# taz.de -- Er ist draußen | |
> JUSTIZ Gero W. lebt auf der Straße – und eckt an: bei der BVG, in | |
> Bahnhöfen und Geschäften. Die Folge sind regelmäßige Strafanzeigen. Die | |
> Staatsanwaltschaft prüft nun gar die Einweisung in die Psychiatrie, zum | |
> Schutz der Allgemeinheit. Doch ist das wirklich die Lösung? | |
VON PLUTONIA PLARRE | |
Bepackt mit Tüten und Taschen schleppt sich ein Mann die Treppe im | |
Kriminalgericht Moabit hoch. Seine Haare sind strubbelig, die Unterarme vom | |
Drogenspritzen vernarbt, er hat kaum noch Zähne, riecht nach Alkohol. | |
Später, im Gerichtssaal, wird der 50-Jährige auf die Frage des Richters | |
nach seiner Adresse sagen: „OFW“. Ohne festen Wohnsitz. Gero W. lebt auf | |
der Straße. Er schläft auf Parkbänken, holt sich sein Essen bei | |
Hilfseinrichtungen. In vielen Geschäften, Shopping Malls und Bahnhöfen wird | |
er nicht geduldet. Aber W. ist davon unbeeindruckt: Er lässt sich keine | |
Vorschriften machen. Schon gar nicht lässt er sich diskriminieren, weil er | |
ein „Assi“ ist, wie er sich selbst nennt. Dann wehrt er sich lautstark und | |
wird seinerseits beleidigend. | |
Wiederholt ist Gero W. deshalb zu Geldstrafen und Freiheitsstrafen zur | |
Bewährung verurteilt worden. Aber auch das fruchtet nicht. Was also tun mit | |
einem Mann, der unbelehrbar ist und deshalb regelmäßig vor dem Kadi landet? | |
Die Staatsanwaltschaft geht bis zum Äußersten: Sie hat den Mann auf seinen | |
Geisteszustand begutachten lassen, nun droht sie mit der Einweisung in die | |
geschlossene Psychiatrie. Darum geht es an diesem Freitag im Juli, an dem | |
W. im Kriminalgericht mit seinen Tüten die Treppe hochsteigt. | |
Diesmal muss er sich wegen sechs Sammelklagen aus den Jahren 2007 bis 2009 | |
verantworten: Hausfriedensbruch, versuchte Körperverletzung, Bedrohung, | |
Beleidigung. Die Vorwürfe sind banal, verglichen mit dem, was W. droht. | |
X-mal soll er private Sicherheitsbedienstete, BVG-Mitarbeiter und | |
Polizisten als „faschistoide Lümmels“ beleidigt haben. Zum Beispiel am 25. | |
Dezember 2007 auf dem U-Bahnhof Kurfürstenstraße. Um acht Uhr morgens hatte | |
W. dort versucht, eine Pfandflasche aus dem Gleisbett zu holen und zwei | |
Sicherheitsleute, die ihn des Bahnhofs verwiesen, als Nazis betitelt. Oder | |
am 5. Oktober 2007 kurz vor Betriebsschluss. Er weigerte sich, den | |
U-Bahnhof Leopoldplatz zu verlassen, und soll versucht haben, einen | |
Sicherheitsbediensteten zu beißen. Ein anderes Mal soll er eine | |
BVG-Busfahrerin als „Mufty und scheiß türkische Frau“ beschimpft haben. U… | |
der Discounter Aldi zeigte ihn wegen Diebstahls an, weil er im Laden eine | |
Tube Sonnencreme geöffnet und sich damit das Gesicht eingeschmiert habe. | |
Gero W. ist seit 26 Jahren drogenabhängig, seit 13 Jahren wird er | |
substituiert. Er raucht zwei Schachteln Zigaretten am Tag, schluckt | |
Tabletten und trinkt Bier. Er leidet unter Magengeschwüren. Kurzum: Er ist | |
körperlich ein Wrack. Einst hat er Jura studiert, ist aber zweimal durchs | |
Staatsexamen gefallen. Eine „gescheiterte Liebesbeziehung“ macht er für | |
seine Heroinsucht verantwortlich. Er dealte, wurde erwischt, saß drei Jahre | |
im Knast Tegel. Seit 2005 lebt er in Berlin auf der Straße. In ein | |
Obdachlosenheim zu ziehen lehnt er ab. Schließlich stehe er außerhalb | |
jeglicher Gemeinschaft und habe mit dem „ganzen Pack“ dort nichts zu tun. | |
In den Tüten und Taschen, die er stets bei sich hat, befinden sich vor | |
allem Bücher und Zeitschriften. W. liest viel, auch englische Texte. | |
In dem von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenen psychiatrischen | |
Gutachten heißt es: Im Grund genommen sei W. ein zutiefst einsamer Mensch, | |
der nicht zugeben wolle, dass er unter seiner Situation leide. Wenn ihm | |
seine Lebensführung von anderen vor Augen geführt werde, verteidige er | |
diese trotzig bis aggressiv. Eine Unterbringung von Herrn W. sei „durchaus | |
diskussionswürdig“, schreibt die Gutachterin. „Eine endgültige | |
Stellungnahme behalte ich mir für die Hauptverhandlung vor.“ | |
W. kennt das Gutachten. Als die Staatsanwältin die Anklageschriften | |
verliest, rutscht er unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Seine Taschen | |
sind auf dem Boden verstreut. Die einzigen Zuschauer im Saal sind zwei | |
Justizbedienstete. Sie haben den Obdachlosen im Portal an der | |
Sicherheitsschleuse abgeholt. Andere Beamte hatten dort den Inhalt von W.s | |
Gepäck und die Hosentaschen mit spitzen Fingern durchsucht. Einer hatte | |
sich dafür eigens Handschuhe angezogen. W. kommentierte das Prozedere mit | |
beißendem Spott, ließ es aber beim Ausdruck „Lümmels“ bewenden. Als sie … | |
aber seine drei vollen Bierflaschen abnehmen wollten, krakeelte er aus | |
vollem Halse. Ruhe gab er erst, als ihm bescheinigt wurde, dass er sein | |
Bier beim Verlassen des Gerichtsgebäudes zurückbekommt. | |
Auch die beiden Justizbeamten hinten im Saal tragen Handschuhe. Im Saal ist | |
es brütend heiß. Die Staatsanwältin verliest die Anklage und dass W. einen | |
BVG-Beamten zu beißen versucht habe. Die Beamten gucken sich entsetzt an. | |
W. springt auf. „Wie kann ich mit sechs Zähnen im Mund beißen?“, schreit … | |
empört. Wenn ihm vermeintliches Unrecht geschieht, mobilisiert der | |
schmächtige Mann ungemeine Kräfte. Die Beamten hätten ihn angegriffen, | |
nicht er sie. „Einer hat mir in die Niere getreten. Dafür habe ich ein | |
ärztliches Attest.“ | |
Er bestreitet alles, nur eines nicht: Zu den „faschistoiden Lümmels“, sagt | |
er triumphierend, „stehe ich“. Er werde als Untermensch behandelt, sei für | |
alle der Fußabtreter. In Wedding und Kreuzberg gebe es nur noch drei Läden, | |
in denen er kein Hausverbot habe. „Ständig werde ich von diesen | |
faschistoiden Lümmels drangsaliert. Das sind deklassierte, ungebildete | |
kleine Arschlöcher, die kühlen ihr Mütchen an Leuten wie mir.“ | |
W.s Waffe ist seine Intelligenz. Damit überrascht er sein Gegenüber immer | |
wieder. Nach dem Motto: Ich sehe zwar nicht so aus, aber täuscht euch mal | |
nicht, ich kriege genau mit, was hier läuft. Er stellt sich gern als Opfer | |
einer vorurteilsbehafteten Gesellschaft dar. | |
Manchmal redet W. sich in Rage, wie jetzt im Gerichtssaal. „Herr W., reißen | |
Sie sich zusammen“, versucht der Richter ihn zu mäßigen. Vergebens. Die | |
Verhandlung wird unterbrochen. Der Richter will sich mit der | |
Staatsanwältin, der psychiatrischen Sachverständigen und W.s Verteidiger | |
beraten. | |
Der Angeklagte muss vor die Tür, die beiden Wachtmeister mit den | |
Handschuhen folgen ihm. W. will rauchen. Das ist im Gerichtsgebäude | |
verboten. Eskortiert von den Beamten geht es in den Keller und dann in | |
einen gekachelten Hof, der aussieht wie ein Gefängnishof. Die Beamten | |
warten schweigend. Gero W. zieht zweimal an seiner Kippe. Dann tritt er sie | |
aus. „Gehen wir zurück“, sagt er leise. Er wirkt wie verwandelt, unsicher | |
und anlehnungsbedürftig. Das Verfahren stresst ihn, und die „stummen | |
Lümmels“ machen ihm Angst. Warum sind sie da, fragt er sich. Damit er nicht | |
abhaut, falls er in die Psychiatrie soll? | |
Trotzdem kommt der Spott wieder durch. Er belustigt sich über seinen | |
beleibten Pflichtverteidiger und spricht abfällig vom „Drei-Zentner-Trump“. | |
Dabei bemüht sich der Anwalt wirklich um ihn. Dem jungen Richter | |
unterstellt er, ein Karrierejurist zu sein, der mit ihm kurzen Prozess | |
machen will, um „mit seinem Kleinwagen schnell in die nicht bezahlte | |
Eigentumswohnung abdüsen“ zu können. | |
Im Saal zeigt die Justiz Menschlichkeit. Die Einweisung in die Psychiatrie | |
„will hier keiner“, stellt der Richter klar. W. atmet auf. „Was aus Ihrem | |
Leben geworden ist, können wir nicht nachvollziehen“, sagt die | |
Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. „Vielleicht ist manches auch | |
schicksalhaft.“ Aber kein Mensch müsse sich als Nazi beleidigen lassen. W. | |
sei intelligent genug, um das zu wissen. Sein Verteidiger sieht das anders. | |
Eine Gesellschaft müsse es aushalten, dass W. „ein wenig gegen die Spur“ | |
steuere. Nicht W. sei eine Gefahr für die Gesellschaft, die Gesellschaft | |
sei eine Gefahr für ihn. | |
Fünf Monate auf Bewährung lautet das Urteil. W. kramt da schon seine | |
Taschen zusammen und hört kaum noch zu, als der Richter ihm von einem Mann | |
erzählt, der betrunken auf die Autobahn gelaufen ist und überfahren wurde. | |
„Ich hoffe, dass Ihnen so ein Schicksal nicht droht.“ | |
Auf dem Gang hat W. längst wieder Oberwasser. „Sie waren gut. Aber wir | |
gehen in Berufung“, weist er seinen Anwalt an. Das nächste Urteil werde | |
bestimmt nicht besser, wendet der Verteidiger ein. „Sie müssen doch auch | |
Ihr Geld verdienen“, sagt Gero W. gönnerhaft. | |
Die Wachtmeister mit den Handschuhen kommen kaum hinterher, so schnell | |
läuft er zum Ausgang. Dort wartet auf ihn sein Bier. | |
21 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
PLUTONIA PLARRE | |
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