# taz.de -- Kotzen ist Menschenrecht | |
> Europäischer Gerichtshof verurteilt Deutschland wegen Brechmitteleinsatz. | |
> Ein Drogenkurier bekommt Schadenersatz | |
von CHRISTIAN RATH | |
Der Einsatz von Brechmitteln gegen Kleindealer verstößt gegen die | |
Europäische Menschenrechtskonvention. Deutschland wurde deshalb gestern vom | |
Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Der | |
Brechmitteleinsatz sei eine „inhumane und erniedrigende Behandlung“, | |
entschieden die Richter mit 10 zu 6 Stimmen. Wenn der Staat auf diese Weise | |
gewonnene Beweismittel im Strafprozess verwendet, verstoße dies gegen das | |
Recht auf ein faires Verfahren. Die Bundesrepublik muss dem Kläger Abu | |
Bakah Jalloh jetzt 10.000 Euro Schmerzensgeld bezahlen. | |
Jalloh ist ein 41-jähriger Mann aus Sierra Leone, der 1993 in Wuppertal von | |
Zivilpolizisten beim Dealen erwischt wurde. Sie sahen, wie der Mann zwei | |
Päckchen aus dem Mund nahm und Süchtigen verkaufte. Als sie Jalloh | |
festnehmen wollten, schluckte er ein weiteres Päckchen. Die Polizisten | |
brachten ihn deshalb ins Krankenhaus von Wuppertal-Elberfeld, wo ihm | |
zwangsweise Brechmittel verabreicht wurden. | |
Vier Beamte hielten Jalloh dabei nieder, während ihm der Arzt durch die | |
Nase einen Schlauch einführte. So wurde ihm eine Salzlösung und Sirup aus | |
der Brechwurzel (siehe Kasten) in den Magen gepumpt. Als weiteres | |
Brechmittel injizierte ihm der Mediziner ein morphinartiges Medikament. Als | |
Jalloh sich erbrach, kam ein Päckchen mit 0,2 Gramm Kokain zum Vorschein. | |
Der Afrikaner wurde daraufhin wegen Drogenhandels zu einer Bewährungsstrafe | |
von einem Jahr verurteilt. | |
Die Verwendung von Brechmitteln gegen Kleindealer, die Drogenpäckchen oder | |
-kügelchen verschlucken, ist in mehreren deutschen Bundesländern üblich. An | |
vorderster Stelle waren dabei Bremen und Hamburg (siehe unten). Nach dem | |
gestrigen Urteil müssen die Länder ihre Praxis sofort einstellen, sonst | |
werden auch sie in Straßburg verurteilt. Gesetzesänderungen sind nicht | |
erforderlich, da der Brechmitteleinsatz nirgends ausdrücklich gesetzlich | |
geregelt ist. | |
Dass der Fall grundsätzliche Bedeutung hat, war den Richtern in Straßburg | |
sofort klar, denn der Fall wurde direkt an die höchste Straßburger Instanz, | |
die große Kammer, verwiesen. Rechtsmittel sind gegen die Entscheidung nicht | |
mehr möglich. | |
Dass der Brechmitteleinsatz eine inhumane Behandlung sei – das Wort | |
„Folter“ haben die Richter vermieden –, begründet der Gerichtshof mit den | |
Schmerzen und der Angst, die ein Verdächtiger verspüre, wenn ihm gegen | |
seinen Willen ein Schlauch durch die Nase gestoßen werde. Auch das Warten | |
auf das Einsetzen des Brechreizes führe zu mentalem Leiden. Und schließlich | |
sei es demütigend, unter diesen Bedingungen seinen Mageninhalt zu | |
entleeren. | |
Die Richter halten den Brechmitteleinsatz auch nicht für notwendig, um | |
Beweismittel zu sichern. Sie verweisen auf das Beispiel anderer deutscher | |
Bundesländer und anderer Staaten des Europarates, die einfach warten, bis | |
verschluckte Drogenpäckchen über den Stuhlgang ausgeschieden werden. Auch | |
Bayern, sonst nicht gerade für Zimperlichkeit bekannt, sichert die | |
Beweismittel nach dieser natürlichen Methode. | |
Zwar seien die Experten nicht ganz einig bei der Bewertung der | |
gesundheitlichen Risiken des Brechmitteleinsatzes, doch nach Ansicht der | |
Richter ist er zumindest nicht harmlos. Immerhin ist es in Deutschland | |
schon zu zwei Todesfällen gekommen. Im Fall Jalloh sei die Zwangsmaßnahme | |
auch deshalb gefährlich gewesen, weil mit dem Mann aus Sierra Leone kein | |
Vorgespräch über medizinische Risiken und Unverträglichkeiten geführt | |
werden konnte. Jalloh sprach kein Deutsch und nur bruchstückhaft Englisch. | |
Jalloh kann nun versuchen, eine Wiederaufnahme seiner strafrechtlichen | |
Verurteilung zu erreichen. Da das Urteil im Wesentlichen auf dem Drogenfund | |
im Magen beruhte, könnte er dabei sogar mit einem Freispruch rechnen. Wie | |
die Richter feststellten, dürfen derart gewonnene Beweismittel vor Gericht | |
nicht verwendet werden. Der zwangsweise herbeigeführte Brechreiz | |
widerspreche auch dem Grundsatz, dass niemand gezwungen werden könne, sich | |
selbst zu belasten. | |
Das ganze Straßburger Urteil ist nicht nur eine Schlappe für die deutsche | |
Kriminalpolitik, die gerne auf das populistische Mittel Brechmittel setzte, | |
sondern auch für die deutsche Justiz, insbesondere das | |
Bundesverfassungsgericht. In Karlsruhe entschied 1999 eine mit drei | |
Richtern besetzte Kammer ohne Begründung, dass der Brechmitteleinsatz nicht | |
gegen die Menschenwürde verstoße. Die Richter ließen aber offen, ob das | |
Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit verletzt wird. Diese Frage wurde | |
an die Fachgerichte zurückverwiesen. Nach dem ersten Todesfall war den | |
Richtern dieses zögerliche Vorgehen wohl selbst peinlich; sie betonten per | |
Presseerklärung, dass die rechtliche Bewertung noch nicht zu Ende sei. Nun | |
hat Straßburg für Klarheit gesorgt. | |
12 Jul 2006 | |
## AUTOREN | |
CHRISTIAN RATH | |
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