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# taz.de -- „Europa ist nicht vorbereitet“
> VERBRECHENSBEKÄMPFUNG Der bekannte Mafia-Ermittler Nicola Gratteri im
> Gespräch über träge Politiker und wendige Mafiosi
INTERVIEW AMBROS WAIBEL
taz: Herr Gratteri, ist die Mafia im Wesentlichen ein süditalienisches
Problem?
Nicola Gratteri: Nein, das zu glauben, ist Ignoranz. Man unterschätzt das
Problem. Denn das Problem Mafia betrifft die gesamte westliche Welt. Die
Mafien sind globalisiert, wie es die Konsumgewohnheiten oder Geschmäcker
sind. Die Camorra, die Cosa Nostra, die Sacra Corona Unita und die
’Ndrangheta sind wie multinationale Konzerne, die ja auch wollen, dass ihre
Produkte überall gekauft werden. Sie besetzen alle Plätze, die Ökonomie und
Gesellschaft ihnen einräumen.
Und das betrifft auch Europa?
Das betrifft vor allem Europa, weil Europa überhaupt nicht vorbereitet ist,
mit einer geeigneten Gesetzgebung die Mafia zu attackieren.
Obwohl geschätzte 42 Milliarden Euro Jahresumsatz allein der ’Ndrangheta ja
nun keine Kleinigkeit sind.
Überhaupt nicht. Aber die Politik bewegt sich immer erst, wenn das Problem
auf Seite 1 der wichtigen Zeitungen rückt.
Wie bei den Morden von Duisburg?
Immer wenn es etwas Sichtbares gibt, was die Gesellschaft beunruhigt. Aber
wenn ich Geld wasche oder investiere, präsentiere ich mich als Unternehmer,
ich mache nichts schmutzig und ich stinke nicht, ich mache keinen Lärm. Ich
bringe frisches Geld, kaufe eine Pizzeria, ein Hotel – auch wenn das Geld
aus dem Kokainhandel kommt. Aber das ist kein Problem für die Politik. Die
greift nur ein, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt. Denn ihr geht
es um die Zustimmung der Öffentlichkeit.
Wie ist es denn um diese Öffentlichkeit hier in Kalabrien bestellt, im
Heimatland der ’Ndrangheta, mit der sie sich als ermittelnder Staatsanwalt
vor allem beschäftigen?
Es gibt hier natürlich eine große Aufmerksamkeit. Aber Kalabrien spielt in
der italienischen Politik nur eine marginale Rolle. Wir sind zwei
Millionen, ein Viertel von Rom oder der Metropolregion Mailand.
Dementsprechend gering ist der Einfluss unserer Politiker – soweit sie
nicht ohnehin für die ’Ndrangheta arbeiten. Es gibt nicht viele ehrliche
Politiker.
Und die Kalabresen selbst?
Die Kalabresen sind grundlegend desillusioniert. Es ist ein Volk, das immer
nur benutzt wurde. Man hat von politischer Seite ganz bewusst uns immer in
Abhängigkeit gelassen. Eine Politik auf der Basis der Zuwendungen, nicht
der Freiheit. Da ist immer die Rede von großen Projekten wie der Brücke
nach Sizilien, von Revolutionen in der öffentlichen Verwaltung, der
Infrastruktur und so weiter. Man schafft aber keine realen Arbeitsplätze,
keine Industrie, sondern sorgt für Scheinbeschäftigung, etwa in der
Forstverwaltung, die dann wieder Angehörigen der Mafia als Tarnung dienen
für ihre eigentlichen Geschäfte. Die sind dann als Arbeiter zur Waldpflege
und Brandbekämpfung gemeldet, in Wirklichkeit verkaufen sie Kokain in
Deutschland. Was diese Politik angeht, ist es eher schlechter geworden als
besser.
Wie ändert man das – von oben oder von unten?
Von beiden Seiten. Auch wenn der beste italienische Manager, Sergio
Marchionne von Fiat, nach Kalabrien käme, könnte er nichts machen. Die
Politik braucht ein starkes Justizsystem, sie kann nur in einem sicheren
Umfeld erfolgreich agieren. Auf der zivilgesellschaftlichen Seite gibt es
viele Initiativen. Ideen, die oft nur so lange leben, wie das Geld fließt,
das ein Politiker gibt, um sich zu profilieren – bis er wieder abgewählt
wird. Das Problem ist auch, dass es so schwierig ist, mit den Entwicklungen
der ’Ndrangheta Schritt zu halten. Denn die bewegt sich so schnell wie die
Gesellschaft selbst, sie ist innerhalb der Gesellschaft und da muss sie
auch sein. Sie ist nicht der Antistaat. Sie kann sich nicht erlauben,
draußen zu stehen.
Welche Rolle spielt die Staatsanwaltschaft?
Theoretisch wendet sie schlicht die Gesetze an. Aber wir beklagen uns, weil
wir kein starkes System zur Verfügung haben. Es gibt auch bei uns
Korruption, aber im Vergleich sind wir ziemlich sauber. Die meisten tun,
was sie können, aber das System ist schlecht.
Dabei gibt es in Italien die strengsten Antimafiagesetze der Welt.
Stimmt, aber wir sind auch das einzige Land mit vier Mafien. Wir sind
Marktführer beim Import von Kokain in Europa. Die Mafia ist in allen
Wirtschaftsbereichen tätig. Es reicht einfach nicht.
Was wären denn ernst zu nehmende Maßnahmen?
Wenn in einem Prozess festgestellt wird, dass ein Unternehmer seinen
Giftmüll mithilfe der Mafia illegal entsorgt und damit das Leben tausender
Menschen gefährdet hat, soll man ihn zu dreißig Jahren verurteilen können.
In einem isolierten Gefängnis auf einer Insel, wie wir sie in Italien
leider nicht mehr haben. Danach würden die Unternehmer aus dem Norden, die
ihr Gift im Süden billig entsorgen lassen, sich das dreimal überlegen. In
unserer Welt bekommt er eine Geldstrafe von 2 Millionen und kauft sich
deswegen eine kleinere Yacht. Man müsste ganz anders an die Dinge
herangehn. Es darf sich einfach nicht mehr lohnen, Mafioso zu sein.
Das Problem ist, dass die Mafiabosse verurteilt werden, aber nicht die
Unternehmer?
Auch für die Mafiabosse sind die Strafen zu gering. Dank der generösen
Strafreduzierung gibt es eine Menge Möglichkeiten, hohe Strafen im Lauf der
Zeit zu drücken. Wenn einer die Tat eingesteht, bekommt er von Anfang an
Strafnachlass; wenn er sich gut führt, werden ihm jedes Jahr drei Monate
erlassen. Dann kommt der offene Vollzug und er geht offiziell arbeiten –
was er in seinem ganzen Leben nicht gemacht hat. In Wahrheit heuert er bei
einem Strohmann der Mafia an.
Ändert sich was daran unter der gegenwärtigen Regierung?
Dieses Jahr wird entscheidend sein. Die Regierung plant drei Maßnahmen, vor
allem den „verkürzten Prozess“. Wenn der durchgeht, dann ist das das Ende
der Anti-Mafia, also der systematischen Mafiabekämpfung. Aber der Kampf
findet mitten in der Regierungskoalition von Berlusconi statt.
Gibt es auch was Gutes?
Eine sehr ernsthafte Sache ist das Gesetz, das es erlaubt, Mafiagüter
einfacher und schneller zu beschlagnahmen, sowie die Eindämmung von Deals
zwischen Anwalt und Gericht. Der Rest ist für die Medien, ohne Substanz.
Die Tatsache etwa, dass die neue Nationale Agentur zur Verwaltung
beschlagnahmter Mafiagüter ihren Sitz in Reggio Calabria hat, ändert per se
gar nichts, außer dass in der Stadt ein paar Kaffee und ein paar
Mittagessen mehr verkauft werden. Und mal eben 200 Polizisten einzustellen,
ist auch sinnlos, wenn tausende Stellen gar nicht mehr ausgeschrieben
werden.
Und international? Hat das Massaker von Duisburg etwas geändert?
Es hat dazu geführt, dass sich die deutsche und die italienische Polizei
etwas mehr für die Aktivitäten der ’Ndrangheta in Deutschland interessieren
mussten. Aber konkret hat Deutschland nichts gemacht. Wenn unter den sechs
Toten auch zwei Deutsche gewesen wären, hätten sich der Gesetzgeber und das
Justizsystem vielleicht bewegt. Ich fahre seit zehn Jahren nach
Deutschland, ich kenne mich inzwischen aus. Man hat es einfach nicht als
deutsches Problem gesehen. Aber in Deutschland gibt es einen
Organisationsgrad der ’Ndrangheta genau wie in Belgien, wie in der Schweiz
oder in Spanien. Genau wie hier in Reggio. Aber wenn europäische Ermittler
das Wort „locale“ hören, dann denken sie an ein Restaurant. In Wirklichkeit
ist ein „locale“ aber eine Ortsgruppe der ’Ndrangheta. Also: Europa ist im
Jahr null im Kampf gegen die Mafia.
Noch mal: Warum ist das so?
Keine europäische Regierung will ein starkes Justizsystem. Ich kann mir das
nur so erklären, dass sie das Geld der Mafien nicht dem
Wirtschaftskreislauf entziehen wollen. Sie wollen nicht darauf verzichten.
28 May 2010
## AUTOREN
AMBROS WAIBEL
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