# taz.de -- Mein Sachsenhain | |
> In Zeiten, in denen Deutsche und Polen sich so wenig zu verstehen | |
> scheinen wie schon lange nicht mehr, erinnert sich der Schriftsteller | |
> Artur Becker mit diesem Essay daran, wie er selbst ein Deutscher wurde – | |
> oder wenigstens fast. Als gebürtiger Pole erlaubt er sich einen | |
> unbefangenen Umgang mit der deutschen Geschichte, sogar mit Nazi-Kitsch | |
> wie dem pseudo-mythischen Sachsenhain bei Verdenvon Artur Becker | |
Den Rundweg säumen Bäume und Findlinge. Die ganze Anlage erinnert an eine | |
uralte Kultstätte aus der Zeit der nordischen Megalithenbauten. Jeder der | |
Findlinge steht für einen geköpften Sachsen: Viertausendfünfhundert sollen | |
es gewesen sein – viertausendfünfhundert Findlinge wurden auf beiden Seiten | |
des Rundwegs aufgestellt, und der führt um eine Wiese, den allbekannten | |
Thingplatz, herum. Einige der Steine hat man nach dem Zweiten Weltkrieg | |
weggetragen – wohin, weiß heute kein Mensch mehr. | |
Der Sachsenhain in Verden an der Aller ist mein Deutschland. Das Städtchen | |
Verden kennt fast niemand, der nicht mit Reitsport oder Pferdeauktionen zu | |
tun hat. Ach ja! Man kennt es doch – wegen der lange währenden Kriege | |
zwischen den Franken und Sachsen. In der Verdener Altstadt gibt es einen | |
Platz, der heißt Lugenstein: Meine polnische Zunge übersetzt sofort – Stein | |
der Lügen. Genau auf diesem Platz habe Karl der Große die Sachsen köpfen | |
lassen, heißt es. Es soll ein Massaker gewesen sein, und der Kirche in Rom | |
ist es bis heute ein Dorn im Auge, dass einer ihrer besten Zöglinge, | |
nämlich der römische Kaiser und Frankenkönig Karl der Große, ein Schlächter | |
gewesen sein soll. | |
Was damals, 782, in Verden tatsächlich passiert ist, lässt sich heute nicht | |
genau sagen. Der Dichter Hermann Löns fühlte sich immerhin dazu berufen, | |
eine Novelle darüber zu schreiben: „Die rote Beeke“ – der rote Bach, | |
gefärbt vom Sachsenblut. Seine Sachsen sind Heroen, die ihr Germanien | |
tapfer verteidigen und von den Franken wie Vieh regelrecht zur Schlachtbank | |
geführt werden. Für die nationalsozialistische Propaganda war die Novelle | |
ein gefundenes Fressen. Hermann Löns erkannten sie als einen der ihren und | |
hoben ihn in den Olymp der germanischen Literatur allererster Güte. Der | |
arme Hermann Löns, der 1914 in Frankreich gefallen ist, hat sich bestimmt | |
einen anderen Olymp gewünscht, als er im Himmel von seiner literarischen | |
Heiligsprechung erfuhr – auch wenn sich nicht abstreiten lässt, dass er aus | |
seiner nationalen Gesinnung und seiner Liebe zu Deutschland keinen Hehl | |
gemacht hat. Seine Knochen ruhen heute in Walsrode, einem Nachbarort von | |
Verden, aber ob es wirklich seine sind, wissen die Götter. Nur die Nazis | |
waren sich sicher, wessen sterbliche Überreste sie aus Frankreich überführt | |
hatten. | |
Darf Liebe zum Vaterland strafbar sein? Einem Polen ist es erlaubt, seine | |
Heimat zu lieben – der Deutsche muss sich warm anziehen, bevor er seinem | |
Land seine Liebe erklärt. Er muss sich vorsehen, damit er nichts Falsches | |
sagt, weil ihm sonst schnell bescheinigt wird, er gehöre womöglich der | |
rechten Szene an. Selbst ich, der ich wahrscheinlich Pole durch und durch | |
bin, reagiere auf das Wort Vaterland allergisch. Die sozialistische | |
Erziehung hat mich von jedweder Ideologisierung und Romantisierung geheilt, | |
und das im zarten Alter von fünfzehn Jahren. Dafür müsste ich den | |
Kommunisten eigentlich dankbar sein. | |
Auf dem Lugensteinplatz wurde bereits im neunten Jahrhundert eine Kirche | |
gebaut und viel später durch einen Dom ersetzt, der von Epoche zu Epoche an | |
Größe und Pracht zunahm. Wer mich zum ersten Mal in meinem deutschen | |
Zuhause besucht, muss den Dom besichtigen, und meistens kommt er aus dem | |
Staunen nicht heraus: „Was? Ihr habt in diesem Kaff so eine riesige | |
Kirche?“ – „Ja, haben wir, seit fast tausend Jahren, und müssen gar nicht | |
nach Köln fahren“, antworte ich immer voller Stolz. | |
Neulich hatte ich wieder Besuch. Jeden Gast schleppe ich auch in den | |
Sachsenhain zu einem Spaziergang. Dort herrscht Ruhe, die Sonne scheint | |
durch die Baumkronen der Kiefern und Lärchen, man geht zwischen den Steinen | |
und entdeckt plötzlich, dass manche von ihnen Inschriften tragen. | |
Zeilen, die ermahnen wollen und bekannt anmuten, sind in elf Findlinge | |
gemeißelt. Wer auf seinem Rundgang im Sachsenhain gegen den Uhrzeigersinn | |
unterwegs ist, wie fast alle Spaziergänger, die vom Autoparkplatz | |
herkommen, gelangt nach wenigen Metern zur ersten Botschaft: „Fürchte dich | |
nicht“ steht auf einem Stein. Das sagte ich, als mein Sohn Philip an einem | |
Samstagmorgen 1994 in der Bremer Frauenklinik in der St.-Jürgen-Straße zur | |
Welt kam, in dem Moment, als ich ihn an seinen violett gefärbten Beinchen | |
in die Luft hielt und er schrie und weinte, weil er gerade zu atmen lernte. | |
Ich wanderte 1985 aus Warmia und Masuren in die BRD aus und begriff sofort: | |
Deutschland zu verstehen, ist für einen Polen eine radikale Aufgabe. Ich | |
lebte zuerst in einem Jugenddorf, einem Internat in Celle, wo Kinder der | |
niedersächsischen Spätaussiedler Deutsch lernten. Unsere Lehrer und | |
Erzieher hießen mit Nachnamen Göthe, Kaffke oder Römmel. Nur der „Hümmler… | |
fehlte. Frau Kaffke wurde von uns osteuropäischen Aufwieglern, die eine | |
Zeit lang tatsächlich daran glaubten, Kinder deutscher Herkunft und damit | |
Deutsche zu sein, gehänselt: Wir sprachen sie immer mit „Frau Kafka“ an, | |
und sie geriet jedes Mal außer sich und brüllte: „Ich heiße Kaffke, | |
Kaffke!“ | |
Die Internatsinsassen wollten Metzger und Fußballer werden. Sie sparten ihr | |
Taschengeld für Stereoanlagen und Fußballschuhe – ich für Bier und | |
Zigaretten und Schallplatten und Briefmarken, weil ich fast jeden Tag | |
Liebesbriefe schrieb. Sie träumten von einem abbezahlten Reihenhäuschen | |
oder Golf, ich von einem freien Polen, das nicht mehr im Schatten der | |
Sowjetunion stehen würde. Ich war siebzehn und böse, weil ich von meinen | |
Eltern in ein fremdes Land entführt wurde, weil mein geliebtes Mädchen in | |
Poznań lebte, weil uns der Eiserne Vorhang trennte und weil mich die | |
Sehnsucht zerfraß. Mich hielt nichts in diesem Jugenddorf, in dem ich | |
plötzlich mit Zehnjährigen in einer Klasse sitzen und Deutsch lernen | |
musste. Ein Albtraum für einen siebzehnjährigen Nonkonformisten, der Wodka | |
und seine Wirkung kannte, der wusste, wie Sex schmeckte, der auf Polnisch | |
Gedichte schrieb und sie im Zigarettendunst auf masurischen Dichtertreffen | |
in Iława (Deutsch-Eylau) vorgelesen hatte, in der Hoffnung, einmal so zu | |
werden, wie all die bärtigen, von der Regierung in Warschau verstoßenen | |
Dichter, deren bunte, von ihren Frauen gestrickte Rollkragenpullover nach | |
Nikotin, Wodka und kaltem Schweiß rochen. | |
Ein Rumäne, mit dem ich mir in Celle ein kleines Zimmer teilte, quälte mich | |
jede Nacht vor dem Einschlafen mit ein und derselben Frage: Gibt es Gott? | |
Nach wenigen Wochen hielt ich es mit ihm nicht mehr aus. Mein nächster | |
Zimmernachbar war Schlesier, und ich geriet vom Regen in die Traufe. Ihm | |
musste ich Abend für Abend erzählen, wie Kinder geboren werden. Er glaubte | |
tatsächlich, dass der Fötus im Magen der Frau aufwächst und nach dem | |
neunten Monat ausgeschieden wird. Der Schlesier war vierzehn Jahre alt, als | |
er dank meiner Hilfe eine große Entdeckung machte. Nach dieser | |
revolutionären Lektion widmete er sich der „dunklen süßen Onanie“ – ich | |
konnte allerdings kaum eine Nacht durchschlafen. | |
Ich musste also das Jugenddorf so schnell wie möglich verlassen, das war | |
mir in kurzer Zeit klar geworden. In einem Internat zu vegetieren war nicht | |
die Freiheit, die mir meine Eltern und die englischen Rockbands versprochen | |
hatten. Im Sozialismus war ich viel freier gewesen als im Westen, denn nun | |
wohnte ich in einer Kaserne mit lauter Metzgern und Fußballern und | |
Onanisten zusammen, die mehr oder weniger gebrochen Deutsch sprachen, | |
genauso wie ich, und ihr Taschengeld für Stereoanlagen sparten. Und sie | |
verliebten sich jeden Tag in ein neues Mädchen, während ich die meiste Zeit | |
in meiner Kammer am Schreibtisch verbrachte, um überschwängliche | |
Liebesbriefe nach Poznań zu schreiben – anstatt deutsche Grammatik zu | |
pauken. Der Schlesier aus Oppeln lachte mich aus, als ich einmal zum | |
verehrten Herrn Göthe, der in den so genannten Hausaufgabenräumen die | |
Aufsicht hatte, sagte: „Ich gleich komme!“ Ich wollte auf die Toilette | |
gehen, und der Schlesier berichtigte mich: „Man sagt: Ich komme gleich!“ – | |
„Ausgerechnet du willst mich aufklären?“, schoss ich auf Polnisch zurück. | |
„Du Verräter!“ | |
Ich ging nach Verden, zu meinen Eltern. Meine Mutter konnte den Direktor | |
eines Gymnasiums davon überzeugen, dass ich es sogar zum Abitur schaffen | |
würde. 1985 gab es in Verden kaum Ausländer. Wurde ich nach meinem Akzent | |
gefragt, erzählte ich immer, ich sei Pole aus Sri Lanka. Das Abitur war für | |
mich kein Spaziergang, aber an der neuen Schule tickten die Uhren ganz | |
anders als im Jugenddorf in Celle. Mein sozialistisch-katholisch geschultes | |
Gewissen wurde einer harten Prüfung unterzogen. Die Schüler durften während | |
des Unterrichts ihre Frühstücksdosen aufmachen und ihre Salamibrötchen | |
verspeisen, in den Klassenräumen roch es wie im Speisesaal, und sie durften | |
sogar, ohne den Lehrer vorher zu fragen, mitten in der Stunde aufstehen, | |
den Klassenraum verlassen und sich einen Kaffee vom Automaten holen. Auf | |
dem Schulgelände gab es eine Raucherecke – für diejenigen, die älter als | |
sechzehn waren; am Technikum in Bartoszyce (Bartenstein) war das Rauchen | |
verboten. | |
Doch das Wichtigste war der gymnasiale Geschichtsunterricht: Ich erfuhr, | |
dass in den Konzentrationslagern der Nazis Millionen von Juden umgekommen | |
seien. Ich fragte mich, ob ich im falschen Film saß. Die Kommunisten zu | |
Hause hatten in der Schule vor allem von Polen gesprochen, mochten sie auch | |
jüdischen Glaubens sein – auf dem Papier, in ihren Ausweisen, waren sie | |
anscheinend Polen gewesen. Und als ich mir in der zwölften Klasse den | |
Frank-Zappa-Bart wachsen ließ, sagte meine ostpreußische Großmutter zu mir: | |
„Was tust du da? Du weißt doch, dass die Deutschen keine Juden mögen!“ Sie | |
und ich lebten damals hinterm Mond. | |
Ein Nachbar, ein rüstiger, stets gut gelaunter Rentner, nahm mich oft mit | |
auf ausgedehnte Fahrradtouren. Das erste Wort, das er mir beibrachte, war | |
Raps, das zweite Flieder. Er erzählte mir auch, wer die Findlinge im | |
Sachsenhain aufgestellt hatte, nämlich die Nazis und zwar im Jahre 1935. | |
Irgendwann, nach einem Besuch in Bergen-Belsen, fragte ich ihn: „Und ihr | |
habt wirklich nichts gewusst?“ - „Nein.“ – „Und es hat nicht komisch | |
gerochen?“ – „Nein.“ Eine Buchhändlerin, die während des Zweiten | |
Weltkrieges ein junges Mädchen gewesen war, sagte mir: „Es war alles so | |
normal wie heute. Wir haben nichts gewusst.“ | |
Im Sachsenhain feierten diejenigen, die nichts gewusst haben wollten, das | |
Fest der Sonnenwende. Sie marschierten mit Fackeln, schrien „Sieg Heil!“ | |
und sangen ihre pseudoheidnischen Schnitterlieder – im Chor. Sie spürten | |
eine unerschöpfliche Kraft in ihren Kehlen, und sie feierten ihr | |
Deutschland auf dem Höhepunkt seiner Macht und Stärke. Sie feierten im | |
Sachsenhain den Herzog Widukind, der sich gegen die Franken und ihren | |
christlichen Kaiser erhoben hatte – zum Schluss, nach seiner Niederlage, | |
hatte er sich in Anwesenheit seines Erzfeindes, Karls des Großen, taufen | |
lassen. Und als frisch gebackener Deutscher konnte ich es mir in meinen | |
Anfangsjahren in der BRD auf einmal sehr gut vorstellen, was es hieß, sich | |
stark und groß und unbesiegbar zu fühlen – eine kollektive Einheit zu | |
bilden. Im polnischen Sozialismus hatten wir diese Kraft nie erreicht, | |
nicht einmal unter Stalin. Die Sonne ist in meiner Heimat nie so | |
aufgegangen wie 1933 in Deutschland oder 1918 in Russland, um eine kurze | |
Zeit im Zenit zu stehen und alles bisher an Gewalt und Abartigkeit Gewesene | |
in den Schatten zu stellen. | |
Als Verdener Gymnasiast bekam ich es auf einmal mit der Angst zu tun. Was | |
geschah mit mir? Warum fühlte ich mich plötzlich wie ein Zeitzeuge, wie ein | |
Rädchen in der deutschen Geschichte, eine Zelle von Millionen Zellen in | |
diesem perfekt funktionierenden Organismus? Ich wusste, dass ich einen | |
Fehler gemacht hatte. Ich musste aufhören, wie ein Deutscher zu denken und | |
zu sprechen. Ich war Pole, und ich musste keine Gewissensbisse haben, weil | |
ich mich vom Sachsenhain angezogen fühlte. Ein Ort zum Spazieren, | |
Entspannen und Meditieren, rechtfertigte ich mich damals. Die Drecksarbeit | |
musste ich in diesem Fall den Deutschen überlassen. Sie sollten im | |
Sachsenhain aufräumen – nicht ich, der ich in Ostpreußen geboren wurde, als | |
Kind einer polnischen Mutter aus Litauen und eines deutschen Vaters aus | |
Bartoszyce, der sich seiner ostpreußischen Herkunft als Junge hatte schämen | |
müssen. In den Fünfzigern wurde er auf der Straße beschimpft: „Heil | |
Hitler!“, begrüßten ihn seine ukrainischen und polnischen Kumpels. | |
Nun wohne ich schon seit einundzwanzig Jahren in Verden und fahre seit 1998 | |
jeden Sommer nach Warmia und Masuren, wo ich meine Kindheit verbracht habe. | |
„Was willst du in Verden?“, fragen mich meine Schriftstellerkollegen aus | |
Berlin oft, als wäre Berlin tatsächlich der Garten Eden und das ultimative | |
Lebensziel eines jeden Menschen. Sie begreifen nicht, wer ich bin und woher | |
ich komme. Sie wissen nicht, dass ich inmitten von Fischern, Säufern, | |
Ertrunkenen, Huren, Katecheten und Vertriebenen aufgewachsen bin – in | |
Warmia und Masuren, wo einst Steine und Kiefern wie Götter angebetet | |
wurden, wovon schon Tacitus in seinen Reiseaufzeichnungen schreibt. In | |
einem Land, in dem die Heilige Maria bestimmt, was es zum Mittagessen gibt. | |
In einem Land, in dem eine Frau die Hosen anhat und kurz vor Weihnachten | |
nach Baden-Baden fährt, um als Altenpflegerin in einem privaten Haushalt zu | |
arbeiten (mittlerweile eine ganz weit verbreitete Praxis in den deutschen | |
Städten), während ihr Mann bei Wodka vom Reichtum träumt. In einem Land, in | |
dem die Männer vor Eifersucht ihre Frauen erstechen wollen. In einem Land, | |
in dem sich die Frauen nie langweilen – in dem sich ihre Männer und Kinder | |
ständig langweilen. In einem Land, in dem die Kinder auf der Waschmaschine | |
gezeugt werden. In einem Land, das wirtschaftlich mehr und mehr verkommt, | |
weil viele der Männer seit Jahren in Oslo Badezimmer fliesen müssen, um | |
ihre Familien zu ernähren, die sie nur an Weihnachten und in den | |
Sommerferien sehen. | |
Auf einem anderen Findling steht: „Der Weg mit ihm zum Kreuz.“ Und einer | |
meiner auswärtigen Besucher, ein Dichter und Maler aus Frankfurt am Main, | |
sagte mir während unseres Spazierganges, Deutschland sei ein Kreis. Es | |
dulde keine halben Sachen, jedes Vorhaben müsse gelingen und vollständig | |
aufgehen. Ich antwortete fragend: „Sowohl im Guten wie auch im Bösen?“ Ja, | |
bestätigte er mir, und das mache diesen Kreis so gefährlich, fuhr er fort, | |
weil ein Kreis per se vollkommen sei, wie jede geometrische Figur, und | |
Vollkommenheit dulde keine Schwächen. Ich sagte ihm: „Mein Gott, seid ihr | |
arm dran!“ In schweren Zeiten, wenn es darum ginge, als Nation zu | |
überleben, entwickele der Pole einen unglaublichen Kampfgeist, erklärte ich | |
ihm. Der berühmte Säbel werde gezogen, der selbst vor Panzern (im September | |
1939) und Hubschraubern (im Dezember 1970 in Danzig) nicht zurückschreckte | |
und sie „niedermähen“ wollte wie Menschen. Ich sagte außerdem: Doch sobald | |
wir meinen, glücklich zu sein, kehren wir auf dem Absatz zu unserem Elend | |
und Leid zurück, und die Hassliebe zwischen Russen und Deutschen sei uns | |
dann wieder ein rotes Tuch und wir schauten dann, wie schon so viele Male, | |
voller Hoffnung nach Amerika und England, manchmal nach Frankreich. Zurzeit | |
seien wir in Amerika verliebt, fügte ich hinzu. Aber ein Kreis? Was solle | |
der Pole mit einem Kreis, wenn er am liebsten ein Kreuz trage? Wie der | |
Russe, der stets ein König der Slawen sein wolle. Mein Gast sagte: | |
„Menschen vergehen und leben.“ | |
„Menschen vergehen, leben“ – so lautet eine der nächsten Zeilen auf den | |
Findlingen. Andere Sätze sind noch eindringlicher, weil sie sich einem ins | |
Gedächtnis brennen wie Fürbitten: „Mit leiden helfen“ oder „Gib Brot“… | |
der Kreis schließt sich, nach einem jeden Rundgang im Sachsenhain, mit | |
Vergehen und Auferstehen – dem Leben, und wahres Leben bedeutet in jeder | |
Religion Ewigkeit und bei den Christen Auferstehung. Ich frage mich seit | |
Jahren, was dieser Gedanke vom Vergehen und Leben, sprich von der | |
Auferstehung, mit Deutschland zu tun hat, das 1945 und 1989 wiedergeboren | |
wurde. Dieses Land ist mir eine Insel geworden – eine Heimat. Unsere | |
Politiker tun jedoch so, als wäre die Bundesrepublik tatsächlich für die | |
Ewigkeit geschaffen. Ich muss nicht allzu tief graben, in meiner | |
Biographie, um zu begreifen, wie vergänglich Reiche und Staaten sind. Den | |
Sozialismus, in dem ich geboren wurde und der mich geschult hat, gibt es | |
nicht mehr. Ein ähnliches Schicksal wird auch die BRD eines Tages ereilen, | |
das Kartenhaus wird zusammenbrechen und Neuem Platz machen. | |
In meinen Gedanken und Träumen begegne ich oft meiner polnischen Großmutter | |
aus Litauen, weil sie wohl am tiefsten von allen meinen Verwandten erfahren | |
hat, was Vergehen und Leben bedeutet, zumal sie als strenge Katholikin an | |
Gott, die Auferstehung und die Ewigkeit inbrünstig geglaubt hat, auch wenn | |
sie im Sterben und nicht mehr ganz Herrin ihrer geistigen Kräfte einige | |
blasphemische Verwünschungen aussprach und die Kirche tatsächlich | |
verdammte, mit Jesus und Maria an der Spitze. Ihren ersten Mann verlor sie | |
bei einem Unfall in einem Steinbruch, kurz vor Ausbruch des Zweiten | |
Weltkrieges. Sie hatte von ihm ein Kind, das sich an seinen Vater kaum | |
erinnerte. Der Junge wuchs während des Krieges auf – bei seinen Großeltern, | |
in der Nähe von Konin in Großpolen, wo die Bauern jeden Tag vor Angst | |
zitterten, erschossen oder in ein KZ verschleppt zu werden, obwohl sie | |
keine Partisanen oder Juden waren. Sie wussten seltsamerweise, wohin die | |
Züge fuhren und warum die Viehwagen so übel rochen. | |
Als meine Großmutter von fünfjähriger Zwangsarbeit in einem Dorf bei | |
Hannover wieder nach Hause zurückkehrte, wurde sie von ihrem Kind, | |
mittlerweile einem fast zehnjährigen Jungen, gefragt: „Wer bist du, Frau – | |
kobieto?“ Doch ihr Mutterherz schlug weiter, blieb nicht stehen. Sie kam | |
nach Zamęty, in ihr Elterndorf, mit einem Mann – sie hatte in Deutschland | |
einen Geigenspieler geheiratet, den Sohn des Postdirektors aus Poznań. Dem | |
Franzosen, der sie um ihre Hand gebeten und der ihr in Frankreich den | |
siebten Himmel versprochen hatte, gab sie 1945 einen Korb. Nein, sie kam | |
zurück nach Polen – zum Ärger ihrer Geschwister, die nach Amerika hatten | |
auswandern wollen, wo es Arbeit gab, aber sie wollte ihren Sohn | |
zurückhaben, und nach polnischem, ungeschriebenem Familiengesetz wanderte | |
man damals zusammen aus. Oder gar nicht. Wer dieses Gesetz brach, galt als | |
Nestbeschmutzer. | |
Als ich fünfzehn war, allein in meiner Provinz- und Geburtsstadt Bartoszyce | |
wohnte und auf den Reisepass und die Ausreisegenehmigung wartete, fragte | |
ich meine Großmutter einmal, ob sie die Deutschen hasse. Ich sagte zu ihr: | |
„Schau, eine deiner Töchter lebt in dem Land, das dich von deinem Kind | |
getrennt hat, und ich werde auch bald in dieses Land gehen, weil es meine | |
Eltern so wollen, und deine Brüder, die zusammen mit dir in Deutschland | |
gelitten und das KZ überlebt haben, verdammen dich bis heute, dass sie mit | |
dir nach Polen zurückfahren mussten. Die Deutschen haben dir die Jugend | |
gestohlen und dich zur Sklavenarbeit gezwungen und gesagt: ,Sei froh, dass | |
du überhaupt leben darfst und einmal täglich was Warmes zu essen hast.‘ | |
Warum hasst du sie nicht?“ | |
Ich fragte sie dies kurz vor meiner Ausreise in die BRD. Wir saßen auf zwei | |
Küchenstühlen in meiner fast leer geräumten Wohnung, die mir meine Eltern | |
nach ihrer eigenen Ausreise überlassen hatten. Die Möbel hatte ich | |
verkaufen müssen, weil ich Geld zum Leben brauchte. Und um die Reisen zu | |
meinem Mädchen in Poznań bezahlen zu können. Meine Großmutter, die mit mir | |
des Öfteren Pink Floyd und SBB, eine polnische Kultband aus den Siebzigern, | |
hörte, dachte nicht lange nach und sagte: „Du bist so dumm. In deinem Alter | |
war ich auch so dumm! Meinst du, die Deutschen sind Ungeheuer und keine | |
Menschen? Sie haben mir das Leben geschenkt, während sie andere | |
totgeschlagen haben.“ Meine Großmutter hieß Natalia Frankowska, geborene | |
Szablewska aus Litauen. Sie wurde sechsundachtzig Jahre alt. Menschen | |
vergehen, leben. | |
Dieser Essay wird im September erscheinen in der Anthologie „Peine, Paris, | |
Pattensen - literarische Erhebungen vom platten Land“, herausgegeben von | |
Mathias Mertens, Wallstein-Verlag | |
26 Aug 2006 | |
## AUTOREN | |
Artur Becker | |
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