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# taz.de -- „Ich habe keine Angst vor meiner Angst“
> EUROPA Nicht nur über Lampedusa versuchen afrikanische Flüchtlinge den
> Kontinent zu erreichen. Tresor aus Kamerun plant die gefährliche
> Überfahrt von Marokko nach Spanien
AUS TANGER UND MELILLA CHRISTIAN JAKOB (TEXT) UND JULIAN RÖDER (FOTOS)
Die Straße von Gibraltar misst 14 Kilometer an der schmalsten Stelle. Doch
Strömung und Winde sind stark. Mehr als einen Kilometer pro Stunde kommt
man in einem Schlauchboot nicht voran. Beim letzten Mal hat er sich die
Hände am Paddel aufgescheuert, jetzt hat er sich dünne
Bauarbeiterhandschuhe besorgt. „Ich mache das nicht wie die anderen, ich
gehe es professionell an“, sagt Tresor. Alle Infos über
Strömungsverhältnisse, das Einsatzgebiet der spanischen Guardia Civil, die
verschiedenen Materialien von Schlauchbooten hat er gesammelt, Kondome
gekauft, in die er Handy und Geld einwickelt gegen Salz und Wasser, sich
Tidenkalender und Telefonnummern in Europa beschafft.
In seinem Pass steht der Name Ndjeyig Marius, aber das interessiert hier in
Boukhalef keinen. Es ist ein Neubauviertel im Osten der marokkanischen
Hafenstadt Tanger, Tausende Wohnungen in verzierten weißen Häuserblöcken.
Doch bevor diese an einheimische Mittelschichtsfamilien vermietet werden
konnten, siedelten sich in Marokko festsitzende Transitmigranten, aus
Guinea, Kamerun, dem Senegal, Nigeria oder Kongo, in den teils unfertigen
Häusern an. Bleiben, das will keiner von ihnen.
Tresor war das letzte Mal am Montag auf dem Meer, die Gendarmerie stoppte
ihr Schlauchboot, er zeigt verwackelte Handyfotos aus dem Gefängnis. Er ist
30 Jahre alt, Kamerun verließ er 2006, an Europa dachte er damals nicht.
Stattdessen wollte er in Algerien einen Betriebswirtschaft-Master machen.
Erst ging alles gut, doch 2008 kam er wegen illegalen Aufenthalts ins
Gefängnis, die Algerier schoben ihn nach Mali ab. Zwei Jahre hing er dort
fest, dann ging er nach Tunesien, versuchte vergeblich einen Platz in einem
Boot nach Lampedusa zu ergattern. Seit Januar ist er in Marokko, bis Ende
August lebte er in einem Wald vor der spanischen Exklave Melilla. „Die
Hölle“, wie er sagt, der Weg über den Zaun zu gefährlich. Zurück nach
Kamerun will er nicht und so kam er nach Boukhalef.
## Die Chance: das dreitägige Opferfest
Das Ghetto Boukhalef ist der Wartesaal Europas, doch jetzt soll es
weitergehen. Am nächsten Tag, einem Mittwoch, beginnt Eid al-Adha, das
dreitägige islamische Opferfest. „Morgen um zehn Uhr töten die
marokkanischen Familien eine Ziege“, sagt Tresor und deutet mit der Hand
einen Schnitt durch die Kehle an. Es ist wie der Heilige Abend in
Deutschland, alle sind bei ihren Familien, und zwar, das hoffen die
Flüchtlinge in Boukhalef, auch die Gendarmen, die sonst die Küste bewachen.
„Hunderte wollen dann losfahren“, sagt Tresor.
In weißem T-Shirt, kurzer Hose in Tarnfarben und einer olivgrünen
Strumpfhose sitzt er in einer Zweizimmerwohnung im vierten Stock. Ein paar
graue Schaumstoffmatratzen, eine Lampe, eine Steckdosenleiste mit noch mehr
Steckdosenleisten, an denen Handys hängen. Neun Menschen teilen sich die
Wohnung, alle hier haben mehrere Versuche der Überfahrt hinter sich. Martin
aus Kamerun versuchte es in diesem Monat fünf Mal, die schwangere Joylene
mit ihrem Mann Colins, die ihre beiden Kinder bei den Großeltern in Kamerun
zurückgelassen haben, 15 Mal in den letzten zwei Jahren, sagen sie.
Viele hier sprechen fließend Englisch und Französisch, haben eine
Ausbildung oder studiert. Die Hoffnung auf sozialen Aufstieg, auf den
Eingang in die wachsenden Mittelschichten der subsaharischen Staaten, haben
sie trotzdem aufgegeben. Ihm gehe es auch „um Freiheit“, sagt Tresor. „In
Afrika kannst du nicht sagen, was du willst, dich kann jemand angreifen,
bestehlen oder töten. Keiner setzt deine Rechte durch. In Europa werden
deine Rechte respektiert.“
Doch bislang stoppte die Armee mit ihren Radarstationen, Wärmebildkameras,
Schnellbooten und Nachtsichtgeräten sie jedes Mal. Die Flüchtlinge fürchten
die unberechenbare Gewalt der Soldaten. Am Montag, bei ihrem letzten
Versuch, haben die Soldaten Celine, einer jungen Kamerunerin mit kurzen
blondgefärbten Locken, mit einem Messer eine tiefe Schnittwunde am Arm
zugefügt, ihrem Bruder schlugen sie derart auf den Schädel, dass sie
fürchteten, er verblute. Kürzlich sei ein Senegalese ertrunken, den die
Armee auf dem Meer verprügelt habe, sagen sie. „Aber sie misshandeln uns
nicht nur“, sagt Joylene. „Sie nehmen uns auch das Material weg.“
Tresor holt zwei große Pakete aus dem Nebenraum. Ein grünes Schlauchboot,
„hier fahren zehn Leute mit“, die Gruppe hat Geld zusammengelegt; eine
Pumpe, in schwarze Folie eingewickelte Paddel, Schwimmwesten. Ein paar der
Männer ziehen sie an, nehmen dazu eine Bibel in die Hand und posieren
voreinander. „Die Westen sind nicht gut, sie sind nach 24 Stunden voller
Wasser“, sagt Tresor, in einer anderen Tüte sind kleine schwarze
Gummireifen, er bläst einen davon auf und zieht ihn sich unter die Arme,
damit will er sich vor dem Ertrinken schützen.
Die Flüchtlinge kalkulieren knapp. Pro Kilo Nutzlast kosten die Boote etwa
einen Euro, deswegen wird je 40 Kilo Nutzlast ein Passagier eingeladen,
obwohl er mit Gepäck gut das Doppelte wiegt. So bleiben die Kosten für
Boot, Paddel, Schwimmweste und das Ticket an den Strand bei gut 100 Euro.
Das ist ein Bruchteil dessen, was Schlepper für eine Überfahrt etwa in der
zentralen Mittelmeerregion verlangen. Doch diese Summe immer wieder
aufzubringen überfordert fast jeden hier.
„Wir müssen was gegen den Stress machen. Runterkommen“, sagt Tresor. Die
Gruppe geht ein paar Häuser weiter, es ist eine Art illegale Wohnzimmerbar.
Senegalesischer Elektropop ist voll aufgedreht. Knapp 20 Männer, vier
Frauen sitzen herum. Alle sind betrunken. Die Stimmung ist aufgeregt, die
Ersten wollen schon in wenigen Stunden aufbrechen. Der Barmann holt zwei
Literflaschen Gin, Coca-Cola, Eiswasser und Plastikbecher. Tresor läuft mit
der Ginflasche herum, lässt alle Anwesenden mit der flachen Hand auf den
Deckel klopfen, es soll Glück bringen. Irgendwer sagt: „Auf die letzte
Nacht in Afrika“, sie prosten sich zu, bis jemand „Ratissage“ ruft. Razzi…
Alle rennen die Treppe rauf, hoch auf das Dach.
„Sie verprügeln uns, sie schlagen alles kaputt oder nehmen mit, was sie
gebrauchen können“, sagt Tresor. Er steht auf dem Dach, alle reden
durcheinander und schauen herab, versuchen, Polizisten zu erspähen, doch es
sind keine in Sicht. Fehlalarm. Trotzdem verbringen sie die ganze Nacht auf
dem Dach.
Die letzte Razzia am 10. Oktober überlebten nicht alle. Der Senegalese
Moussa Seck, 29, flüchtete sich auf das Dach, die Polizisten verfolgten
ihn, Seck stürzte hinab und starb. Am 24. Juli verprügelten Polizisten in
Tanger den 39-jährigen Kongolesen Toussaint-Alex Mianzoukouta, bis er ins
Koma fiel und nach drei Tagen starb.
Die Todesfälle seien „symptomatisch“ für die staatliche Gewalt gegen
MigrantInnen, sagt Helena Maleno von der spanischen NGO Caminando
Fronteras. „Der Druck ist enorm.“ Seit elf Jahren lebt die Juristin in
Tanger und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen. In den letzten Monaten
habe die Polizei eine härtere Linie eingeschlagen. Maleno berichtet von
Razzien in den frühen Morgenstunden, die Polizei stehle und zerstöre das
Eigentum der Flüchtlinge, verprügele sie und nehme ihnen die Pässe ab. „In
Tanger ist jetzt die Anzeige einer jungen Frau aus der Elfenbeinküste
anhängig. Sie sagt, dass Polizisten sie im Gefängnis vergewaltigt haben.“
Die Marokkaner sprechen von „Clandestins“, Illegalen, doch die Angehörigen
vieler afrikanischer Staaten brauchen kein Visum, ihr Aufenthalt in dem
maghrebinischen Königreich ist legal. Illegal ist nur die Einreise nach
Spanien. 2005 versuchten Tausende Subsaharis die Zäune zur spanischen
Enklave Melilla zu stürmen, es gab Tote. Seitdem nimmt Spanien Marokko in
die Pflicht, die Flüchtlinge aufzuhalten. „Spanien hat seinen Grenzschutz
ausgelagert, und dafür fließen jedes Jahr Millionen von Euro hierher“, sagt
Maleno.
Obwohl Marokko und Spanien die einzige Landgrenze der EU mit Afrika
verbindet und die Straße von Gibraltar vergleichsweise leicht zu
durchqueren ist, zählte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2012 etwa 6.400
illegale Grenzübertritte zwischen den Ländern – etwa zehn Prozent aller
irregulären Einreisen in die EU. Allein seit Anfang August hat Malenos
Initiative, die mit den Rettungsdiensten und staatlichen Stellen
kooperiert, mindestens 30 Menschen gezählt, die in der Straße von Gibraltar
ertrunken sind, und fünf, die bei dem Versuch starben, die Zäune um Melilla
zu überklettern, seit Anfang 2012 waren es 41.
Ist es der Versuch trotzdem wert? „Ja“, sagt Tresor. Hat er keine Angst?
„Doch. Aber ich habe keine Angst vor meiner Angst.“ Um acht Uhr soll es
losgehen, die Fahrer sind bestellt, „Motormafia“ nennen die Afrikaner sie,
eher im Scherz. Auf Druck der EU hat Marokko die Schleppergesetze
verschärft, Fluchthelfern drohen bis zu zehn Jahre Haft. Die letzten
Kilometer zum Strand sind deshalb teuer: umgerechnet 300 Euro für eine
Gruppe von sieben Personen. Ein mafiöses Geschäft? „Nein“, sagt Colins, er
gehört zu Tresors Gruppe. „Der Preis ist fix, so kalkulieren sie ihr
Risiko.“
## Polizei und Armee sind doch unterwegs
Am Morgen telefonieren alle im Raum mit Freunden, die schon in der Nacht in
Richtung Strand gestartet sind. Der Empfang ist schlecht, sie drängen sich
am Fenster, lehnen sich mit den Handy am Ohr hinaus. Die Nachrichten sind
nicht gut. Doch viel Polizei auf den Straßen, heißt es. Stunde um Stunde
verzögern sie ihren Aufbruch. „Wir können es nicht riskieren, wir haben
kein Geld mehr, wir dürfen das Material nicht verlieren“, sagt Tresor. Es
kann dauern, die Stimmung ist miserabel bis angespannt. Auch wenn der Islam
in Marokko moderat ausgelegt wird, scheint das Opferfest allen heilig: Kein
Geschäft ist geöffnet, kaum ein Mensch ist auf der Straße.
Doch es gibt Ausnahmen. Graue Geländewagen von Armee und Polizei stehen
alle paar Kilometer quer über der Nationalstraße 16 an der Küste zwischen
Tanger und der spanischen Exklave Ceuta, die Beamten prüfen, wer in den
vorbeifahrenden Autos sitzt. Auf Kilometer 9 läuft eine Gruppe von
Kongolesen, die vom Strand zurückkehrt. Sie war mit Freunden unterwegs,
doch die sind entweder verhaftet oder auf dem Meer, sagen sie.
Den ganzen Mittwoch und ganzen Donnerstag verhaftet die Polizei an den
Stränden rund um Tanger Migranten. Bei Kilometer 27, über dem Strand von
Oued Alian, steht eine heruntergekommene kleine Polizeistation auf einem
Hügel über der Küste. Dort stehen 50 gefangene Subsaharis hinter zwei
weißen Bussen, ein paar Soldaten bewachen sie, sie rufen: „keine Fotos“.
Nach einiger Zeit erklären sie, die Afrikaner hätten versucht, das Meer zu
überqueren, das sei illegal, nun kämen sie zum Verhör in das Kommissariat.
Und dann? Keine Auskunft. „Hey, kommt her, habt ihr Angst vor uns?“, ruft
einer der Festgenommenen, andere rufen etwas von
Menschenrechtsverletzungen, nach rund zwanzig Minuten müssen sie die Busse
besteigen, der Einsatzleiter setzt sich mit einem großen Stapel roter Pässe
in der Hand in sein Auto und fährt hinterher.
Zur selben Zeit, etwa 30 Kilometer weiter östlich, wird Helena Maleno
Augenzeugin, wie etwa 300 Migranten versuchen, vom marokkanischen Findeq
aus schwimmend die spanischen Nachbarstadt Ceuta zu erreichen; wie der
Präfekt von Ceuta später erklärt, einer der bisher größten Versuche dieser
Art. In der Vergangenheit hatten die Migranten immer wieder Glück. Heute
nicht: Alle werden von der marokkanischen Gendarmerie aufgehalten, es gibt
etliche Verletzte. „Die Polizei hat alle in die Gefängnisse von Tetouan und
Tanger gebracht, auch die Verletzten“, sagt Maleno. Zwei Stunden zuvor war
eine Gruppe von elf Kamerunern in Tanger mit einem Schlauchboot gestartet,
sie melden sich später bei Freunden in Boukhalef und berichten, die
Küstenwache habe sie derart rabiat gestoppt, dass ihr Boot kenterte und ein
Baby ertrank.
Die Zentrale der Küstenwache liegt im Altstadthafen von Tanger. Seit
Mittwochvormittag ist zu beobachten, wie Busse die Migranten anliefern und
wieder abtransportieren. Die große Zelle direkt neben dem Eingangsraum ist
voll mit Aufgegriffenen, die hinter dicken Gitterstäben stehen. Ein paar
der Männer aus der Wohnzimmerbar aus Boukhalef sind unter den Gefangenen.
Der Kommandant heißt Hicham, seinen Nachnamen will er nicht sagen und auch
sonst nichts. Auch ein Schreiben des marokkanischen Außenministeriums hilft
nicht weiter. Was mit den Gefangenen geschieht, unter welchen Bedingungen
sie abtransportiert werden, was ist mit den Schilderungen über die
Misshandlungen, den Todesfall, die Verletzten, die Passdiebstähle? Kein
Kommentar.
Nach Stunden lässt sich Kommandant Hicham dann doch hinreißen. „Es sind
keine Gefangenen, wir verhören sie nur. Wir bringen sie in die
marokkanischen Städte, aus denen sie gekommen sind. Keine Abschiebung“,
behauptet er. Später ruft einer der Gefangenen seine Freunde in Boukhalef
an. Sie sind auf dem Weg nach Oujda, der Grenzstadt zu Algerien, wohin
Marokko alle subsaharischen MigrantInnen abschiebt.
Gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP erklärte das
Innenministerium in Rabat am Freitagmorgen, dass während der ersten beiden
Tage des Opferfestes etwa 700 Migranten rund um Tanger bei dem Versuch
verhaftet wurden, nach Spanien zu gelangen. Die spanische Küstenwache
berichtet, im selben Zeitraum 50 Migranten in spanischen Gewässern
aufgegriffen und an Land gebracht zu haben.
Einige von ihnen melden sich am Abend in Boukhalef. Sie waren in einer
Gruppe von acht in einem Boot und haben es sicher bis nach Algeciras in
Andalusien geschafft. Die Nachricht macht sofort die Runde.
## Das Boot im Wald, nahe am Meer
Am Abend sitzt die Gruppe um Tresor noch immer in ihrem Appartement, ihr
Schlauchboot immer noch in der Decke eingewickelt. Colins lässt sich von
einem Freund den Schriftzug „I love Jesus“ auf dem Unterarm tätowieren, die
einzige freie Stelle ist neben einem schon eintätowierten Frauennamen, so
dass das „Jesus“ in der zweiten Zeile etwas untergeht.
Die ganzen letzten Tage haben sie telefoniert, die Nachrichten über die
Polizeieinsätze verfolgt. Nicht alle Marokkaner haben Schafe gegrillt. „Es
war zu viel Armee, zu viel Polizei, Verhaftungen“, sagt Tresor.
Am nächsten Tag verstecken er und seine Freunde ihr Boot in einem Wäldchen
nahe am Meer. Ein kleiner Schritt. Er will nicht mehr lange warten.
■ Christian Jakob, 34, ist froh, dass er mit der Fähre nach Spanien
zurückfahren konnte
■ Julian Röder, 32, ist müde vom Ruf des Muezzins
19 Oct 2013
## AUTOREN
CHRISTIAN JAKOB
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