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# taz.de -- Missionieren im Super-8-Format
> EXPERIMENTALKINO „Jesus – Der Film“, eine Kollektivanstrengung unter der
> Regie von Michael Brynntrup aus dem Jahr 1986, erscheint jetzt in digital
> restaurierter Fassung – und als Buch
Der Berliner No-Budget-Horror-Filmer Jörg Buttgereit hatte sich die
Kreuzigung gewünscht und auch bekommen. Die Tödliche Doris dreht die
unbefleckte Empfängnis an einer ägyptischen Straßenkreuzung. Und Peter
Gente und Heidi Paris vom Merve-Verlag haben gleich zur Apokalypse
gegriffen. Anfang 1985 war das alles, nachdem der Super-8-Filmer Michael
Brynntrup pünktlich im vorhergegangenen Advent die Erleuchtung zu seinem
ersten Langfilm hatte: Ein Super-8-Monumentalfilm sollte es sein, die x-te
Neuverfilmung des Neuen Testaments – typisch größenwahnsinnig für einen ins
Leben stürmenden Mittzwanziger, der bisher nur (allerdings fast frühreif
perfekte) Kurzfilme gedreht hatte.
Zusätzlich spielte er dabei auch selbst noch ein bisschen Gott. Oder
zumindest Strippenzieher. Denn der „Jesus-Film“ war gedacht und gemacht
nicht als Soloarbeit, sondern als weitgespanntes Omnibus-Projekt mit
anderen Filmemachern oder filmaffinen FreundInnen und Künstlern von
Stiletto bis zur Anarchistischen Gummizelle.
Brynntrup gab jedem bis zu zehn Kassetten Orwo-Film (schwarzweiß) für eine
oder mehrere Episoden und koordinierte die Arbeit per Telefon und
sogenannten Jesusbriefen, die Richtung und Anregungen angaben. Denn wie bei
der surrealistischen Cadavre-Exquis-Methode sollten die einzelnen Episoden
sich untereinander verknüpfen, ohne dass ihre Macher über die Intentionen
der ‚Mitspieler‘ informiert wären. Kontinuität gab Brynntrup aber auch,
indem er bei vielen Episoden selbst Regie führte. Und sich in der Rolle des
Jesus – von der Embryonalstellung bis zur Dornenkrone – fast durchgehend
selbst besetzte.
Als der Film 1986 im Forum der Berlinale uraufgeführt wurde, waren in gut
zwei Stunden 35 Episoden von 22 Regieführenden versammelt. Und ein Spektrum
an Stilen, das von expressionistischem Pathos bis zu subversivem Humor
reichte. Immer schon hatte die Religion eine zentrale Rolle in den Arbeiten
des im katholischen Münsterland aufgewachsenen Filmemachers gespielt.
„Jesus – Der Film“ mischte seine eigenen Stimme mit anderen und erinnert …
Miteinander von blasphemischen, ironischen, banalen und naiv verzückten
Momenten – samt performativer Brotvermehrung mit Toaster auf einem
Weddinger Bürgersteig – auch an die Arbeiten des ähnlich katholisch
geprägten Christoph Schlingensief. Ein wenig Bibelkenntnis wird beim
Zuschauer zur Genusssteigerung beitragen.
Natürlich war das Filmprojekt auch ein toller Abenteuerspielplatz für
Brynntrup, der als junger schwuler Filmemacher damals noch recht frisch in
Westberlin war, wo sich Mitte der 1980er Jahre Hausbesetzer, Punk und
Kunstavantgarde zu einem produktiven Amalgam mischten. So kam der
Jesus-Film (Alle Macht der Super 8!) nicht profan in den regulären
Filmverleih, sondern wurde im Rahmen sogenannter Missionstourneen mit
Spektakel auf den Weg gebracht.
Dabei war das Filmprojekt sowohl in der überregionalen (mit Einbeziehung
von DDR-FilmerInnen!) wie in der multimedialen Vernetzung auch ein Beispiel
für damals avantgardistische Arbeitsweisen, die heute als digitale
Kulturtechniken selbstverständlich geworden sind. Da wären die das
Filmprojekt begleitenden seriellen zwölf Jesusbriefe. Und ein ausführliches
Arbeitstagebuch, das sich wie ein riesiger Blog liest, jetzt aber ganz
analog in einem dicken Buch im Berliner Verlag Vorwerk8 veröffentlicht
wurde.
„Jesus – Der Film – Das Buch“ amalgiert Jesusbriefe und „Tabu“ zu e…
polyphonen Gesamtkunstwerk, das viele erhellende und erheiternde Einblicke
in Mühen, Konflikte und Glücksmomente der individuell gesteuerten
Kollektivanstrengung enthält. Ergänzt wird es durch Illustrationen, einen
Episodenguide und zwei Essays von Randall Halle und Vivien Sigmund. Und:
Mag das Verständnis des Films unter dem gesellschaftlichen Verlust
religiöser Verbindlichkeiten in den letzten Jahrzehnten leiden, so werden
die im Jesus-Buch festgehaltenen Dokumente aus dem Leben einer historischen
Subkultur umgekehrt vielleicht erst heute in ihrem ganzen Reichtum
erkennbar.
SILVIA HALLENSLEBEN
■ „Jesus – Der Film – Das Buch“. Verlag Vorwerk8, 352 S., Deutsch/Eng…
, 330 Abb., 29 Euro
■ „Jesus – Der Film“, digitalisierte und restaurierte Fassung, Freiluft…
Weißensee, 5. 9., 20.30 Uhr
4 Sep 2014
## AUTOREN
SILVIA HALLENSLEBEN
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