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# taz.de -- Mein Sachsenhain
> In Zeiten, in denen Deutsche und Polen sich so wenig zu verstehen
> scheinen wie schon lange nicht mehr, erinnert sich der Schriftsteller
> Artur Becker mit diesem Essay daran, wie er selbst ein Deutscher wurde –
> oder wenigstens fast. Als gebürtiger Pole erlaubt er sich einen
> unbefangenen Umgang mit der deutschen Geschichte, sogar mit Nazi-Kitsch
> wie dem pseudo-mythischen Sachsenhain bei Verdenvon Artur Becker
Den Rundweg säumen Bäume und Findlinge. Die ganze Anlage erinnert an eine
uralte Kultstätte aus der Zeit der nordischen Megalithenbauten. Jeder der
Findlinge steht für einen geköpften Sachsen: Viertausendfünfhundert sollen
es gewesen sein – viertausendfünfhundert Findlinge wurden auf beiden Seiten
des Rundwegs aufgestellt, und der führt um eine Wiese, den allbekannten
Thingplatz, herum. Einige der Steine hat man nach dem Zweiten Weltkrieg
weggetragen – wohin, weiß heute kein Mensch mehr.
Der Sachsenhain in Verden an der Aller ist mein Deutschland. Das Städtchen
Verden kennt fast niemand, der nicht mit Reitsport oder Pferdeauktionen zu
tun hat. Ach ja! Man kennt es doch – wegen der lange währenden Kriege
zwischen den Franken und Sachsen. In der Verdener Altstadt gibt es einen
Platz, der heißt Lugenstein: Meine polnische Zunge übersetzt sofort – Stein
der Lügen. Genau auf diesem Platz habe Karl der Große die Sachsen köpfen
lassen, heißt es. Es soll ein Massaker gewesen sein, und der Kirche in Rom
ist es bis heute ein Dorn im Auge, dass einer ihrer besten Zöglinge,
nämlich der römische Kaiser und Frankenkönig Karl der Große, ein Schlächter
gewesen sein soll.
Was damals, 782, in Verden tatsächlich passiert ist, lässt sich heute nicht
genau sagen. Der Dichter Hermann Löns fühlte sich immerhin dazu berufen,
eine Novelle darüber zu schreiben: „Die rote Beeke“ – der rote Bach,
gefärbt vom Sachsenblut. Seine Sachsen sind Heroen, die ihr Germanien
tapfer verteidigen und von den Franken wie Vieh regelrecht zur Schlachtbank
geführt werden. Für die nationalsozialistische Propaganda war die Novelle
ein gefundenes Fressen. Hermann Löns erkannten sie als einen der ihren und
hoben ihn in den Olymp der germanischen Literatur allererster Güte. Der
arme Hermann Löns, der 1914 in Frankreich gefallen ist, hat sich bestimmt
einen anderen Olymp gewünscht, als er im Himmel von seiner literarischen
Heiligsprechung erfuhr – auch wenn sich nicht abstreiten lässt, dass er aus
seiner nationalen Gesinnung und seiner Liebe zu Deutschland keinen Hehl
gemacht hat. Seine Knochen ruhen heute in Walsrode, einem Nachbarort von
Verden, aber ob es wirklich seine sind, wissen die Götter. Nur die Nazis
waren sich sicher, wessen sterbliche Überreste sie aus Frankreich überführt
hatten.
Darf Liebe zum Vaterland strafbar sein? Einem Polen ist es erlaubt, seine
Heimat zu lieben – der Deutsche muss sich warm anziehen, bevor er seinem
Land seine Liebe erklärt. Er muss sich vorsehen, damit er nichts Falsches
sagt, weil ihm sonst schnell bescheinigt wird, er gehöre womöglich der
rechten Szene an. Selbst ich, der ich wahrscheinlich Pole durch und durch
bin, reagiere auf das Wort Vaterland allergisch. Die sozialistische
Erziehung hat mich von jedweder Ideologisierung und Romantisierung geheilt,
und das im zarten Alter von fünfzehn Jahren. Dafür müsste ich den
Kommunisten eigentlich dankbar sein.
Auf dem Lugensteinplatz wurde bereits im neunten Jahrhundert eine Kirche
gebaut und viel später durch einen Dom ersetzt, der von Epoche zu Epoche an
Größe und Pracht zunahm. Wer mich zum ersten Mal in meinem deutschen
Zuhause besucht, muss den Dom besichtigen, und meistens kommt er aus dem
Staunen nicht heraus: „Was? Ihr habt in diesem Kaff so eine riesige
Kirche?“ – „Ja, haben wir, seit fast tausend Jahren, und müssen gar nicht
nach Köln fahren“, antworte ich immer voller Stolz.
Neulich hatte ich wieder Besuch. Jeden Gast schleppe ich auch in den
Sachsenhain zu einem Spaziergang. Dort herrscht Ruhe, die Sonne scheint
durch die Baumkronen der Kiefern und Lärchen, man geht zwischen den Steinen
und entdeckt plötzlich, dass manche von ihnen Inschriften tragen.
Zeilen, die ermahnen wollen und bekannt anmuten, sind in elf Findlinge
gemeißelt. Wer auf seinem Rundgang im Sachsenhain gegen den Uhrzeigersinn
unterwegs ist, wie fast alle Spaziergänger, die vom Autoparkplatz
herkommen, gelangt nach wenigen Metern zur ersten Botschaft: „Fürchte dich
nicht“ steht auf einem Stein. Das sagte ich, als mein Sohn Philip an einem
Samstagmorgen 1994 in der Bremer Frauenklinik in der St.-Jürgen-Straße zur
Welt kam, in dem Moment, als ich ihn an seinen violett gefärbten Beinchen
in die Luft hielt und er schrie und weinte, weil er gerade zu atmen lernte.
Ich wanderte 1985 aus Warmia und Masuren in die BRD aus und begriff sofort:
Deutschland zu verstehen, ist für einen Polen eine radikale Aufgabe. Ich
lebte zuerst in einem Jugenddorf, einem Internat in Celle, wo Kinder der
niedersächsischen Spätaussiedler Deutsch lernten. Unsere Lehrer und
Erzieher hießen mit Nachnamen Göthe, Kaffke oder Römmel. Nur der „Hümmler…
fehlte. Frau Kaffke wurde von uns osteuropäischen Aufwieglern, die eine
Zeit lang tatsächlich daran glaubten, Kinder deutscher Herkunft und damit
Deutsche zu sein, gehänselt: Wir sprachen sie immer mit „Frau Kafka“ an,
und sie geriet jedes Mal außer sich und brüllte: „Ich heiße Kaffke,
Kaffke!“
Die Internatsinsassen wollten Metzger und Fußballer werden. Sie sparten ihr
Taschengeld für Stereoanlagen und Fußballschuhe – ich für Bier und
Zigaretten und Schallplatten und Briefmarken, weil ich fast jeden Tag
Liebesbriefe schrieb. Sie träumten von einem abbezahlten Reihenhäuschen
oder Golf, ich von einem freien Polen, das nicht mehr im Schatten der
Sowjetunion stehen würde. Ich war siebzehn und böse, weil ich von meinen
Eltern in ein fremdes Land entführt wurde, weil mein geliebtes Mädchen in
Poznań lebte, weil uns der Eiserne Vorhang trennte und weil mich die
Sehnsucht zerfraß. Mich hielt nichts in diesem Jugenddorf, in dem ich
plötzlich mit Zehnjährigen in einer Klasse sitzen und Deutsch lernen
musste. Ein Albtraum für einen siebzehnjährigen Nonkonformisten, der Wodka
und seine Wirkung kannte, der wusste, wie Sex schmeckte, der auf Polnisch
Gedichte schrieb und sie im Zigarettendunst auf masurischen Dichtertreffen
in Iława (Deutsch-Eylau) vorgelesen hatte, in der Hoffnung, einmal so zu
werden, wie all die bärtigen, von der Regierung in Warschau verstoßenen
Dichter, deren bunte, von ihren Frauen gestrickte Rollkragenpullover nach
Nikotin, Wodka und kaltem Schweiß rochen.
Ein Rumäne, mit dem ich mir in Celle ein kleines Zimmer teilte, quälte mich
jede Nacht vor dem Einschlafen mit ein und derselben Frage: Gibt es Gott?
Nach wenigen Wochen hielt ich es mit ihm nicht mehr aus. Mein nächster
Zimmernachbar war Schlesier, und ich geriet vom Regen in die Traufe. Ihm
musste ich Abend für Abend erzählen, wie Kinder geboren werden. Er glaubte
tatsächlich, dass der Fötus im Magen der Frau aufwächst und nach dem
neunten Monat ausgeschieden wird. Der Schlesier war vierzehn Jahre alt, als
er dank meiner Hilfe eine große Entdeckung machte. Nach dieser
revolutionären Lektion widmete er sich der „dunklen süßen Onanie“ – ich
konnte allerdings kaum eine Nacht durchschlafen.
Ich musste also das Jugenddorf so schnell wie möglich verlassen, das war
mir in kurzer Zeit klar geworden. In einem Internat zu vegetieren war nicht
die Freiheit, die mir meine Eltern und die englischen Rockbands versprochen
hatten. Im Sozialismus war ich viel freier gewesen als im Westen, denn nun
wohnte ich in einer Kaserne mit lauter Metzgern und Fußballern und
Onanisten zusammen, die mehr oder weniger gebrochen Deutsch sprachen,
genauso wie ich, und ihr Taschengeld für Stereoanlagen sparten. Und sie
verliebten sich jeden Tag in ein neues Mädchen, während ich die meiste Zeit
in meiner Kammer am Schreibtisch verbrachte, um überschwängliche
Liebesbriefe nach Poznań zu schreiben – anstatt deutsche Grammatik zu
pauken. Der Schlesier aus Oppeln lachte mich aus, als ich einmal zum
verehrten Herrn Göthe, der in den so genannten Hausaufgabenräumen die
Aufsicht hatte, sagte: „Ich gleich komme!“ Ich wollte auf die Toilette
gehen, und der Schlesier berichtigte mich: „Man sagt: Ich komme gleich!“ –
„Ausgerechnet du willst mich aufklären?“, schoss ich auf Polnisch zurück.
„Du Verräter!“
Ich ging nach Verden, zu meinen Eltern. Meine Mutter konnte den Direktor
eines Gymnasiums davon überzeugen, dass ich es sogar zum Abitur schaffen
würde. 1985 gab es in Verden kaum Ausländer. Wurde ich nach meinem Akzent
gefragt, erzählte ich immer, ich sei Pole aus Sri Lanka. Das Abitur war für
mich kein Spaziergang, aber an der neuen Schule tickten die Uhren ganz
anders als im Jugenddorf in Celle. Mein sozialistisch-katholisch geschultes
Gewissen wurde einer harten Prüfung unterzogen. Die Schüler durften während
des Unterrichts ihre Frühstücksdosen aufmachen und ihre Salamibrötchen
verspeisen, in den Klassenräumen roch es wie im Speisesaal, und sie durften
sogar, ohne den Lehrer vorher zu fragen, mitten in der Stunde aufstehen,
den Klassenraum verlassen und sich einen Kaffee vom Automaten holen. Auf
dem Schulgelände gab es eine Raucherecke – für diejenigen, die älter als
sechzehn waren; am Technikum in Bartoszyce (Bartenstein) war das Rauchen
verboten.
Doch das Wichtigste war der gymnasiale Geschichtsunterricht: Ich erfuhr,
dass in den Konzentrationslagern der Nazis Millionen von Juden umgekommen
seien. Ich fragte mich, ob ich im falschen Film saß. Die Kommunisten zu
Hause hatten in der Schule vor allem von Polen gesprochen, mochten sie auch
jüdischen Glaubens sein – auf dem Papier, in ihren Ausweisen, waren sie
anscheinend Polen gewesen. Und als ich mir in der zwölften Klasse den
Frank-Zappa-Bart wachsen ließ, sagte meine ostpreußische Großmutter zu mir:
„Was tust du da? Du weißt doch, dass die Deutschen keine Juden mögen!“ Sie
und ich lebten damals hinterm Mond.
Ein Nachbar, ein rüstiger, stets gut gelaunter Rentner, nahm mich oft mit
auf ausgedehnte Fahrradtouren. Das erste Wort, das er mir beibrachte, war
Raps, das zweite Flieder. Er erzählte mir auch, wer die Findlinge im
Sachsenhain aufgestellt hatte, nämlich die Nazis und zwar im Jahre 1935.
Irgendwann, nach einem Besuch in Bergen-Belsen, fragte ich ihn: „Und ihr
habt wirklich nichts gewusst?“ - „Nein.“ – „Und es hat nicht komisch
gerochen?“ – „Nein.“ Eine Buchhändlerin, die während des Zweiten
Weltkrieges ein junges Mädchen gewesen war, sagte mir: „Es war alles so
normal wie heute. Wir haben nichts gewusst.“
Im Sachsenhain feierten diejenigen, die nichts gewusst haben wollten, das
Fest der Sonnenwende. Sie marschierten mit Fackeln, schrien „Sieg Heil!“
und sangen ihre pseudoheidnischen Schnitterlieder – im Chor. Sie spürten
eine unerschöpfliche Kraft in ihren Kehlen, und sie feierten ihr
Deutschland auf dem Höhepunkt seiner Macht und Stärke. Sie feierten im
Sachsenhain den Herzog Widukind, der sich gegen die Franken und ihren
christlichen Kaiser erhoben hatte – zum Schluss, nach seiner Niederlage,
hatte er sich in Anwesenheit seines Erzfeindes, Karls des Großen, taufen
lassen. Und als frisch gebackener Deutscher konnte ich es mir in meinen
Anfangsjahren in der BRD auf einmal sehr gut vorstellen, was es hieß, sich
stark und groß und unbesiegbar zu fühlen – eine kollektive Einheit zu
bilden. Im polnischen Sozialismus hatten wir diese Kraft nie erreicht,
nicht einmal unter Stalin. Die Sonne ist in meiner Heimat nie so
aufgegangen wie 1933 in Deutschland oder 1918 in Russland, um eine kurze
Zeit im Zenit zu stehen und alles bisher an Gewalt und Abartigkeit Gewesene
in den Schatten zu stellen.
Als Verdener Gymnasiast bekam ich es auf einmal mit der Angst zu tun. Was
geschah mit mir? Warum fühlte ich mich plötzlich wie ein Zeitzeuge, wie ein
Rädchen in der deutschen Geschichte, eine Zelle von Millionen Zellen in
diesem perfekt funktionierenden Organismus? Ich wusste, dass ich einen
Fehler gemacht hatte. Ich musste aufhören, wie ein Deutscher zu denken und
zu sprechen. Ich war Pole, und ich musste keine Gewissensbisse haben, weil
ich mich vom Sachsenhain angezogen fühlte. Ein Ort zum Spazieren,
Entspannen und Meditieren, rechtfertigte ich mich damals. Die Drecksarbeit
musste ich in diesem Fall den Deutschen überlassen. Sie sollten im
Sachsenhain aufräumen – nicht ich, der ich in Ostpreußen geboren wurde, als
Kind einer polnischen Mutter aus Litauen und eines deutschen Vaters aus
Bartoszyce, der sich seiner ostpreußischen Herkunft als Junge hatte schämen
müssen. In den Fünfzigern wurde er auf der Straße beschimpft: „Heil
Hitler!“, begrüßten ihn seine ukrainischen und polnischen Kumpels.
Nun wohne ich schon seit einundzwanzig Jahren in Verden und fahre seit 1998
jeden Sommer nach Warmia und Masuren, wo ich meine Kindheit verbracht habe.
„Was willst du in Verden?“, fragen mich meine Schriftstellerkollegen aus
Berlin oft, als wäre Berlin tatsächlich der Garten Eden und das ultimative
Lebensziel eines jeden Menschen. Sie begreifen nicht, wer ich bin und woher
ich komme. Sie wissen nicht, dass ich inmitten von Fischern, Säufern,
Ertrunkenen, Huren, Katecheten und Vertriebenen aufgewachsen bin – in
Warmia und Masuren, wo einst Steine und Kiefern wie Götter angebetet
wurden, wovon schon Tacitus in seinen Reiseaufzeichnungen schreibt. In
einem Land, in dem die Heilige Maria bestimmt, was es zum Mittagessen gibt.
In einem Land, in dem eine Frau die Hosen anhat und kurz vor Weihnachten
nach Baden-Baden fährt, um als Altenpflegerin in einem privaten Haushalt zu
arbeiten (mittlerweile eine ganz weit verbreitete Praxis in den deutschen
Städten), während ihr Mann bei Wodka vom Reichtum träumt. In einem Land, in
dem die Männer vor Eifersucht ihre Frauen erstechen wollen. In einem Land,
in dem sich die Frauen nie langweilen – in dem sich ihre Männer und Kinder
ständig langweilen. In einem Land, in dem die Kinder auf der Waschmaschine
gezeugt werden. In einem Land, das wirtschaftlich mehr und mehr verkommt,
weil viele der Männer seit Jahren in Oslo Badezimmer fliesen müssen, um
ihre Familien zu ernähren, die sie nur an Weihnachten und in den
Sommerferien sehen.
Auf einem anderen Findling steht: „Der Weg mit ihm zum Kreuz.“ Und einer
meiner auswärtigen Besucher, ein Dichter und Maler aus Frankfurt am Main,
sagte mir während unseres Spazierganges, Deutschland sei ein Kreis. Es
dulde keine halben Sachen, jedes Vorhaben müsse gelingen und vollständig
aufgehen. Ich antwortete fragend: „Sowohl im Guten wie auch im Bösen?“ Ja,
bestätigte er mir, und das mache diesen Kreis so gefährlich, fuhr er fort,
weil ein Kreis per se vollkommen sei, wie jede geometrische Figur, und
Vollkommenheit dulde keine Schwächen. Ich sagte ihm: „Mein Gott, seid ihr
arm dran!“ In schweren Zeiten, wenn es darum ginge, als Nation zu
überleben, entwickele der Pole einen unglaublichen Kampfgeist, erklärte ich
ihm. Der berühmte Säbel werde gezogen, der selbst vor Panzern (im September
1939) und Hubschraubern (im Dezember 1970 in Danzig) nicht zurückschreckte
und sie „niedermähen“ wollte wie Menschen. Ich sagte außerdem: Doch sobald
wir meinen, glücklich zu sein, kehren wir auf dem Absatz zu unserem Elend
und Leid zurück, und die Hassliebe zwischen Russen und Deutschen sei uns
dann wieder ein rotes Tuch und wir schauten dann, wie schon so viele Male,
voller Hoffnung nach Amerika und England, manchmal nach Frankreich. Zurzeit
seien wir in Amerika verliebt, fügte ich hinzu. Aber ein Kreis? Was solle
der Pole mit einem Kreis, wenn er am liebsten ein Kreuz trage? Wie der
Russe, der stets ein König der Slawen sein wolle. Mein Gast sagte:
„Menschen vergehen und leben.“
„Menschen vergehen, leben“ – so lautet eine der nächsten Zeilen auf den
Findlingen. Andere Sätze sind noch eindringlicher, weil sie sich einem ins
Gedächtnis brennen wie Fürbitten: „Mit leiden helfen“ oder „Gib Brot“…
der Kreis schließt sich, nach einem jeden Rundgang im Sachsenhain, mit
Vergehen und Auferstehen – dem Leben, und wahres Leben bedeutet in jeder
Religion Ewigkeit und bei den Christen Auferstehung. Ich frage mich seit
Jahren, was dieser Gedanke vom Vergehen und Leben, sprich von der
Auferstehung, mit Deutschland zu tun hat, das 1945 und 1989 wiedergeboren
wurde. Dieses Land ist mir eine Insel geworden – eine Heimat. Unsere
Politiker tun jedoch so, als wäre die Bundesrepublik tatsächlich für die
Ewigkeit geschaffen. Ich muss nicht allzu tief graben, in meiner
Biographie, um zu begreifen, wie vergänglich Reiche und Staaten sind. Den
Sozialismus, in dem ich geboren wurde und der mich geschult hat, gibt es
nicht mehr. Ein ähnliches Schicksal wird auch die BRD eines Tages ereilen,
das Kartenhaus wird zusammenbrechen und Neuem Platz machen.
In meinen Gedanken und Träumen begegne ich oft meiner polnischen Großmutter
aus Litauen, weil sie wohl am tiefsten von allen meinen Verwandten erfahren
hat, was Vergehen und Leben bedeutet, zumal sie als strenge Katholikin an
Gott, die Auferstehung und die Ewigkeit inbrünstig geglaubt hat, auch wenn
sie im Sterben und nicht mehr ganz Herrin ihrer geistigen Kräfte einige
blasphemische Verwünschungen aussprach und die Kirche tatsächlich
verdammte, mit Jesus und Maria an der Spitze. Ihren ersten Mann verlor sie
bei einem Unfall in einem Steinbruch, kurz vor Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges. Sie hatte von ihm ein Kind, das sich an seinen Vater kaum
erinnerte. Der Junge wuchs während des Krieges auf – bei seinen Großeltern,
in der Nähe von Konin in Großpolen, wo die Bauern jeden Tag vor Angst
zitterten, erschossen oder in ein KZ verschleppt zu werden, obwohl sie
keine Partisanen oder Juden waren. Sie wussten seltsamerweise, wohin die
Züge fuhren und warum die Viehwagen so übel rochen.
Als meine Großmutter von fünfjähriger Zwangsarbeit in einem Dorf bei
Hannover wieder nach Hause zurückkehrte, wurde sie von ihrem Kind,
mittlerweile einem fast zehnjährigen Jungen, gefragt: „Wer bist du, Frau –
kobieto?“ Doch ihr Mutterherz schlug weiter, blieb nicht stehen. Sie kam
nach Zamęty, in ihr Elterndorf, mit einem Mann – sie hatte in Deutschland
einen Geigenspieler geheiratet, den Sohn des Postdirektors aus Poznań. Dem
Franzosen, der sie um ihre Hand gebeten und der ihr in Frankreich den
siebten Himmel versprochen hatte, gab sie 1945 einen Korb. Nein, sie kam
zurück nach Polen – zum Ärger ihrer Geschwister, die nach Amerika hatten
auswandern wollen, wo es Arbeit gab, aber sie wollte ihren Sohn
zurückhaben, und nach polnischem, ungeschriebenem Familiengesetz wanderte
man damals zusammen aus. Oder gar nicht. Wer dieses Gesetz brach, galt als
Nestbeschmutzer.
Als ich fünfzehn war, allein in meiner Provinz- und Geburtsstadt Bartoszyce
wohnte und auf den Reisepass und die Ausreisegenehmigung wartete, fragte
ich meine Großmutter einmal, ob sie die Deutschen hasse. Ich sagte zu ihr:
„Schau, eine deiner Töchter lebt in dem Land, das dich von deinem Kind
getrennt hat, und ich werde auch bald in dieses Land gehen, weil es meine
Eltern so wollen, und deine Brüder, die zusammen mit dir in Deutschland
gelitten und das KZ überlebt haben, verdammen dich bis heute, dass sie mit
dir nach Polen zurückfahren mussten. Die Deutschen haben dir die Jugend
gestohlen und dich zur Sklavenarbeit gezwungen und gesagt: ,Sei froh, dass
du überhaupt leben darfst und einmal täglich was Warmes zu essen hast.‘
Warum hasst du sie nicht?“
Ich fragte sie dies kurz vor meiner Ausreise in die BRD. Wir saßen auf zwei
Küchenstühlen in meiner fast leer geräumten Wohnung, die mir meine Eltern
nach ihrer eigenen Ausreise überlassen hatten. Die Möbel hatte ich
verkaufen müssen, weil ich Geld zum Leben brauchte. Und um die Reisen zu
meinem Mädchen in Poznań bezahlen zu können. Meine Großmutter, die mit mir
des Öfteren Pink Floyd und SBB, eine polnische Kultband aus den Siebzigern,
hörte, dachte nicht lange nach und sagte: „Du bist so dumm. In deinem Alter
war ich auch so dumm! Meinst du, die Deutschen sind Ungeheuer und keine
Menschen? Sie haben mir das Leben geschenkt, während sie andere
totgeschlagen haben.“ Meine Großmutter hieß Natalia Frankowska, geborene
Szablewska aus Litauen. Sie wurde sechsundachtzig Jahre alt. Menschen
vergehen, leben.
Dieser Essay wird im September erscheinen in der Anthologie „Peine, Paris,
Pattensen - literarische Erhebungen vom platten Land“, herausgegeben von
Mathias Mertens, Wallstein-Verlag
26 Aug 2006
## AUTOREN
Artur Becker
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