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# taz.de -- Meister der Destruktive
> Das hässliche Entlein des Viertelfinales: Die Ukraine wird nicht geliebt,
> wurde schon längst totgesagt und hat dennoch Chancen, Italien zu schlagen
> – trotz eines bisher schwachen Andrej Schewtschenko
AUS POTSDAM BERND MÜLLENDER
Die Ukraine also. Der überraschendste Viertelfinalist. Und keine
Mannschaft, die man automatisch mag. Sie sorgt für keinen reflexhaften
Exotenbonus wie all die afrikanischen Mannschaften mit ihrer Hingabe und
ihren taktischen Mängeln (Togo), ihrer Schussschwäche (Angola) und
Defensiv-Naivität (Elfenbeinküste), trotz manchmal brutaler Härte (Ghana).
Die Ukraine hat auch kaum Fans dabei. Und die Ukraine spielt keinen
modernen Fußball, sondern liefert nur hölzerne Leidenschaft, diese aber
gut: Es ist eine gekonnte Destruktive.
Aber immerhin er ist dabei: Andrej Schewtschenko, 29, genannt Schewa. Der
bohemianische Star des AC Mailand, ab der nächsten Saison bei Chelsea
London unter Vertrag und Kapitän der Elf. Der stimmt den Klageliedern über
sein Team leidenschaftslos zu: „Wir sind keine kreative Mannschaft, keine
Elf schöner Aktionen. Wir leben von Entschlossenheit, Aufopferung,
Kampfkraft.“ Die alten Tugenden also.
Viele hatten geglaubt, Schewtschenko könnte einer der großen Stars dieser
WM werden, falls seine minderbemittelte Mannschaft es weit schafft. Das
heutige Viertelfinale gegen Italien, das ist durchaus weit. Chancen haben
sie gegen die favorisierten Defensivkollegen durchaus. Trotz Schewtschenko.
Denn es war bislang nicht sein Turnier. Untergetaucht beim blamablen 0:4
gegen Spanien (die, so geht das, längst ausgeschieden sind), dann ein Tor
beim lockeren 4:0 gegen die saudischen Überfußballer und eines per Elfmeter
gegen Tunesien (1:0). Dann kam die Nullnummer im Achtelfinale gegen die
Schweiz. Und der große Schewa war maßgeblich am unterirdischsten WM-Spiel
dieses Turniers beteiligt.
Er tat fast nichts. Er trabte herum. Schewa, die Diva. Konsequent
verweigerte er sich jeder auch nur alibihaften Defensivarbeit. Die
Strichliste stellte ihm am Ende ein schreckliches Zeugnis aus. Verpatzte
Dribblings: 10. Krasse Missverständnisse mit seinen Mitspielern: 5. Leichte
Fehlpässe: 5. Auffälliges Meckern und Anmaulen seiner Mitspieler: 7.
Giftiges Aufblitzen seiner unruhigen braunen Äuglein: oft. Verweigerte
Zweikämpfe: viele. Gelungene Sicherheitspässe: immerhin einige. Ein
Kopfballwischer aus dem Gefühl tropfte gegen die Latte, einmal ging ein
Fernschuss knapp vorbei, aber zuvor hatte er die Hand zu Hilfe genommen.
Dann vergab Schewtschenko seinen Strafstoß im Elfmeterschießen. Trotzdem
sagt sein Trainer Oleg Blochin: „Schewa ist unser leader of the game. Ich
glaube an ihn.“
Er sagt das sehr zu Recht. Denn Schewtschenko ist ein Phantom. Er spielt
gespenstisch schlecht, aber er bleibt ein Strafraum-Gespenst, ein
durchtriebener Chancendieb. Gib ihm keine Chance, und er wird sie eiskalt
nutzen dank seiner feinen technischen Potenziale und seiner Instinkte. Und
weil das alle wissen, haben sie Angst vor Europas Fußballer des Jahres
2004, zumindest höchsten Respekt. Angst macht vorsichtig. Insofern ist
selbst die tatenlose Existenz Schewtschenkos am anderen Strafraum wie ein
zusätzlicher Verteidiger im eigenen.
Besonders die Italiener, die gerade ihre Liebe zum alten Catennaccio
wiederentdecken (Fabio Cannavaro: „Verteidigen ist keine Sünde.“) wissen um
Schewtschenkos 127 Tore in der Serie A (208 Spiele). Schade nur, dass
Schewtschenko vermutlich seinen Sturmpartner Andrej Woronin (Ersatzbank
Bayer Leverkusen, verletzt) vermissen wird: Der Powerverdribbler und
ausgewiesene Chancenmeuchler ist das glatte Gegenteil zu Schewa, ein
Weltmeister der Unermüdlichkeit. Es wird ein anderer nachrücken,
wahrscheinlich Sergej Rebrow, Schewas alter Kumpel aus Kiew.
Gegen die Schweiz standen am Ende sieben Spieler von Dynamo Kiew auf dem
Platz, der erstaunliche Beleg, dass auch mit Personal aus fußballerischen
Drittweltligen Erfolge möglich sind. Schewtschenko sagt: „Niemand erwartet,
dass wir gewinnen. Aller Druck liegt bei Italien.“ Und: „Es ist sehr
unangenehm, gegen uns zu spielen.“ Das haben, außer Spanien, alle zu spüren
bekommen. Mittlerweile ist der ungeliebte Außenseiter Ukraine seit über
fünf Stunden ohne Gegentor.
30 Jun 2006
## AUTOREN
BERND MÜLLENDER
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