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# taz.de -- Das öffentlich-private Ich
> Ein Symposion in Köln versucht die Rolle der „Protagonisten im
> Dokumentarfilm“ zu erforschen – und stößt dabei auf die prekäre Rolle …
> Regisseurs
von STEFAN REINECKE
Im April 2006, kurz nach dem spektakulären Hilferuf der Lehrer an der
Berliner Rütli-Schule, filmte eine Reporterin eine jugendliche
Migrantengang in Hamburg Mümmelmannsberg. Das Feature wurde im ZDF gesendet
und provozierte einen Skandal. Die Regisseurin habe den Kids Geld bezahlt
und zu einer effektvollen Schlägerei vor der Kamera angestiftet. Das ZDF
wollte diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen und recherchierte nach.
Das Ergebnis, zu sehen in der Sendung „ZDF Reporter“, war ein halber
Freispruch in eigener Sache. Die Geldbeträge waren gering, außerdem habe
man im Rohmaterial des Beitrags „keine Regieanweisung“ gefunden, die die
Kids zu Gewalt aufgefordert hätte.
Diese Geschichte illustriert, wie dokumentarische Bilder im TV entstehen.
Die Hartwährung in diesem Geschäft ist nicht Geld, sondern Aufmerksamkeit.
Der Regisseur kauft Authentizität – und bezahlt dafür mit dem Versprechen
narzisstischen Gewinns und medialen Ruhms, sei er noch so klein und
flüchtig. Eine Regieanweisung ist in diesem Tauschgeschäft gar nicht nötig:
Die Hamburger Kids wussten selbst genau, welche Bilder in einem Feature
über Jugendgangs erwartet werden.
Der „Protagonist im Dokumentarischen“, mit dem sich ein Symposion der
dokumentarfilminitiative dfi in Köln befasste, ist ein unsicherer Kandidat
geworden. Dass die Beobachtung das Beobachtete verändert, ist bekannt – neu
ist, dass die Kamera auf Protagonisten trifft, die sich perfekt auf die
verlangten Rollenspiele verstehen und als Schauspieler in eigener Sache
auftreten. Diese Fähigkeit ist der Rohstoff, der das halbdokumentarische
TV-Genre in Gang hält, das von Jugendgang-Reportagen bis zu inszenierten
Formaten wie „Super Nanny“ reicht. „Es gibt“, so der Medienkritiker Fri…
Wolf, „kein Zurück zu den unschuldigen Protagonisten.“
Die ungezählten TV-Versuchsanordnungen, in denen Menschen beim Häuserbauen
oder Kinderkriegen inszeniert werden, die Talkshows, in denen sie ihr
Innerstes nach außen kehren, sind Frontalangriffe auf die Privatsphäre.
Diese Schutzzone, ein Kernbereich der bürgerlichen Gesellschaft, franst in
den Medien aus. Allerdings kommt man dem mit einem Täter/Opfer-Schema kaum
näher, in dem die Medien böse und die Protagonisten Verführte sind. Es ist
komplizierter, wie schon an „Big Brother“, dem Urknall des
semidokumentarischen Genres, ablesbar war. Medienkritiker stellten in der
dritten Staffel der Container-Serie verblüfft fest, dass sich die
Protagonisten eine doppelte Identität zugelegt hatten: ein privates und ein
öffentlich-privates Ich. Damit allerdings löste sich auch das
Authentizitätsversprechen des Genres auf – und „Big Brother“ war am Ende.
Wenn sich Protagonisten in Schauspieler verwandeln, stellt das den
klassischen Dokumentarfilmer vor ein Problem. Er braucht Figuren, die über
eine gewisse Wahrhaftigkeit verfügen. Hinzu kommen veränderte
Produktionsbedingungen: Der Dokumentarist wandelt sich unter dem Druck der
TV-Sender vom Autoren zum Dienstleister, der liefert, was die Formate
verlangen. Als später Erbe des autonomen bürgerlichen Künstlers, der einen
Stil ausprägt und ein Werk schafft, ist der Dokumentarist eher ein
Auslaufmodell.
Der Ostberliner Regisseur Thomas Heise zählt zu dieser bedrohten Spezies,
ebenso wie Andres Veiel. Heise, der mit „Stau“ und „Halle-Neustadt“
ethnografische Erkundungen der rechten Jugendszene geschaffen hat,
betrachtet die „Industrialisierung des Genres“ (Heise) mit Verachtung. So
werden auch im Dokumentarfilm immer öfter Verträge zwischen
Produktionsfirma und Protagonist abgeschlossen, in denen das Tauschgeschäft
Authentizität gegen Aufmerkamskeitsgewinn juristisch wasserdicht besiegelt
wird. Für Heise ist dies ein Angriff auf den filmische Prozess, der offen
für Zufälle, Nebensächliches, Ungeplantes sein muss und den juristische
Fixierungen oder pädagogische Ziele zerstören. Der Dokumentarist ist in
dieser Beschreibung ein Künstler, der sein Modell porträtiert. Kern des
Arbeit ist die Spannung, die durch das Anschauen und Angeschautwerden
entsteht und die in keinen Vertrag passt. „Wenn Mona Lisa“, so Heise, „er…
einen Vertrag unterzeichnet hätte, in dem geregelt ist, wie sie gemalt
wird, hätte sie nicht gelächelt.“
Das Dokumentarische als Kunst ist somit von allen Seiten angegriffen: von
Redakteuren, die Formate wollen, von Protagonisten, die sich in Posen
werfen, so bald die Kamera läuft. Und von der Entwicklung der
Bildtechnologien und Schnittsoftware, die den Unterschied zwischen Profi
und Amateur verschwinden lässt.
Eine mögliche Antwort darauf ist es, den Kids einfach selbst die Kamera in
die Hand zu drücken, wie in der Reihe „Videotagebuch“, die seit Jahren im
NDR läuft. Oliver Schwabe, der als „Herausgeber“ firmiert, montiert das
Material zu einer TV-kompatiblen Erzählung. Der Regisseur verschwindet und
verwandelt sich zu einer Art Redakteur. Ähnlich funktioniert auch Sebastian
Winkels’ wunderbare Dokumentation „7 Brüder“, das Porträt einer Mülhei…
Familie. Winkels hat seine Protagonisten auf eine theaterhaft anmutende
Bühne gesetzt, acht Stunden lang, ohne ihnen eine Frage zu stellen, reden
lassen und aus dem Material den Film montiert.
Diese Theatralisierung findet sich auch in Andres Veiels „Der Kick“ und
Calle Overwegs „Das Problem ist meine Frau“. Bei Veiel sprechen zwei
Schauspieler Originalmaterial, das einen spektakulären rechtsextremen
Mordfall rekonstruiert. Die Theaterform ist bei Veiel und Overweg vor allem
eine pragmatische Lösung – die Täter wollten nicht vor der Kamera
auftreten. Doch jenseits dieses plausiblen Motivs ist die Theaterform auch
eine Reaktion auf die Krise des Dokumentarischen. Der Dokumentarist
antwortet auf die Krise mit einem Rückgriff auf eine erprobte, fiktive
Form: das theatralische Spiel. Statt posierender Protagonisten treten
gleich Schauspieler auf. Und was der Dokumentarfilmer zu tun hat, ist hier
klar: Er führt Regie.
26 Sep 2006
## AUTOREN
STEFAN REINECKE
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