren – wie undankbar ist das denn? „Es war | |
eine andere Zeit.“ Damit bricht der Dialog ab, obwohl er hier eigentlich | |
beginnen müsste. | |
Es war ja wirklich eine andere Zeit. Der Paragraf 175 Strafgesetzbuch | |
stellte bis 1969 alle homosexuellen Kontakte als „Unzucht zwischen Männern“ | |
unter Strafe. Auch danach blieb schwuler Sex für junge Männer unter 21 | |
verboten. Homosexualität galt als „Krankheit“, alle Schwulen standen im | |
Verdacht, sie hätten es auf kleine Jungs abgesehen. Kentler berichtete nach | |
seinem späten Coming-out: „Bis zu meinem vierundvierzigsten Lebensjahr | |
stand ich immer mit einem Bein im Gefängnis.“ | |
Am Telefon wettert einer seiner Weggefährten, es widere ihn an, „wie | |
selbstgerecht man heute über Fragen von damals redet“. Ein anderer mailt | |
gespreizt: „Eingedenk des gegenwärtigen journalistischen Interesses“ und | |
des „nur parteipolitischen Bezuges, der die lebensweltlichen Belange aller | |
Betroffenen völlig ignoriert“, bitte er zunächst um einen Fragenkatalog, | |
„um das cui bono abschätzen zu können“. | |
So melden sich jene zu Wort, die damals, in den wilden, langen 68ern die | |
schonungslose Aufarbeitung der Geschichte forderten. Die alles so viel | |
besser machen wollten als die verklemmte, sprachlose Elterngeneration. Doch | |
auch sie, Eltern jetzt und Großeltern, werden sprachlos, versuchen | |
abzuwimmeln. Selbst langjährige Psychotherapeuten, die eigentlich an die | |
Kraft des Redens glauben, lavieren herum, wenn das Gespräch zum Kern der | |
Sache kommt: der Frage, wie damals eigentlich Sex zwischen Erwachsenen und | |
Jugendlichen oder gar Kindern verhandelt wurde. | |
Ein WG-Genosse aus Kentlers Berliner Jahren sagt am Telefon, er sei aus der | |
gemeinsamen Wohngemeinschaft ausgezogen, weil ihn „die pädophilen Ansätze | |
irritierten“. Der Mann spricht von „Abstinenzverletzungen“ – so nennen | |
Psychiater unzulässige sexuelle Beziehungen zwischen Therapeuten und | |
Patienten. Ob er damit das Verhältnis Kentlers zu seinen Zöglingen meint? | |
Oder dessen pädagogische Experimente? Er habe keine Lust, die uralten | |
Geschichten „im Detail noch mal aufzuwärmen“, wehrt er ab. | |
Auch die Theologin Johanna Vogel zögert, ob sie überhaupt mit Journalisten | |
über das Thema reden soll. Vogel, heute 80 Jahre alt, lernte Kentler Anfang | |
der Sechziger in der evangelischen Bildungsstätte Josefstal in Oberbayern | |
kennen. Seither verband die beiden eine enge Freundschaft. „Ich habe kaum | |
einen anderen Menschen kennengelernt, der sich so eingesetzt hat für | |
schwierige Jugendliche“, versichert sie. Übrigens habe Kentler damals als | |
konservativ gegolten. Sie wirbt um Verständnis für den Modellversuch mit | |
pädophilen Betreuern. Man müsse bedenken, dass die betroffenen Jugendlichen | |
„mit allen Wassern gewaschen“ gewesen seien. „Glauben Sie, dass Sie so | |
einen Jugendlichen noch einmal zu einem unschuldigen Wesen machen können?“ | |
Mehr als 1.000 Ausreißerkinder trieben sich damals in Westberlin auf der | |
Straße herum. Für diese „Trebegänger“ suchten damals Politiker und | |
Pädagogen dringend innovative Unterbringungsformen. Liebevolle Pädophile | |
sind immer noch besser als die verrufenen „Heimknäste“ – so müssen dama… | |
einige in der linken Pädagogenszene gedacht haben. Gegen Stacheldraht, | |
vergitterte Fenster, Drill und Prügel, die in Kinderheimen an der | |
Tagesordnung waren, hatte sich die Anti-Heim-Kampagne formiert. | |
Einer ihrer radikalen Vordenker war der Sozialpädagoge Manfred Kappeler, | |
heute 73 Jahre, ein weißhaariger Herr mit Birkenstocksandalen an den Füßen, | |
der sich in wenigen Sätzen von Adorno zu Rousseau und zurück philosophieren | |
kann. Kaum vorstellbar, dass er sich in den Siebzigern ein jahrelanges | |
Berufsverbot einhandelte. Die Reformpolitik des Senats ging ihm damals | |
nicht weit genug – das machte ihn zu Kentlers Gegenspieler. Kappeler | |
diskutierte im „Arbeitskreis kritische Heimerziehung“ mit Ulrike Meinhof, | |
besetzte mit Ausreißerkindern ein Haus. | |
Er analysierte in mehreren Publikationen die Vertuschung sexueller Gewalt | |
in reformpädagogischen Einrichtungen. Er fürchtet, dass pädophile Pädagogen | |
auch in Jugendwohngemeinschaften und linken Landkommunen ihre sexuellen | |
Präferenzen ausgelebt haben. „Da hat nie jemand genauer hingeguckt, was | |
dort eigentlich lief.“ Das sei nun überfällig. | |
## Die 68er und ihre Ausblendungen | |
Der emeritierte Professor sitzt im Wintergarten einer Villa in | |
Berlin-Steglitz und versucht, die Abwehrreaktionen seiner Zeitgenossen zu | |
erklären. „Man vernebelt die Irrwege, weil sie nicht mehr zum Selbstbild | |
passen“, sagt er und spricht von „Ausblendungen“. Die 68er verhielten sich | |
nicht ungewöhnlich. Die nachträgliche Glorifizierung sei ja ein bekanntes | |
Phänomen in der Geschichtsschreibung: „Alle stricken sich gerne die eigene | |
Geschichte glatt.“ | |
Kappeler meint das nicht entschuldigend. Er hält dieses Verhalten für einen | |
Rückfall hinter die eigenen Standards. Das Herumgeeier von | |
Grünen-Politikern wie Daniel Cohn-Bendit und Volker Beck in eigener Sache | |
nennt er: „Beschämend.“ Schließlich habe das linksalternative Milieu dama… | |
die Debatte über Pädophilie eröffnet. Warum nicht offensiv damit umgehen, | |
gerade jetzt im Bundestagswahlkampf? Verschweigen, vertuschen, verschieben | |
– das sei die Strategie von katholischen Internaten, aber doch bitte nicht | |
der 68er. | |
„Warum werden die Widersprüche nicht wahrgenommen?“, fragt Kappeler. „Wa… | |
haben wir es nötig, uns Heldinnen und Helden zu stilisieren?“ | |
Ja, warum? Dass Kentler mehr war als nur dieser menschlich beeindruckende | |
Reformer, an den sich bis heute viele gerne erinnern – diese Vorstellung | |
muss schwierig sein. Dass er auch dafür warb, Straftaten als etwas Gutes | |
und Schönes zu denken. Beides scheint nicht zusammenzupassen. | |
Auch die taz würdigte Kentler noch 2008 in einem Nachruf als | |
„verdienstvollen Streiter für eine erlaubende Sexualmoral“ und hielt ihm | |
zugute, „trotz aller Kritik“ darauf beharrt zu haben, „dass Sexualität | |
nicht schmutzig sein müsse, auch nicht jene zwischen den Generationen“. | |
Die Archive können kaum noch erklären, worüber Weggefährten nicht reden | |
wollen. Denn der Pädagoge und Sexualwissenschaftler hinterließ zwar selbst | |
viele Spuren – sein behördlich genehmigter Modellversuch mit Pädophilen | |
aber nicht. Kentler dürfte das Projekt als Abteilungsleiter am | |
Pädagogischen Zentrum entwickelt haben. Das Zentrum wurde 1994 aufgelöst, | |
die Akten landeten im Container. Das Archiv des Schwulen Museums in Berlin | |
hat immerhin Kentlers Senatsgutachten parat – mehr aber nicht. Die | |
Spurensuche beim Landesinstitut für Schule und Medien und im APO-Archiv der | |
Freien Universität Berlin verläuft ergebnislos. Das Berliner Landesarchiv | |
hat viele Akten aus der damaligen Zeit noch nicht erschlossen. Die Berliner | |
Senatsverwaltung für Jugend findet heute nach eigener Auskunft nicht mal | |
mehr ein Organigramm des eigenen Hauses aus der Zeit des | |
Pädophilieexperiments. | |
Kentler selbst erwähnte in seinem Senatsgutachten, es sei ihm gelungen, | |
„die zuständige Senatsbeamtin dafür zu gewinnen“. Wer war diese Beamtin? | |
Mehrere Weggefährten Kentlers tippen auf Eva Nolte, 1969 eine | |
einflussreiche Senatsmitarbeiterin, die zum linken Flügel der Verwaltung | |
unter Jugendsenator Horst Korber, SPD, gehörte und Betriebsgenehmigungen | |
für neue Wohnprojekte erteilte. Winkte sie auch den Pädophilenversuch | |
durch? | |
Nolte lebt seit Jahren in Süddeutschland. „Das könnte ich gewesen sein“, | |
sagt sie am Telefon. „Aber daran kann ich mich nicht erinnern.“ Das Projekt | |
sage ihr nichts. Damals, entschuldigt sie, habe es „so viele Projekte, so | |
viele Experimente“ gegeben. | |
Kentler selbst schrieb 1980, er könne erst jetzt über den Fall berichten, | |
weil „die Straftaten, die alle Beteiligten begingen, inzwischen verjährt | |
sind“. Das heißt: Sein Pädophilenversuch war kaum genehmigungsfähig. | |
Vermutlich lief er in der Behörde offiziell unter anderem Titel. Wer vom | |
wahren Charakter der Pflegestellen wusste, ist unklar. | |
Dieter Kreft wurde 1971 Senatsdirektor in der Jugendbehörde – also nachdem | |
das Projekt genehmigt worden war. Der Beamte lehnte pädophile Positionen | |
schon damals klar ab. Als 1978 eine Abordnung der Indianerkommune beim | |
Deutschen Jugendhilfetag das Podium stürmte, soll er sie angebrüllt haben: | |
„Ich ficke auch gern. Aber nicht so!“ Dass in seinem Haus ein | |
Pädophilieversuch lief, davon habe er als Senatsdirektor „nicht die | |
leiseste Ahnung gehabt“, versichert Kreft. „So etwas hätte ich nie | |
zugelassen. Das hätte mich elektrisiert.“ | |
Auch politisch hätte der Fall also mit Sicherheit für Aufruhr gesorgt. Die | |
Jugendbehörde war damals in zwei Lager gespalten – Konservative und | |
Reformer. Zwei radikale Vordenker einer neuen Jugendpolitik waren Martin | |
Bonhoeffer und Peter Widemann. Man hatte sie aus Göttingen für die | |
Heimreform nach Berlin geholt. | |
Bonhoeffer kannte aus Studienzeiten in Göttingen die Reformpädagogen | |
Hartmut von Hentig und den späteren Leiter der Odenwaldschule, Gerold | |
Becker. Im Missbrauchsskandal des Eliteinternats gilt Becker als einer der | |
Haupttäter. Bonhoeffer vermittelte als hochrangiger Senatsbeamter jahrelang | |
Berliner Jugendliche aus problematischen Familien in die Odenwaldschule. Zu | |
dem Pädophilenversuch kann man die vielleicht interessantesten Zeitzeugen | |
nicht mehr befragen. Bonhoeffer und Widemann sind beide tot. | |
Nach wochenlangen Recherchen und zahllosen Gesprächen bleibt die Faktenlage | |
dünn. Dann gibt ein ehemaliger Kollege Kentlers einen Tipp, der in das | |
engste Umfeld des Pädagogen führt. | |
Wolfgang Eschenhorn ist ein pensionierter Verwaltungsmitarbeiter, 66 Jahre, | |
braun gebrannt, drahtige Statur, kurzes, silbriges Haar. Er lebte zur Zeit | |
des Modellversuchs mit Kentler in einer Wohngemeinschaft. Jetzt sitzt | |
Eschenhorn in Trekkingkleidung zwischen Holzskulpturen in seinem | |
Charlottenburger Wohnzimmer. Ein leiser, bedächtiger Mann. Vor ihm dampft | |
eine kleine Schale mit grünem Tee. Im Bücherregal stehen Kentlers Werke. | |
Eschenhorn behauptet: Er kennt Ulrich, jenen angeblich sexbegeisterten | |
Jugendlichen also, der damals mit Kentlers Hilfe das Pflegekind eines | |
pädosexuellen Hausmeisters wurde. Er sei Ulrich vor etwa vierzig Jahren in | |
der WG begegnet. Seit Helmut Kentler 1975 an die Universität nach Hannover | |
ging, kümmere er sich um den Jungen. | |
Ulrich heißt eigentlich anders. Und Wolfgang Eschenhorn versichert: Ulrich | |
wolle unter keinen Umständen mit Journalisten über seine Geschichte reden. | |
Wie sieht Ulrich heute, als Erwachsener diese Zeit? Was genau widerfuhr ihm | |
bei dem pädosexuellen Ersatzvater? Eschenhorn stutzt. Mehr als eine Stunde | |
lang hat er in seinen Erinnerungen gekramt, Namen und Details aus der | |
WG-Zeit mit Kentler ausgebreitet. Nun stockt das Gespräch. | |
Er habe mit Ulrich nie darüber geredet, sagt Eschenhorn schließlich. Ulrich | |
verdränge bis heute, was ihm seit frühster Kindheit passierte. Er habe | |
seine Geschichte nie aufgearbeitet, weil er die Erinnerung daran scheue. | |
Wieso auch sollte Ulrich an die Öffentlichkeit gehen? Um als Exstricher in | |
der Zeitung zu erscheinen, wo seine Glaubwürdigkeit, die eines Mannes mit | |
Drogenkarriere, gegen die eines geschätzten Universitätsprofessors stehen | |
würde? Und Eschenhorn sagt: Ulrich sei Kentler bis heute dankbar, er wolle | |
ihn gar nicht anprangern. Kentler sei später Ulrichs Bewährungshelfer | |
geworden und habe ihn sogar adoptieren wollen. | |
Die Vergangenheit sieht sehr unterschiedlich aus, je nachdem, wer von ihr | |
erzählt und vor welchem Publikum. | |
Wolfgang Eschenhorn wirkt unsicher, ob er festhalten soll am Idealbild des | |
gefeierten linken Vorzeigepädagogen, in dessen Wohngemeinschaft er 1969 | |
einzog. Dabei ist das, was er über Kentlers Modellprojekt zu erzählen weiß, | |
noch finsterer als Kentlers eigene Version. | |
„Ulrich war damals drogenabhängig und ging um die Ecke auf den Strich. Er | |
war noch keine 14“, sagt Eschenhorn. Die Akademiker-WG lag in nächster Nähe | |
des Straßenstrichs am Nollendorfplatz. Der Junge sei des Öfteren | |
unangemeldet in der Wohngemeinschaft aufgekreuzt. An eine Begegnung | |
erinnert sich Eschenhorn genau: „Er klingelte morgens um acht. Griff in die | |
Tasche, legte ein Bündel Geldscheine auf den Tisch und sagte: Helmut, heb | |
das für mich auf. Ich werd eh nur beklaut.“ | |
Kentler wollte Ulrich von der Straße holen und vermittelte ihn an einen der | |
pädosexuellen Hausmeister. Doch das pädagogische Experiment scheint in | |
Ulrichs Fall längst nicht so erfolgreich gelaufen zu sein wie von Kentler | |
behauptet. Kentler habe in seinen Berichten mehrere Teenager-Lebensläufe | |
zusammengewürfelt. In Wahrheit habe es Ulrich in der Wohnung des | |
Pädosexuellen gar nicht gefallen, sagt Eschenhorn: Der Junge sei nach | |
einiger Zeit getürmt – um den sexuellen Avancen zu entgehen. | |
Das fehlt in Kentlers Erfolgsbilanzen. Hat der renommierte Forscher seine | |
Studien beschönigt, um dem Anliegen der Pädophilen zu helfen? Immerhin saß | |
er zeitweise im Kuratorium der Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft | |
Pädophilie, der DSAP. Dass Wissenschaftler sich ihre Forschungsergebnisse | |
zurechtbiegen, sei doch nicht ungewöhnlich, sagt Eschenhorn. | |
Helmut Kentler lobte die pädosexuellen Ersatzväter als stabilisierend, ja | |
geradezu ideal für die Persönlichkeitsentwicklung der Problemjugendlichen. | |
Der ältere Mann gebe „seinem jugendlichen Partner sehr viel mehr als nur | |
sexuelle Befriedigung“, schrieb er: „Der Junge reagiert darauf mit starker | |
Liebe, und um den Mann nicht zu verlieren, entwickelt er die Fähigkeit zur | |
Frustrationstoleranz und zu geistigen Leistungen.“ Begeistert stellte | |
Kentler fest: „Ich mache immer wieder – und, soweit ich nachdenke, ohne | |
Ausnahme – die Erfahrung, dass diese Jungen sehr treue Ehemänner werden, | |
dass sie gute Ehen führen und dass sie in der Zuwendung zu ihren Kindern | |
die vertrauens- und verständnisvolle Beziehung, die ihr väterlicher Freund | |
zu ihnen hatte, wiederholen.“ | |
Bei Eschenhorn klingt das anders. Doch je mehr ihm klar wird, dass er | |
Kentlers Andenken schaden könnte, desto wortkarger wird er. Der ehemalige | |
Sozialarbeiter scheint überfordert mit den Widersprüchen, die sich in der | |
eigenen Vergangenheit auftun, wenn man alles noch einmal genauer | |
betrachtet: Kann es sein, dass sein langjähriger Freund Helmut, der vielen | |
ein Lebenshelfer war, zugleich ein Schreibtischtäter war? | |
Eschenhorn berät sich mit Freunden, äußert Zweifel, die auch andere | |
Weggefährten umtreiben: Was die taz eigentlich mit dieser Recherche | |
bezwecke? Und was Ulrich ein Zeitungsartikel bringe? Das Gespräch stockt. | |
Jene, die Helmut Kentler gut kannten, mit ihm diskutierten, | |
zusammenarbeiteten oder gar die Wohnung teilten, gehören einer Bewegung an, | |
die den offenen Diskurs propagierte und alles bis ins Letzte | |
ausdiskutierte. Viele von ihnen wählten Berufe, in denen das Gespräch im | |
Zentrum steht – wurden Ärzte, Therapeuten, Sozialpädagogen. Ausgerechnet | |
sie, die das Reden als Heilmittel etabliert haben, schweigen jetzt lieber. | |
Das hat Folgen. Die Debatte bleibt einseitig, auch im Falle Kentlers. | |
Mangels Alternative werden bis heute seine Lobeshymnen auf die | |
Pflegeelternqualitäten von Pädophilen zitiert. Der Sozialpädagoge machte in | |
den Jahren nach dem Modellversuch eine akademische Karriere. Vielen gilt er | |
bis heute als mutiger Wegbereiter der Sexualpädagogik und der | |
Schwulenbewegung. | |
Auf lauter werdende Kritik von Feministinnen reagierte er Ende der | |
Neunziger entrüstet. Kentler fühlte sich falsch verstanden, schließlich | |
habe er nie Sex mit Kindern befürwortet, sondern nur über Jugendliche | |
gesprochen. Sein Modellversuch, daran hielt er fest, sei ein „voller | |
Erfolg“ gewesen. | |
RECHERCHE: BRIGITTE MARQUARDT | |
■ Nina Apin, 39, ist Redakteurin der taz Berlin | |
■ Astrid Geisler, 38, ist taz-Parlamentskorrespondentin | |
■ Brigitte Marquardt, 54, leitet das taz-Archiv | |
14 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
NINA APIN / ASTRID GEISLER | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |