# taz.de -- Die bedrohliche Einsamkeit der Natur | |
> SCIENCE FICTION In Jeff VanderMeers „Auslöschung“ stößt eine Expedition | |
> an die Grenzen des Wissens | |
Vier Frauen werden in ein menschenverlassenes Gebiet entsandt: eine | |
Anthropologin, eine Biologin, eine Vermesserin und eine Psychologin. Die | |
Psychologin ist die Leiterin der Expedition. Sie sollen Messungen machen, | |
die Gegend erkunden und ihre Beobachtungen so genau wie möglich in einem | |
Tagebuch festhalten. Die Frauen bleiben namenlos. Dass es sich um eine | |
Gruppe von vier Frauen handelt, hat mit den Auswahlkriterien der geheimen | |
Regierungsbehörde „Southern Reach“ zu tun, die seit einiger Zeit | |
Expeditionen in die sogenannte „Area X“ schickt, in der sich die Natur auf | |
sonderbare Art verändert. | |
Wo diese „Area X“ liegt, werden die Leser von „Auslöschung“, dem ersten | |
Band der „Southern-Reach-Trilogie“ des US-amerikanischen | |
Science-Fiction-Autors Jeff VanderMeer, nie erfahren. Auch andere Fragen, | |
die sich beim Lesen dieses Buchs stellen mögen, bleiben unbeantwortet. | |
Insbesondere die Ursachen für die wild wuchernde Natur kann man allenfalls | |
erahnen. Dieses Sich-selbst-Überlassen der Leser gehört zur Methode des | |
Romans. Dafür bekommt man andere Informationen, um die man womöglich gar | |
nicht gebeten hatte. So kündigt die Biologin, die Erzählerin des Romans, | |
schon auf den ersten Seiten an, dass zwei der Teilnehmerinnen nach zwei | |
Tagen tot sein werden. | |
Man hat daher Grund zur Annahme, dass die Forschungsreise kein Erfolg wird. | |
Am Schluss des Buchs fragt man sich jedoch, ob die ominösen Auftraggeber | |
der Expedition überhaupt einen erfreulicheren Ausgang des Unternehmens | |
erwartet haben. Die einzige Überlebende, die Biologin, macht jedenfalls | |
einige Entdeckungen, die wenig Zweifel daran lassen, dass ihrer Gruppe ganz | |
bewusst Informationen vorenthalten wurden. Konsequent aus der | |
Ich-Perspektive beschreibt die Biologin ihre Erlebnisse, schildert mit | |
großer Präzision die unbekannte Lebensform, die sie in einem unterirdischen | |
„Turm“ finden – an die Wände geschriebene Worte, die aus Pflanzen besteh… | |
und sich wie biblische Prophezeiungen lesen. Auch den Verfasser dieser | |
lebenden Zeilen bekommt die Biologin irgendwann zu sehen, wobei sie bei dem | |
Versuch, das Etwas, das sie da beobachtet, zu klassifizieren, im Grunde | |
kapituliert. | |
„Auslöschung“ entwickelt seine Spannung im Zusteuern auf eine Katastrophe, | |
der die Biologin mit naturwissenschaftlicher Sachlichkeit begegnet, soweit | |
es ihr möglich ist. Das Szenario des Romans illustriert denn auch ein | |
erkenntnistheoretisches Problem, ähnlich wie in Stanislaw Lems Klassiker | |
„Die Stimme des Herrn“: Lem schildert die Bemühungen von Wissenschaftlern, | |
ein aus dem Weltall aufgefangenes „Signal“ zu decodieren, was in einem | |
umfangreichen Forschungsprogramm resultiert. Er diskutiert ausgiebig die | |
unterschiedlichsten Hypothesen und Theorien, die am Ende viel Geld | |
verschlungen, aber kein brauchbares Wissen hervorgebracht haben werden. | |
Bei VanderMeer folgen die Leser stattdessen einer Einzelgängerin, die sich | |
immer schon in der Natur mehr zu Hause fühlte als unter Menschen. Ihr steht | |
kein Theoriearsenal zur Verfügung, aus dem sie auswählen kann, sie | |
beschränkt sich auf die Entnahme von Proben. Irgendwann muss sie sich | |
eingestehen, dass die mutierte Natur in „Area X“ ihr fremd bleibt: „Wenn | |
ich keine echten Antworten habe, liegt das daran, dass wir immer noch nicht | |
wissen, welche Fragen wir stellen sollen. Unser Instrumentarium ist | |
nutzlos, unsere Methodologie liegt in Trümmern, unsere Beweggründe sind | |
egoistisch.“ | |
Der Weg zu dieser pessimistischen Einsicht ist blutig, wenngleich er nicht | |
völlig frei von Hoffnung scheint: Ob die Biologin eines Tages einen anderen | |
Zugang zu ihrer neuen Umgebung findet, bleibt offen. | |
TIM CASPAR BOEHME | |
■ Jeff VanderMeer: „Auslöschung“. Aus dem Englischen von Michael Kellner. | |
Verlag Antje Kunstmann, München 2014, 240 Seiten, 16,95 Euro | |
13 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
TIM CASPAR BOEHME | |
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