# taz.de -- Extrakt der Exzesse | |
> In seiner Autobiografie gibt sich der Exfußballer Paul Gascoigne als | |
> notorischer und reuiger Schwerenöter aus | |
Über Paul Gascoigne wurden im Laufe der Jahre viele Gerüchte in die Welt | |
gesetzt. Um es gleich vorwegzunehmen: Viele davon entsprechen der Wahrheit. | |
Auf den hinteren Seiten seiner Autobiografie „Gazza – Mein verrücktes | |
Leben“ befinden sich fünfzig gesammelte Gascoigne-Schelmenstücke. Die | |
meisten davon haben sich wirklich zugetragen. | |
Ja, es ist wahr, er habe seinem farbigen Mitspieler bei Newcastle United, | |
Tony Cunningham, eine Reihe von Solariumbesuchen gebucht. Richtig ist auch, | |
dass er eine Videoaufnahme für eine Unternehmensberatung mit den Worten | |
„Frohe Weihnachten, ihr beschissenen Wichser“ beendete. Aber es stimmt | |
nicht, dass Gascoigne seinen Kumpel Jimmy alias „Five Bellies“ dazu | |
brachte, eine Fleischpastete zu essen, die statt Fleisch mit | |
Katzenexkrementen gefüllt war. Denn, so stellt Gascoigne klar: „Es war | |
meine eigene Scheiße.“ Wie einfach wäre es, diesen Fußballexzentriker im | |
Langzeitgedächtnis abzulegen – als ordinären Komiker, trinkfest und derb. | |
Buch zu. Und fertig. | |
Doch noch einmal zurück auf Seite eins, wo Gascoigne die „Karte seines | |
Lebens“ in Kleinformat abdrucken lässt. Die Grafik entstand bei einer | |
Entziehungskur in Arizona. Dort zeichnete Gascoigne von links nach rechts | |
alle entscheidenden Ereignisse seines Lebens ein. | |
Mit sieben Jahren hat er erstmalig „Angst zu sterben“. Bei „10“ steht: … | |
von Steven“; auf dem gemeinsamen Heimweg wurde sein Schulfreund von einem | |
Auto überrollt. Unter dem Eintrag „18 Jahre“ notiert er: „Süchtig nach | |
Spielautomaten, beginne zu stehlen, neun verschiedene nervöse Zuckungen, | |
Depressionen, Nase gebrochen, jemand überfahren“. Mit 23: „Zwei | |
Operationen, verprügelt worden, gebrochene Kniescheibe, viermal operiert“. | |
32: „Schlaftabletten, Kokain, große Wut“. 35: „Blackouts, Paranoia, | |
Schüttelfrost, Wunsch zu sterben“. | |
Seine immensen Probleme sind jeweils fett hervorgehoben: Wein, Bier, Wodka, | |
Whiskey, Brandy, Kokain, Morphium sind die Mittel, mit denen er sich | |
betäubt. Vergeblich sucht man die sportlichen Erfolge des | |
Ausnahmefußballers auf dieser Lebenskarte. Er hat sie nicht vermerkt. Das | |
Banner, in Wirklichkeit zwei Meter lang und einen Meter breit, zeigt die | |
Geschichte eines gescheiterten Lebens. „Ich führte ein behämmertes Leben, | |
ich war ein behämmerter Typ“, schreibt Gascoigne. | |
Definitiv ist „Gazza“, das zum besten britischen Sportbuch des Jahres 2005 | |
gekürt wurde, keine typische Fußballerbiografie. Ungeschönt erzählt | |
Gascoigne seinen Aufstieg vom nordenglischen Rotzlöffel zum internationalen | |
Fußballstar. Ebenso offen beschreibt er auch seinen sportlichen und | |
persönlichen Abstieg. „Beknackt“ und „behämmert“ sind zwei von ihm h�… | |
benutzte Wörter. | |
Während sich andere im „Ich bereue nichts“-Stil üben und ikonisieren, kom… | |
dieses Buch erstaunlich selbstkritisch daher. „War mein Leben gut? Nein, | |
verdammt überhaupt nicht“, schreibt Gascoigne und wünscht sich: „Ich möc… | |
noch einmal Kind sein. Ich möchte noch mal sieben Jahre alt sein.“ Über | |
seine Beziehung zu seiner Exfrau Sheryl sagt er: „Ich habe sie geschlagen, | |
ich habe gesoffen und die Kinder vernachlässigt, (…) und ich bin darauf | |
alles andere als stolz.“ Eine solch schrecklich ehrliche Autobiografie | |
eines Fußballers gab es bisher noch nicht. | |
Es wäre auch gar nicht Gazzas Art, ein normales Produkt abzuliefern. Dass | |
tat er nicht auf dem Platz und erst recht nicht außerhalb davon. Er mochte | |
die Gemeinschaft seiner Mannschaftskameraden, war geradezu versessen auf | |
Ballspiele und hasste es zu verlieren. Er liebte Süßigkeiten, Bier und | |
Döner, neigte zu Übergewicht und war einer der besten englischen Fußballer | |
aller Zeiten. In allen Lebensbereichen verfiel er der Maßlosigkeit, er war | |
ein Kicker, der mit mehreren Todsünden lebte. Immer wieder beschreibt sich | |
Gascoigne als „Kind, das nicht erwachsen werden will“. | |
Zwischen seiner „Lebenskarte“ zu Beginn und der Anekdotensammlung im Anhang | |
darf der Leser auf 361 Seiten einen tiefen (voyeuristischen) Blick in das | |
Innere einer höchst komplizierten Persönlichkeit werfen. Auf dem Weg der | |
Besserung verfasste Gascoigne im Jahre 2004 zusammen mit Hunter Davies | |
dieses Dokument seiner Ausschweifungen, die auch nach dem Verfassen der | |
Autobiografie weitergehen. Das ist sich Gascoigne, mittlerweile 39 Jahre | |
alt, schuldig. Unlängst musste er eine Nacht im Gefängnis verbringen. Paul | |
Gascoigne, das enfant terrible, hatte sich geprügelt – nach einer Zechtour | |
im Londoner Nachtleben. Wahrscheinlich sammelt er Anekdoten für eine | |
Fortsetzung seines „verrückten Lebens“. LARS GEIGES | |
Paul Gascoigne und Hunter Davies: „Gazza – mein verrücktes Leben“. Bombus | |
Media 2005, 384 Seiten, 19,90 € | |
23 Dec 2006 | |
## AUTOREN | |
LARS GEIGES | |
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