# taz.de -- Umschlagplatz erlesener Waren | |
> BABEL MED MUSIC Ein Dock am Marseiller Hafen steht während dreier Tage im | |
> Zeichen der Weltmusik. Drumherum tobt der Stadtumbau | |
VON ELISE GRATON | |
Die Zebras vermehrten sich. Als das Weltmusik-Forum Babel Med Music 2005 | |
seine Premiere feierte, diente ein Zebra als Maskottchen. Im Jahr 2006 | |
wurden daraus zwei, 2007 bereits drei. „Bald gab es auf dem Poster keinen | |
Platz für mehr Zebras“, erzählt der Ethnomusikologe und künstlerische | |
Co-Direktor Sami Sadak: „Also nahmen wir eine Giraffe. Mit Zebrastreifen.“ | |
Vergangenes Jahr, als der alte Hafen im Stadtzentrum eine neue Fassade | |
verpasst bekam und sich Marseille „Europäische Kulturhauptstadt“ nennen | |
durfte, prangte erstmals ein gestreifter Kran auf dem Plakat. Und nun, | |
2014, ist es ein Bagger. Denn die Bauarbeiten im Zentrum der Stadt laufen | |
auf Hochtouren, auch im strukturschwachen Gebiet, das sich vom alten zum | |
neuen Hafen zieht. Hier, hinter den Stadtteilen Panier und Joliette, | |
befindet sich auch das Festivalgelände am Dock des Suds. | |
Einst diente das Dock des Südens der Lagerung von Zucker und Gewürzen aus | |
der Karibik und der Region um den Indischen Ozean, bevor die Ware von hier | |
aus weiter Richtung Norden verkauft wurde. Seit 1998 wird das Gelände als | |
Veranstaltungsort mit mehreren Konzerträumen genutzt. Wenige Meter von der | |
neuen Endhaltestelle der Tramlinie 2 erwartet die Besucher eine | |
Großbaustelle. Die ehemaligen BewohnerInnen der umliegenden, bereits | |
sanierten Gebäude sind größtenteils ausgezogen. Früher oder später wird | |
auch das Babel Med Music umziehen müssen, noch weiter raus aus dem | |
Stadtzentrum. Die Rede ist von einem seelenlosen Kulturzentrum, über dessen | |
Bau bereits verhandelt wird. | |
Doch 2014 dient das Dockareal im Rahmen der Babel Med Music noch einmal | |
seiner Bestimmung als globaler Umschlagplatz erlesener Waren: in diesem | |
Fall feinster Musik aus aller Welt. Während dreier Tage trifft sich hier | |
die internationale Musikbranche, um bei Publikumskonzerten, einer Fachmesse | |
und einem angegliederten Konferenzprogramm, die Zukunft der „World Music“ | |
zu erkunden. Ein kurzer Rundgang über den Marché genügt, um sich in | |
Erinnerung zu rufen, dass es beim Babel Med Music nicht allein um die Kunst | |
geht, sondern auch ums Geschäft. Ob Vertriebe aus Norwegen oder Produzenten | |
aus Marokko, Festivals von den Kapverden oder Labels aus Brasilien, alle | |
preisen hier ihre Dienste mit bunten Broschüren an. | |
Flyer und Demo-CDs verteilt auch die chinesische Musikerin Sissy Zhou. Den | |
um sie Versammelten überreicht sie ihre Werbemittel wie in einer rituellen | |
Zeremonie, behutsam, stoisch, mit Demut. Zhou spielt seit ihrem sechsten | |
Lebensjahr Guzheng, eine Wölbbrettzither. Laut der chinesischen Medizin | |
soll ihr Klang zur inneren Ruhe, ja sogar zur Heilung von Nervenkrankheiten | |
beitragen. Beim Erlernen der Guzheng musste Sissy Zhou allerdings eher | |
leiden: „Selbst wenn meine Fingerkuppen bluteten, musste ich weiterspielen. | |
Und meine Mutter schlug mich, wenn ich nicht auf meine Handhaltung | |
achtete“, erzählt die junge Frau, die sich erste Guzheng-Lehrerin | |
Frankreichs nennt. | |
## Deal und Handhaltung | |
Natürlich vergreife sie sich nicht an ihren Schülern, bemängelt allerdings | |
deren Ungeduld und Unwillen, die traditionelle Handhaltung zu lernen. So | |
sehr scheint sich Sissy Zhou dann doch nicht um Traditionen zu scheren, | |
denn auf der Bühne adaptiert sie auf ihrem vor mindestens 2.500 Jahren | |
erfundenen Instrument unbekümmert Fadoklassiker, spielt Bach oder vermischt | |
neuerdings chinesische mit provenzalischen Klängen. Vom Festival Babel Med | |
Music erhofft sie sich einen Plattenvertrag. Als wäre dies ein Stichwort, | |
springt ein älterer Mann aus der Interviewrunde auf und gibt sich als | |
Musikproduzent inkognito zu erkennen. Sein Label kümmere sich zwar | |
ausschließlich um taiwanesischen Pop – aber für Sissy Zhou wäre er bereit, | |
eine Ausnahme zu machen. Und schon werden Visitenkarten ausgetauscht. | |
Mission erfüllt. | |
Am anderen Ende der Halle befindet sich eine kleine Bühne, die für lokale | |
Bands reserviert ist. Momentan spielt das Bélouga Quartet, vier Männer mit | |
provenzalischen Flöten und kleinen Trommeln. Zwischen dem fröhlich | |
gestimmten Publikum hastet eine Frau hin und her, drückt allen Flyer in die | |
Hand, verteilt den Rest auf den umliegenden Tischchen und lässt sich | |
erschöpft auf einen Stuhl fallen. „Die Poster muss ich auch noch | |
aufhängen“, schnauft Christina Rosmini. Sie vertrete eine Musikerin, die | |
demnächst voll durchstarten wird. „Sie macht etwas Besonderes: Französische | |
Songkompositionen – mit arabisch-andalusischen Sounds. Eine gewagte | |
Mischung“, wie sie findet. Ihr Augenlid zuckt nervös. „Ich habe letzte | |
Nacht an der Website gewerkelt. Bei der Babel Med kann man es sich einfach | |
nicht leisten, unvorbereitet aufzukreuzen.“ Dies bestätigt Pressesprecher | |
Olivier Rey: „Babel Med Music ist zwar eine Starterveranstaltung“, | |
erläutert er, „es ist aber nicht das Printemps de Bourges der Weltmusik.“ | |
Es ist also kein Sprungbrett für junge Talente. Die MusikerInnen, die unter | |
den 1.026 Bewerbungen aus 47 Ländern dieses Jahr berücksichtigt wurden, | |
sind künstlerisch interessant, aber bereits so professionell gereift, dass | |
sie gleich morgen auf Tour fahren könnten, sollte sich das hier ergeben.“ | |
Dieses Jahr haben es immerhin 31 geladene Künstler aus 30 Ländern | |
geschafft, die großen Showcase-Konzerte des Docks vor einer Mischung aus | |
Fachpublikum und lokalem Jubelpublikum zu bespielen. | |
Einer der Glücklichen ist Jupiter Bokondji. Auch er ist schon ein alter | |
Hase. Bereits 1995 gründete er seine Band Okwess International und nach | |
eigenen Angaben entwickelt der Kongolese seit Anfang der Achtziger einen | |
eigenen Musikstil. Damals kehrte der Diplomatensohn gerade von einem | |
sechsjährigen Berlinaufenthalt zurück, währenddessen er nicht nur die Songs | |
von Jackson 5, David Bowie oder Frank Zappa im Radio studierte, sondern | |
auch den Rassismus. „Zu Hause entdeckte ich die traditionelle Musik meiner | |
Heimat und ihre ungeheure Vielfalt. Im Kongo leben etwa 450 Ethnien und sie | |
zeichnen sich dadurch aus, dass sie zehn bis 15 eigene Rhythmen haben! Mich | |
machte es sehr wütend, wie dieser musikalische Reichtum von der | |
kongolesischen Rumba verdrängt wurde, der Musik der Kolonisten.“ | |
So machte sich Jupiter Bokondji daran, die traditionellen Rhythmen mit | |
westlichen Instrumenten zu transkribieren, mit dem Ziel, seiner Musik eine | |
internationale Dimension zu verleihen und sein Land endlich von der Rumba | |
zu befreien. Der Bürgerkrieg brachte den Plan erst mal durcheinander und | |
ein Großteil seiner Band floh nach Europa. Doch Jupiter harrte aus. Erst im | |
Jahr 2007 wurde die Welt durch den französischen Dokumentarfilm „La danse | |
de Jupiter“ über Kinshasas Musikszene auf ihn aufmerksam und endlich wurde | |
sein Debütalbum daraufhin veröffentlicht. | |
## Einladung von Albarn | |
Als ein Ergebnis wurde Jupiter von Blur-Sänger Damon Albarn im Rahmen der | |
Africa Express Tour nach Großbritannien eingeladen. „Mittlerweile widmen | |
sich immer mehr kongolesische MusikerInnen der Entdeckung ihrer eigenen | |
Rhythmen“, berichtet Bokondji. Wie ausgezeichnet sich diese Musikstile | |
exportieren lassen, stellt sein abendlicher Bühnenauftritt unter Beweis: | |
Das Konzert entpuppt sich als der kraftvollste und energetischste Moment | |
des Festivals. Mit Punkattitüde lässt Jupiter Bokondji einen brummelnden | |
Bass auf traditionelle Zebola-Rhythmen treffen. | |
Am Sonntag regnet es in Strömen. „Ihr habt zu viele Bretonen eingeladen“, | |
witzelt Papet J, Mitglied der Marseiller Reggaeband Massilia Sound System, | |
dem Babel-Med-Team zu, und tritt in eine Pfütze. Die Schlaglöcher der | |
Straße auf dem Weg zur Straßenbahn sind voll mit Regenwasser. Demnächst | |
soll hier alles neu asphaltiert werden. „Wir sehen uns nächstes Jahr wieder | |
hier!“, ruft Sami Sadak Papet J hinterher. Die Kommune habe zugesichert, | |
dass das Dock die Weltmusik noch bis 2020 beherbergen darf. | |
26 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
ELISE GRATON | |
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