# taz.de -- Das hatte die Welt noch nicht gesehen | |
> FUNKTION UND ÄSTHETIK Weniger ist mehr. Zum 125. Geburtstag des | |
> Architekten Ludwig Mies van der Rohe | |
VON RONALD BERG | |
Less is more – weniger ist mehr“, das Motto der Architekturikone Ludwig | |
Mies van der Rohe scheint heute aktueller denn je: Sollten wir nicht alle | |
weniger Energie verbrauchen, ressourcenschonender leben, | |
materialeffizienter bauen? Sparsamkeit scheint das Gebot der Stunde. Es | |
wird in Zukunft auch kaum etwas anderes übrig bleiben, so in absehbarer | |
Zeit das Öl verbraucht, die Atomkraft als zu gefährlich (und zu teuer) gilt | |
und die Wälder gerodet sind. | |
Doch so hatte es Mies natürlich nicht gemeint! Am 27. März vor 125 Jahren | |
in Aachen als Sohn eines Steinmetzmeisters geboren, gehörte er zu einer | |
Generation, für die Umweltschutz noch kein Thema war. Was Mies zu einem der | |
größten Architekten des 20. Jahrhunderts machte, war die Absage an den | |
überflüssigen Ballast des historistischen Stilplunders, den die Architekten | |
bis zum Ersten Weltkrieg an die Gebäude klebten. Es gab andere Neuerer in | |
der modernen Architektur wie Walter Gropius oder Le Corbusier, die ihre | |
Gebäude nackt und nüchtern in die Gegend setzten, aber keiner entwickelte | |
aus dem Verzicht so viel Gewinn: Mies van der Rohes Gebäude sind die | |
perfekte Synthese aus Eleganz und Logik, ob klein, ob groß, ob beim | |
Weltausstellungspavillon in Barcelona von 1929 oder beim 157 Meter hohen | |
Seagram-Building in New York von 1958. | |
Heute ist Mies ein Klassiker, seine Möbel- und Hausentwürfe „reduced to the | |
max“, wie eine der vielen Verballhornungen seines Mottos lautet. Bis zum | |
Einbruch der Postmoderne wurden vor allem seine Stahl- und Glasgebilde aus | |
der Zeit in Amerika nach 1938 zum allseits kopierten – und banalisierten – | |
Vorbild. Doch „Bauen wie Mies“ ist heute kein Thema. 42 Jahre nach seinem | |
Tod fragt man sich, ob Mies jenseits antiquarischer Interessen noch etwas | |
zu sagen hat. | |
Das Phänomen Mies ist nicht vom Himmel gefallen. Mies hat von 1908 bis 1912 | |
als Mitarbeiter im Büro des AEG-Architekten Peter Behrens in Berlin viel | |
gelernt. Auch das Motto „Weniger ist mehr“ könnte er von Behrens | |
aufgeschnappt haben. Schon Behrens pflegte einen entkleideten, auf die | |
Geometrie reduzierten Klassizismus. Tatsächlich baute Mies seit seinem | |
ersten Erstling 1907 noch bis in die Mitte der zwanziger Jahre eine ganze | |
Reihe von Villen im sachlich-klassizistischen Stil. Diese Villenbauten | |
lassen nicht ahnen, dass deren Schöpfer nach dem Ende des Weltkriegs mit | |
einer Handvoll (unrealisierte) Entwürfe den Gang der Architekturgeschichte | |
verändern sollte. Neben zwei Landhausprojekten waren Entwürfe für | |
Hochhäuser aus Stahl und Glas am spektakulärsten. So etwas hatte die Welt | |
noch nicht gesehen. Mies nahm damit die Wolkenkratzerarchitektur um | |
Jahrzehnte voraus. Seine Glastürme wären damals wohl in der geplanten Form | |
gar nicht zu realisieren gewesen. Doch darauf kam es nicht an. Mies’ | |
Entwürfe zeigten nicht, was man beim Stand der Technik erreichen konnte, | |
sondern wie man in Zukunft bauen sollte. Sie antizipierten, worin die | |
Realität sich erst schicken musste. | |
Die Anfangsjahre der Weimarer Republik waren auch für Mies in jeder | |
Hinsicht ein Aufbruch. Er trennt sich von Ehefrau und den drei Töchtern, | |
taucht in den Berliner Zirkeln der Avantgarde ein, bei den Dadaisten, | |
Konstruktivisten und Neusachlichen, wird Mitglied diverser Architekten- und | |
Künstlervereinigungen, gibt eine Zeitschrift heraus – und er liest. Es gibt | |
wohl kaum einen Architekten, der so intensiv und so viele philosophische | |
Bücher studiert wie Mies zu dieser Zeit. Thomas von Aquin hat er als | |
Inspirator später selbst immer wieder genannt, aber auch die | |
zeitgenössischen Denker – etwa Max Scheler, Oswald Spengler oder Romano | |
Guardini – liest Mies mit spitzem Bleistift. Die vielen Anstreichungen in | |
den Bänden seiner umfangreichen Bibliothek beweisen es. | |
Mitte der zwanziger Jahre ist seine Vorstellung vom Bauen abgeschlossen. | |
Welchen Anteil die Lektüre oder die Begegnung mit Zeitgenossen wie Le | |
Corbusier oder dem De-Stijl-Aktivisten Theo van Doesburg daran haben, lässt | |
sich nicht genau rekonstruieren. Jedenfalls hat Mies das Jahr 1926 selbst | |
als das für ihn bedeutsamste genannt. Danach ändern sich seine Ideen nicht | |
mehr wesentlich. Zu dieser Zeit arbeitet Mies am Konzept der Stuttgarter | |
Weißenhofsiedlung. Das Projekt ist eine Ausstellung des Deutschen | |
Werkbunds, zu der Mies fast die gesamte europäische Architektenavantgarde | |
der Zeit einlädt – darunter auch Le Corbusier und Behrens. | |
War Mies der „gute“ Architekt bis dahin gleichsam als Medium eines ominösen | |
„Zeitwillens“ erschienen, wird dem Bauen nun ein stärker subjektives Moment | |
zugebilligt. Bauen sei „Ausdruck geistiger Entscheidungen“. Die Form ist | |
nicht Ziel, sondern „Resultat unserer Arbeit“, erklärt Mies. Die leidige | |
Suche der Architektur nach einem neuen Stil hat für Mies damit ein für | |
allemal ein Ende. „Die neue Zeit ist eine Tatsache“, verkündet Mies, und | |
sie habe andere Prämissen, als sich mit „ästhetischen Spekulationen“ zu | |
befassen. Für Mies muss Bauen aus dem Wesen der Aufgabe heraus geschehen. | |
Die neuen technischen Mittel liefern neue Möglichkeiten. Entscheidend aber | |
ist die Frage, wie man damit umgeht. „Ob wir hoch oder flach bauen, mit | |
Stahl oder Glas bauen, besagt nichts über den Wert dieses Bauens“, erklärt | |
Mies. Daher seine Forderung: „Wir haben neue Werte zu setzen, letzte Zwecke | |
aufzuzeigen, um Maßstäbe zu gewinnen.“ Jedes fertige Haus wird für Mies zur | |
Antwort auf die fundamentale Frage: Wie wollen wir leben? Die Antworten der | |
Architektur sieht Mies weder in der Form als Endzweck des Bauens noch in | |
der Verabsolutierung der Funktion oder der Vergötzung des technisch | |
Machbaren. Form, Funktion und Technik, all das spielt eine Rolle, aber | |
zuallererst sei Bauen „ein geistiges Problem“. | |
Um diese Fragen, um eine „Rangordnung der Werte“, geht es Mies. Wollen wir | |
uns zur natürlichen Umgebung öffnen, oder wollen wir uns vor ihr schützen? | |
Wollen wir beim Bauen allgemein gültige Lösungen oder individuelle Modelle | |
entwickeln? Solche und ähnliche Fragen berühren etwas Wesentliches. Denn | |
sie setzen Werte, bestimmen, was uns etwa das Natürliche oder das Soziale | |
wert sind. Das Bauen ist nur der materielle Vollzug geistiger | |
Entscheidungen. | |
Insofern wären ein umweltschonender Umgang mit Energie und eine nachhaltige | |
Verwendung von Rohstoffen eine Wertfrage. Hohe Renditen und die | |
Reklamewirkung spektakulärer Fassaden wären auch Werte – nur andere. Die | |
verbreitete Bevorzugung von billiger Investitionsarchitektur, | |
Schlossattrappen und Eventarchitektur mit Hoffnung auf „Bilbao-Effekt oder | |
die wahlweise Verschmelzung derartiger Ansätze bei Shopping Malls und | |
Bürotürmen von Las Vegas über Braunschweig bis nach Schanghai sagt eine | |
Menge über die derzeit praktizierte Rangordnung der Werte aus. Die | |
Sehnsuchtsformel „Less is more“ kann man hier getrost auch ästhetisch | |
lesen. „Entscheidend aber“, so hatte es Mies formuliert, „ist die Frage | |
nach dem Wert.“ Diese Frage hat auch zu Mies’ 125. Geburtstag nichts an | |
Aktualität eingebüßt. | |
■ Das Mies-van-der-Rohe-Haus in Berlin-Hohenschönhausen zeigt bis zum 10. | |
April Fotografien von Mies-Bauten von Ludwig Glaeser, ehemals Kurator des | |
Mies-Archivs am MoMA in New York | |
26 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
RONALD BERG | |
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