| # taz.de -- Der Versuch | |
| > AUFKLÄRUNG Berlin, Ende der sechziger Jahre: Straßenkinder werden von | |
| > pädosexuellen Straftätern betreut. Ein Modellprojekt, amtlich genehmigt. | |
| > Warum störte das niemanden? Eine Erkundung | |
| VON NINA APIN UND ASTRID GEISLER | |
| Ulrich war 13 Jahre alt, abgehauen aus dem Kinderheim, Stricher am Bahnhof | |
| Zoo. Er hatte kein Zuhause, lesen und schreiben konnte er nicht. Aber sein | |
| „Vorteil war, dass er gut aussah und dass ihm Sex Spaß machte; so konnte er | |
| pädophil eingestellten Männern, die sich um ihn kümmerten, etwas | |
| zurückgeben.“ | |
| Das schreibt der renommierte Sexualwissenschaftler Helmut Kentler über den | |
| Jungen, den er Ulrich nennt, in einem Bericht über ein pädagogisches | |
| Modellprojekt, das er 1969 in Westberlin ins Leben rief. Ulrich bekam auf | |
| Kentlers Betreiben hin ein neues Zuhause: bei einem vorbestraften | |
| Pädosexuellen, mit Genehmigung der von der SPD geführten Senatsverwaltung | |
| für Jugend. | |
| Drei vorbestrafte Hausmeister wurden auf diese Weise zu offiziellen | |
| Pflegevätern gemacht und für ihre Betreuung der Minderjährigen mit | |
| staatlichem Pflegegeld entlohnt. Kentler übernahm die Supervision und | |
| machte zweimal die Woche Hausbesuche. | |
| Man kann sich das, von heute aus betrachtet, kaum vorstellen: Sex zwischen | |
| Betreuern und ihren Schutzbefohlenen – gefördert von einer Behörde. | |
| Der Berliner Fall übertrifft, was die Recherchen über pädophile | |
| Verstrickungen von Grünen und FDP bisher ans Licht brachten. Die | |
| Verantwortlichen waren linke Sozialdemokraten und nicht etwa Mitglieder der | |
| Indianerkommune – diesem hippiehaften Nürnberger Wohnprojekt, das freien | |
| Sex von Kindern mit Erwachsenen forderte. Sie setzten eine Forderung der | |
| Pädophilenlobby in die Praxis um, die damals in linksliberalen Kreisen | |
| nicht unpopulär war: die Idee, nicht nur homosexuelle, sondern auch | |
| pädosexuelle Beziehungen zu legalisieren. | |
| ## Wo, fragt man sich, blieb der große Aufschrei? | |
| Der Parteienforscher Franz Walter, der im Auftrag der Grünen derzeit deren | |
| Pädophilieverstrickungen aufarbeitet, bezeichnet Helmut Kentler, der 2008 | |
| starb, als „Schlüsselfigur“ der damaligen Debatte über die sexuelle | |
| Gleichberechtigung Homosexueller und Pädophiler. | |
| Die Feministin Alice Schwarzer griff Kentlers Idee vom einvernehmlichen | |
| Pädophilensex als eine der Ersten scharf an. Doch die gesellschaftliche | |
| Debatte kam nie über die Figur des Wissenschaftlers hinaus. Bis heute ist | |
| unklar: Wie erging es Ulrich und den anderen Jungen tatsächlich in dem | |
| Feldversuch? Und wie konnte der Senat dieses Projekt überhaupt genehmigen? | |
| Erstaunlich eigentlich, denn Kentler machte seinen Pilotversuch in den | |
| achtziger Jahren mehrfach publik: in der linken Zeitschrift konkret, dann | |
| vor FDP-Bundestagsabgeordneten, 1988 in einem von der Jugendbehörde bei ihm | |
| in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Gutachten. Ein Jahr später brachte | |
| Rowohlt Kentlers pädophilenfreundliche Thesen unter dem Titel „Leihväter“ | |
| sogar als Buch heraus. | |
| In all diesen Publikationen beschreibt Kentler sein Projekt als | |
| Erfolgsgeschichte: „Sekundärschwachsinnige“ Analphabeten hätten sich durch | |
| die zärtliche Fürsorge der Pädosexuellen zu selbstständigen | |
| Persönlichkeiten entwickelt, die ein „ordentliches, unauffälliges Leben“ | |
| führten. Ja, nicht mal schwul seien sie geworden. | |
| Dass die pädophilen Betreuer mit ihren Zöglingen Sex haben wollten, gehörte | |
| für Kentler ausdrücklich zum Konzept. „Mir war klar, dass die drei Männer | |
| vor allem darum so viel für ‚ihren‘ Jungen taten, weil sie mit ihm ein | |
| sexuelles Verhältnis hatten“, schrieb der Wissenschaftler in dem | |
| offiziellen Senatsgutachten. „Sie übten aber keinerlei Zwang auf die Jungen | |
| aus, und ich achtete bei meiner Supervision besonders darauf, dass sich die | |
| Jungen nicht unter Druck gesetzt fühlten.“ | |
| Wo, fragt man sich, blieb der große Aufschrei? | |
| 1988 – knapp zwanzig Jahre nach Beginn des Modellprojekts – erhielt Kentler | |
| von der Berliner FDP-Jugendsenatorin Cornelia Schmalz-Jacobsen den Auftrag, | |
| die Eignung Homosexueller als Pflegeeltern zu beurteilen. In seinem | |
| Gutachten, das der taz vorliegt, lieferte der Wissenschaftler unverlangt | |
| auch eine Empfehlung für Sex mit Schutzbefohlenen ab. Löste das keinen | |
| Protest beim Auftraggeber aus? | |
| Man würde zu all diesen Fragen gerne mehr wissen. Gerade jetzt, wo in | |
| Deutschland diskutiert wird, wie sehr die pädophilen Positionen damals | |
| Mainstream waren, gesellschaftsfähig – in grünen Kreisen und auch bei der | |
| taz. Und was das für unsere Gesellschaft heute bedeutet. Doch die Suche | |
| nach Antworten ist schwierig. Die FDP-Senatorin a. D. reagiert nicht auf | |
| Fragen. Die aktuelle Berliner Senatsverwaltung für Jugend erwischt die | |
| Anfrage der taz offensichtlich kalt, obwohl der Fall vor einer Woche auch | |
| Thema im Spiegel war. Man verfüge „aktuell über keinerlei Unterlagen zu den | |
| fraglichen Sachverhalten“, schreibt die Behörde – und bittet die taz | |
| höflich, „sachdienliche Hinweise beizubringen, die uns eine Klärung | |
| erleichtern“. Es sei „aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar“ wie dieses | |
| Projekt eine „wie auch immer geartete Förderung durch die für Jugend | |
| zuständige Senatsverwaltung erhalten konnte“. | |
| Helmut Kentler, Jahrgang 1928, war keine gesellschaftliche Randfigur, im | |
| Gegenteil. Der homosexuelle Diplompsychologe, politisch im linken SPD-Lager | |
| zu Hause, zählte zu den Stars der Sexualwissenschaft, war als progressiver | |
| Erziehungswissenschaftler gefragt – und galt, anders als die ausgeflippten | |
| Typen aus der Indianerkommune, nicht als Spinner. Vielleicht verschaffte | |
| genau das die Akzeptanz für seine pädophilen Ideen auch unter | |
| Bildungsbürgern. | |
| ## Ein Charismatiker aus dem Reformlabor | |
| Seine Sexratgeber begeisterten schon früh auch Bürgerliche und | |
| Intellektuelle, die den Verklemmungen der Nachkriegszeit entfliehen | |
| wollten. Als Gastautor empfahl er 1969 den Lesern der Zeit, sich doch bei | |
| der Sexualerziehung daheim lockerer zu machen. Warum, fragte er, solle ein | |
| Kind „seinen Vater immer nur ohne Sexualität wie ein griechisches Standbild | |
| kennenlernen, beispielsweise erst dann, wenn seine morgendliche Erektion | |
| abgeklungen ist?“ | |
| Zur Zeit des Modellversuchs arbeitete Kentler als Abteilungsleiter beim | |
| Pädagogischen Zentrum in Berlin, einem bundesweit beachteten Reformlabor. | |
| Ein Charismatiker, der beeindruckend reden konnte, und ein Kümmerer. Der | |
| Pädagoge nahm selbst gestrandete Jungs bei sich auf, drei von ihnen | |
| adoptierte er. Auch die evangelische Kirche schätzte ihn als progressiven | |
| Mitstreiter. | |
| Kentler lehrte am Studienzentrum für Evangelische Jugendarbeit im | |
| bayerischen Josefstal, arbeitete dort mit Behinderten und deren Familien, | |
| referierte an Evangelischen Akademien, stritt gemeinsam mit der | |
| „Ökumenischen Gemeinschaft Homosexuelle und Kirche“ für die Akzeptanz | |
| schwuler Pfarrer. | |
| Kentler war ein Pädagogik-Idol. Auch daran könnte es liegen, dass viele so | |
| reserviert auf Nachfragen reagieren. Sie wollen seinen Ruf nicht posthum | |
| schädigen. Und es scheint noch etwas Größeres auf dem Spiel zu stehen: Wer | |
| will schon dabei mithelfen, die sexuelle Befreiung, das große Vermächtnis | |
| der eigenen Generation, in Misskredit zu bringen? Ausgerechnet jetzt, wo | |
| die Pädophiliedebatte unter dem Verdacht steht, im Wahlkampf von | |
| Konservativen instrumentalisiert zu werden. Zumal ja selbst Kentlers | |
| Kritiker versichern, sie hielten ihn bis heute für „absolut integer“. | |
| Eine beliebte Gegenfrage in solchen Gesprächen lautet: Was bringt es, diese | |
| Sache ausgerechnet jetzt noch einmal zu thematisieren? Wer profitiert von | |
| so einem Zeitungsartikel? Das Thema spiele doch nur jenen in die Hände, die | |
| seit je fortschrittliche Köpfe wie Kentler diskreditieren wollten. | |
| Manchmal klingt die Sorge an, da wühlten junge Leute unbedarft in den | |
| Archiven einer Epoche, die sie nicht verstünden. Vom Erbe der 68er | |
| profitieren, aber penibel die Kollateralschäden dieser | |
| Emanzipationsbewegung analysieren – wie undankbar ist das denn? „Es war | |
| eine andere Zeit.“ Damit bricht der Dialog ab, obwohl er hier eigentlich | |
| beginnen müsste. | |
| Es war ja wirklich eine andere Zeit. Der Paragraf 175 Strafgesetzbuch | |
| stellte bis 1969 alle homosexuellen Kontakte als „Unzucht zwischen Männern“ | |
| unter Strafe. Auch danach blieb schwuler Sex für junge Männer unter 21 | |
| verboten. Homosexualität galt als „Krankheit“, alle Schwulen standen im | |
| Verdacht, sie hätten es auf kleine Jungs abgesehen. Kentler berichtete nach | |
| seinem späten Coming-out: „Bis zu meinem vierundvierzigsten Lebensjahr | |
| stand ich immer mit einem Bein im Gefängnis.“ | |
| Am Telefon wettert einer seiner Weggefährten, es widere ihn an, „wie | |
| selbstgerecht man heute über Fragen von damals redet“. Ein anderer mailt | |
| gespreizt: „Eingedenk des gegenwärtigen journalistischen Interesses“ und | |
| des „nur parteipolitischen Bezuges, der die lebensweltlichen Belange aller | |
| Betroffenen völlig ignoriert“, bitte er zunächst um einen Fragenkatalog, | |
| „um das cui bono abschätzen zu können“. | |
| So melden sich jene zu Wort, die damals, in den wilden, langen 68ern die | |
| schonungslose Aufarbeitung der Geschichte forderten. Die alles so viel | |
| besser machen wollten als die verklemmte, sprachlose Elterngeneration. Doch | |
| auch sie, Eltern jetzt und Großeltern, werden sprachlos, versuchen | |
| abzuwimmeln. Selbst langjährige Psychotherapeuten, die eigentlich an die | |
| Kraft des Redens glauben, lavieren herum, wenn das Gespräch zum Kern der | |
| Sache kommt: der Frage, wie damals eigentlich Sex zwischen Erwachsenen und | |
| Jugendlichen oder gar Kindern verhandelt wurde. | |
| Ein WG-Genosse aus Kentlers Berliner Jahren sagt am Telefon, er sei aus der | |
| gemeinsamen Wohngemeinschaft ausgezogen, weil ihn „die pädophilen Ansätze | |
| irritierten“. Der Mann spricht von „Abstinenzverletzungen“ – so nennen | |
| Psychiater unzulässige sexuelle Beziehungen zwischen Therapeuten und | |
| Patienten. Ob er damit das Verhältnis Kentlers zu seinen Zöglingen meint? | |
| Oder dessen pädagogische Experimente? Er habe keine Lust, die uralten | |
| Geschichten „im Detail noch mal aufzuwärmen“, wehrt er ab. | |
| Auch die Theologin Johanna Vogel zögert, ob sie überhaupt mit Journalisten | |
| über das Thema reden soll. Vogel, heute 80 Jahre alt, lernte Kentler Anfang | |
| der Sechziger in der evangelischen Bildungsstätte Josefstal in Oberbayern | |
| kennen. Seither verband die beiden eine enge Freundschaft. „Ich habe kaum | |
| einen anderen Menschen kennengelernt, der sich so eingesetzt hat für | |
| schwierige Jugendliche“, versichert sie. Übrigens habe Kentler damals als | |
| konservativ gegolten. Sie wirbt um Verständnis für den Modellversuch mit | |
| pädophilen Betreuern. Man müsse bedenken, dass die betroffenen Jugendlichen | |
| „mit allen Wassern gewaschen“ gewesen seien. „Glauben Sie, dass Sie so | |
| einen Jugendlichen noch einmal zu einem unschuldigen Wesen machen können?“ | |
| Mehr als 1.000 Ausreißerkinder trieben sich damals in Westberlin auf der | |
| Straße herum. Für diese „Trebegänger“ suchten damals Politiker und | |
| Pädagogen dringend innovative Unterbringungsformen. Liebevolle Pädophile | |
| sind immer noch besser als die verrufenen „Heimknäste“ – so müssen dama… | |
| einige in der linken Pädagogenszene gedacht haben. Gegen Stacheldraht, | |
| vergitterte Fenster, Drill und Prügel, die in Kinderheimen an der | |
| Tagesordnung waren, hatte sich die Anti-Heim-Kampagne formiert. | |
| Einer ihrer radikalen Vordenker war der Sozialpädagoge Manfred Kappeler, | |
| heute 73 Jahre, ein weißhaariger Herr mit Birkenstocksandalen an den Füßen, | |
| der sich in wenigen Sätzen von Adorno zu Rousseau und zurück philosophieren | |
| kann. Kaum vorstellbar, dass er sich in den Siebzigern ein jahrelanges | |
| Berufsverbot einhandelte. Die Reformpolitik des Senats ging ihm damals | |
| nicht weit genug – das machte ihn zu Kentlers Gegenspieler. Kappeler | |
| diskutierte im „Arbeitskreis kritische Heimerziehung“ mit Ulrike Meinhof, | |
| besetzte mit Ausreißerkindern ein Haus. | |
| Er analysierte in mehreren Publikationen die Vertuschung sexueller Gewalt | |
| in reformpädagogischen Einrichtungen. Er fürchtet, dass pädophile Pädagogen | |
| auch in Jugendwohngemeinschaften und linken Landkommunen ihre sexuellen | |
| Präferenzen ausgelebt haben. „Da hat nie jemand genauer hingeguckt, was | |
| dort eigentlich lief.“ Das sei nun überfällig. | |
| ## Die 68er und ihre Ausblendungen | |
| Der emeritierte Professor sitzt im Wintergarten einer Villa in | |
| Berlin-Steglitz und versucht, die Abwehrreaktionen seiner Zeitgenossen zu | |
| erklären. „Man vernebelt die Irrwege, weil sie nicht mehr zum Selbstbild | |
| passen“, sagt er und spricht von „Ausblendungen“. Die 68er verhielten sich | |
| nicht ungewöhnlich. Die nachträgliche Glorifizierung sei ja ein bekanntes | |
| Phänomen in der Geschichtsschreibung: „Alle stricken sich gerne die eigene | |
| Geschichte glatt.“ | |
| Kappeler meint das nicht entschuldigend. Er hält dieses Verhalten für einen | |
| Rückfall hinter die eigenen Standards. Das Herumgeeier von | |
| Grünen-Politikern wie Daniel Cohn-Bendit und Volker Beck in eigener Sache | |
| nennt er: „Beschämend.“ Schließlich habe das linksalternative Milieu dama… | |
| die Debatte über Pädophilie eröffnet. Warum nicht offensiv damit umgehen, | |
| gerade jetzt im Bundestagswahlkampf? Verschweigen, vertuschen, verschieben | |
| – das sei die Strategie von katholischen Internaten, aber doch bitte nicht | |
| der 68er. | |
| „Warum werden die Widersprüche nicht wahrgenommen?“, fragt Kappeler. „Wa… | |
| haben wir es nötig, uns Heldinnen und Helden zu stilisieren?“ | |
| Ja, warum? Dass Kentler mehr war als nur dieser menschlich beeindruckende | |
| Reformer, an den sich bis heute viele gerne erinnern – diese Vorstellung | |
| muss schwierig sein. Dass er auch dafür warb, Straftaten als etwas Gutes | |
| und Schönes zu denken. Beides scheint nicht zusammenzupassen. | |
| Auch die taz würdigte Kentler noch 2008 in einem Nachruf als | |
| „verdienstvollen Streiter für eine erlaubende Sexualmoral“ und hielt ihm | |
| zugute, „trotz aller Kritik“ darauf beharrt zu haben, „dass Sexualität | |
| nicht schmutzig sein müsse, auch nicht jene zwischen den Generationen“. | |
| Die Archive können kaum noch erklären, worüber Weggefährten nicht reden | |
| wollen. Denn der Pädagoge und Sexualwissenschaftler hinterließ zwar selbst | |
| viele Spuren – sein behördlich genehmigter Modellversuch mit Pädophilen | |
| aber nicht. Kentler dürfte das Projekt als Abteilungsleiter am | |
| Pädagogischen Zentrum entwickelt haben. Das Zentrum wurde 1994 aufgelöst, | |
| die Akten landeten im Container. Das Archiv des Schwulen Museums in Berlin | |
| hat immerhin Kentlers Senatsgutachten parat – mehr aber nicht. Die | |
| Spurensuche beim Landesinstitut für Schule und Medien und im APO-Archiv der | |
| Freien Universität Berlin verläuft ergebnislos. Das Berliner Landesarchiv | |
| hat viele Akten aus der damaligen Zeit noch nicht erschlossen. Die Berliner | |
| Senatsverwaltung für Jugend findet heute nach eigener Auskunft nicht mal | |
| mehr ein Organigramm des eigenen Hauses aus der Zeit des | |
| Pädophilieexperiments. | |
| Kentler selbst erwähnte in seinem Senatsgutachten, es sei ihm gelungen, | |
| „die zuständige Senatsbeamtin dafür zu gewinnen“. Wer war diese Beamtin? | |
| Mehrere Weggefährten Kentlers tippen auf Eva Nolte, 1969 eine | |
| einflussreiche Senatsmitarbeiterin, die zum linken Flügel der Verwaltung | |
| unter Jugendsenator Horst Korber, SPD, gehörte und Betriebsgenehmigungen | |
| für neue Wohnprojekte erteilte. Winkte sie auch den Pädophilenversuch | |
| durch? | |
| Nolte lebt seit Jahren in Süddeutschland. „Das könnte ich gewesen sein“, | |
| sagt sie am Telefon. „Aber daran kann ich mich nicht erinnern.“ Das Projekt | |
| sage ihr nichts. Damals, entschuldigt sie, habe es „so viele Projekte, so | |
| viele Experimente“ gegeben. | |
| Kentler selbst schrieb 1980, er könne erst jetzt über den Fall berichten, | |
| weil „die Straftaten, die alle Beteiligten begingen, inzwischen verjährt | |
| sind“. Das heißt: Sein Pädophilenversuch war kaum genehmigungsfähig. | |
| Vermutlich lief er in der Behörde offiziell unter anderem Titel. Wer vom | |
| wahren Charakter der Pflegestellen wusste, ist unklar. | |
| Dieter Kreft wurde 1971 Senatsdirektor in der Jugendbehörde – also nachdem | |
| das Projekt genehmigt worden war. Der Beamte lehnte pädophile Positionen | |
| schon damals klar ab. Als 1978 eine Abordnung der Indianerkommune beim | |
| Deutschen Jugendhilfetag das Podium stürmte, soll er sie angebrüllt haben: | |
| „Ich ficke auch gern. Aber nicht so!“ Dass in seinem Haus ein | |
| Pädophilieversuch lief, davon habe er als Senatsdirektor „nicht die | |
| leiseste Ahnung gehabt“, versichert Kreft. „So etwas hätte ich nie | |
| zugelassen. Das hätte mich elektrisiert.“ | |
| Auch politisch hätte der Fall also mit Sicherheit für Aufruhr gesorgt. Die | |
| Jugendbehörde war damals in zwei Lager gespalten – Konservative und | |
| Reformer. Zwei radikale Vordenker einer neuen Jugendpolitik waren Martin | |
| Bonhoeffer und Peter Widemann. Man hatte sie aus Göttingen für die | |
| Heimreform nach Berlin geholt. | |
| Bonhoeffer kannte aus Studienzeiten in Göttingen die Reformpädagogen | |
| Hartmut von Hentig und den späteren Leiter der Odenwaldschule, Gerold | |
| Becker. Im Missbrauchsskandal des Eliteinternats gilt Becker als einer der | |
| Haupttäter. Bonhoeffer vermittelte als hochrangiger Senatsbeamter jahrelang | |
| Berliner Jugendliche aus problematischen Familien in die Odenwaldschule. Zu | |
| dem Pädophilenversuch kann man die vielleicht interessantesten Zeitzeugen | |
| nicht mehr befragen. Bonhoeffer und Widemann sind beide tot. | |
| Nach wochenlangen Recherchen und zahllosen Gesprächen bleibt die Faktenlage | |
| dünn. Dann gibt ein ehemaliger Kollege Kentlers einen Tipp, der in das | |
| engste Umfeld des Pädagogen führt. | |
| Wolfgang Eschenhorn ist ein pensionierter Verwaltungsmitarbeiter, 66 Jahre, | |
| braun gebrannt, drahtige Statur, kurzes, silbriges Haar. Er lebte zur Zeit | |
| des Modellversuchs mit Kentler in einer Wohngemeinschaft. Jetzt sitzt | |
| Eschenhorn in Trekkingkleidung zwischen Holzskulpturen in seinem | |
| Charlottenburger Wohnzimmer. Ein leiser, bedächtiger Mann. Vor ihm dampft | |
| eine kleine Schale mit grünem Tee. Im Bücherregal stehen Kentlers Werke. | |
| Eschenhorn behauptet: Er kennt Ulrich, jenen angeblich sexbegeisterten | |
| Jugendlichen also, der damals mit Kentlers Hilfe das Pflegekind eines | |
| pädosexuellen Hausmeisters wurde. Er sei Ulrich vor etwa vierzig Jahren in | |
| der WG begegnet. Seit Helmut Kentler 1975 an die Universität nach Hannover | |
| ging, kümmere er sich um den Jungen. | |
| Ulrich heißt eigentlich anders. Und Wolfgang Eschenhorn versichert: Ulrich | |
| wolle unter keinen Umständen mit Journalisten über seine Geschichte reden. | |
| Wie sieht Ulrich heute, als Erwachsener diese Zeit? Was genau widerfuhr ihm | |
| bei dem pädosexuellen Ersatzvater? Eschenhorn stutzt. Mehr als eine Stunde | |
| lang hat er in seinen Erinnerungen gekramt, Namen und Details aus der | |
| WG-Zeit mit Kentler ausgebreitet. Nun stockt das Gespräch. | |
| Er habe mit Ulrich nie darüber geredet, sagt Eschenhorn schließlich. Ulrich | |
| verdränge bis heute, was ihm seit frühster Kindheit passierte. Er habe | |
| seine Geschichte nie aufgearbeitet, weil er die Erinnerung daran scheue. | |
| Wieso auch sollte Ulrich an die Öffentlichkeit gehen? Um als Exstricher in | |
| der Zeitung zu erscheinen, wo seine Glaubwürdigkeit, die eines Mannes mit | |
| Drogenkarriere, gegen die eines geschätzten Universitätsprofessors stehen | |
| würde? Und Eschenhorn sagt: Ulrich sei Kentler bis heute dankbar, er wolle | |
| ihn gar nicht anprangern. Kentler sei später Ulrichs Bewährungshelfer | |
| geworden und habe ihn sogar adoptieren wollen. | |
| Die Vergangenheit sieht sehr unterschiedlich aus, je nachdem, wer von ihr | |
| erzählt und vor welchem Publikum. | |
| Wolfgang Eschenhorn wirkt unsicher, ob er festhalten soll am Idealbild des | |
| gefeierten linken Vorzeigepädagogen, in dessen Wohngemeinschaft er 1969 | |
| einzog. Dabei ist das, was er über Kentlers Modellprojekt zu erzählen weiß, | |
| noch finsterer als Kentlers eigene Version. | |
| „Ulrich war damals drogenabhängig und ging um die Ecke auf den Strich. Er | |
| war noch keine 14“, sagt Eschenhorn. Die Akademiker-WG lag in nächster Nähe | |
| des Straßenstrichs am Nollendorfplatz. Der Junge sei des Öfteren | |
| unangemeldet in der Wohngemeinschaft aufgekreuzt. An eine Begegnung | |
| erinnert sich Eschenhorn genau: „Er klingelte morgens um acht. Griff in die | |
| Tasche, legte ein Bündel Geldscheine auf den Tisch und sagte: Helmut, heb | |
| das für mich auf. Ich werd eh nur beklaut.“ | |
| Kentler wollte Ulrich von der Straße holen und vermittelte ihn an einen der | |
| pädosexuellen Hausmeister. Doch das pädagogische Experiment scheint in | |
| Ulrichs Fall längst nicht so erfolgreich gelaufen zu sein wie von Kentler | |
| behauptet. Kentler habe in seinen Berichten mehrere Teenager-Lebensläufe | |
| zusammengewürfelt. In Wahrheit habe es Ulrich in der Wohnung des | |
| Pädosexuellen gar nicht gefallen, sagt Eschenhorn: Der Junge sei nach | |
| einiger Zeit getürmt – um den sexuellen Avancen zu entgehen. | |
| Das fehlt in Kentlers Erfolgsbilanzen. Hat der renommierte Forscher seine | |
| Studien beschönigt, um dem Anliegen der Pädophilen zu helfen? Immerhin saß | |
| er zeitweise im Kuratorium der Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft | |
| Pädophilie, der DSAP. Dass Wissenschaftler sich ihre Forschungsergebnisse | |
| zurechtbiegen, sei doch nicht ungewöhnlich, sagt Eschenhorn. | |
| Helmut Kentler lobte die pädosexuellen Ersatzväter als stabilisierend, ja | |
| geradezu ideal für die Persönlichkeitsentwicklung der Problemjugendlichen. | |
| Der ältere Mann gebe „seinem jugendlichen Partner sehr viel mehr als nur | |
| sexuelle Befriedigung“, schrieb er: „Der Junge reagiert darauf mit starker | |
| Liebe, und um den Mann nicht zu verlieren, entwickelt er die Fähigkeit zur | |
| Frustrationstoleranz und zu geistigen Leistungen.“ Begeistert stellte | |
| Kentler fest: „Ich mache immer wieder – und, soweit ich nachdenke, ohne | |
| Ausnahme – die Erfahrung, dass diese Jungen sehr treue Ehemänner werden, | |
| dass sie gute Ehen führen und dass sie in der Zuwendung zu ihren Kindern | |
| die vertrauens- und verständnisvolle Beziehung, die ihr väterlicher Freund | |
| zu ihnen hatte, wiederholen.“ | |
| Bei Eschenhorn klingt das anders. Doch je mehr ihm klar wird, dass er | |
| Kentlers Andenken schaden könnte, desto wortkarger wird er. Der ehemalige | |
| Sozialarbeiter scheint überfordert mit den Widersprüchen, die sich in der | |
| eigenen Vergangenheit auftun, wenn man alles noch einmal genauer | |
| betrachtet: Kann es sein, dass sein langjähriger Freund Helmut, der vielen | |
| ein Lebenshelfer war, zugleich ein Schreibtischtäter war? | |
| Eschenhorn berät sich mit Freunden, äußert Zweifel, die auch andere | |
| Weggefährten umtreiben: Was die taz eigentlich mit dieser Recherche | |
| bezwecke? Und was Ulrich ein Zeitungsartikel bringe? Das Gespräch stockt. | |
| Jene, die Helmut Kentler gut kannten, mit ihm diskutierten, | |
| zusammenarbeiteten oder gar die Wohnung teilten, gehören einer Bewegung an, | |
| die den offenen Diskurs propagierte und alles bis ins Letzte | |
| ausdiskutierte. Viele von ihnen wählten Berufe, in denen das Gespräch im | |
| Zentrum steht – wurden Ärzte, Therapeuten, Sozialpädagogen. Ausgerechnet | |
| sie, die das Reden als Heilmittel etabliert haben, schweigen jetzt lieber. | |
| Das hat Folgen. Die Debatte bleibt einseitig, auch im Falle Kentlers. | |
| Mangels Alternative werden bis heute seine Lobeshymnen auf die | |
| Pflegeelternqualitäten von Pädophilen zitiert. Der Sozialpädagoge machte in | |
| den Jahren nach dem Modellversuch eine akademische Karriere. Vielen gilt er | |
| bis heute als mutiger Wegbereiter der Sexualpädagogik und der | |
| Schwulenbewegung. | |
| Auf lauter werdende Kritik von Feministinnen reagierte er Ende der | |
| Neunziger entrüstet. Kentler fühlte sich falsch verstanden, schließlich | |
| habe er nie Sex mit Kindern befürwortet, sondern nur über Jugendliche | |
| gesprochen. Sein Modellversuch, daran hielt er fest, sei ein „voller | |
| Erfolg“ gewesen. | |
| RECHERCHE: BRIGITTE MARQUARDT | |
| ■ Nina Apin, 39, ist Redakteurin der taz Berlin | |
| ■ Astrid Geisler, 38, ist taz-Parlamentskorrespondentin | |
| ■ Brigitte Marquardt, 54, leitet das taz-Archiv | |
| 14 Sep 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| NINA APIN / ASTRID GEISLER | |
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