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# taz.de -- „Ich habe keinen guten Geschmack“
> MATERIAL CULTURE Daniel Millers Gespür für die Dinge ist eines für die
> menschlichen Beziehungen
INTERVIEW KATRIN KRUSE
London. Ein kleiner, erstaunlich kühler Raum im Anthropology Department des
University College. Der Ausblick ist unspektakulär, besser so: Man ist bei
einer Begegnung mit Daniel Miller, der einen neue Perspektiven auf die
Konsumgesellschaft lehrt, ohnehin eher auf die Dinge konzentriert. Eine
Front Bücherregal, ein Schreibtisch im Arbeitsdurcheinander. An der
Innenseite der Tür heftet ein Jeansrock, dessen unterer Teil in goldfarbene
Volants übergeht. Auf dem winzigen Besuchertisch liegt ein
rot-weiß-schwarzer Läufer in dem, was für gewöhnlich Ethnomuster heißt. Was
ist das für einer, der Miller? Weiß man natürlich nicht – will man aber
auch gar nicht mutmaßen. Daniel Miller, Professor für Material Culture,
arbeitet als ethnologischer Feldforscher. Für sein bei Suhrkamp
erschienenes Buch „Der Trost der Dinge“ hat er eine Feldforschung in der
eigenen Gesellschaft betrieben und die Bewohner einer Londoner Straße
besucht – 17 Monate lang. Miller erzählt ihre Geschichten anhand ihrer
Beziehung zu den Dingen – zu Möbeln, Spielzeugen, Küchenutensilien. Das
Buch versammelt 15 ungeheuer dicht gesponnene Porträts. Zugleich ist seine
Grundannahme, dass sich menschliche Beziehungen gut anhand ihrer
Beziehungen zu Dingen beschreiben lassen, eine Provokation für jede
Gesellschaftskritik, die im Konsum per se Entfremdung wahrnimmt.
taz: Mister Miller, erfährt man mehr über die Menschen, wenn man sie mit
Ihrer Methode anschaut?Daniel Miller: Ich habe ein Problem mit dieser
abstrakten Sache namens Methode. Als Anthropologe will ich Menschen in
einer spezifischen Gesellschaft verstehen, und meist unterscheidet sich die
grundlegend von meiner eigenen. Meine Arbeit setzt also schlicht zwei
Fähigkeiten voraus: Empfindsamkeit und Einfühlungsvermögen. Ich lerne die
Leute in einer Feldforschung ja nicht mit Hilfe einer formellen Struktur
kennen, durch Interviews oder Fragebögen. Ich gehe eher wie einer vor, der
Freundschaften schließt. Die Methode, wenn Sie so wollen, ist Sensitivität:
Es gilt, den angemessenen Weg zu finden, jemanden kennen zu lernen. Aber
Ihre Form der Annäherung unterscheidet sich sehr von dem, was wir
normalerweise tun, wenn wir auf Unbekannte treffen. Erstens: Sie lassen
keine schnellen Schlüsse über Ihr Gegenüber zu. Zweitens: Sie nehmen sich
ungeheuer viel Zeit. Es scheint, als sei Ihre erste Regel: Vermute nichts!
Wahrscheinlich ist es unmöglich, gar nichts zu unterstellen – aber ich
bemühe mich, dass mir die eigene Voreingenommenheit nicht die Sicht
verstellt. Tatsächlich mag ich Studien, bei denen das Resultat grundlegend
von dem abweicht, was ich erwartet habe. Idealerweise lässt man sich vom
Material, von den Aussagen und allen Hinweisen so tief durchdringen, dass
sie tatsächlich verändern, wie man denkt. Man hört zu, und dabei lernt man:
Das ist Feldforschung. Heißt: keine Hypothesen?Ich habe eine einzige
Hypothese: Ich kenne das, was ich untersuchen will, überhaupt nicht. Und
das stimmt ja auch. Diese Hypothese wird zum Problem, wenn Sie sich für
Forschungsgelder bewerben. Dort hat man gern vorweggenommene Resultate.
Aber mir gefällt eben schon die Idee nicht, dass es so etwas wie „Millers
Methode“ geben könnte, die man beliebig anwenden kann. Ich gehe bei jeder
Studie anders vor. Und nicht nur das: Ich verändere mein Vorgehen im Laufe
jeder Arbeit. Wer in der Mitte seiner Feldforschung noch dasselbe Vorgehen
hat wie anfangs, zeigt nur, dass er über diese Gesellschaft nichts gelernt
hat. Spiegelt das vorweggenommene Ergebnis nicht schlicht unsere
Alltagswahrnehmung? Das stimmt. Aber immer so offen zu sein, wie ich es
während meiner Arbeit bin, wäre ungeheuer schwierig. Ich selbst habe im
Alltag wahrscheinlich ebenso viele Vorurteile wie jeder andere auch. Wenn
ich arbeite, versuche ich, keine zu haben. Die Konzentration auf die Dinge
hilft dabei. Außerdem habe ich noch einen Vorteil: Ich habe einfach keinen
guten Geschmack. Das hilft? Bei meiner Arbeit schon. Ich fälle nie
Geschmacksurteile in den Häusern anderer – ich könnte es gar nicht. Ich
schaue die Dinge einfach an und versuche, sie zu verstehen. Wir halten
unsere Dingkultur gern für oberflächlich und entfremdet. Sie schreiben: Das
ist sie keineswegs. Warum nicht? Es ist selbstverständlich immer möglich,
dass jemand so auf seinen Besitz konzentriert ist, dass er seine
Beziehungen zu anderen Menschen vernachlässigt. Das nehmen wir ja meist an,
wenn wir uns über die Konsumkultur beschweren – und in der Denktradition in
Deutschland von Simmel bis zur Frankfurter Schule gilt genau das als großes
Problem. Nach sechs Forschungsarbeiten an Orten wie London bin ich zu einer
rasanten Generalisierung bereit: Es scheint mir, dass Menschen entweder gut
darin sind, Beziehungen zu haben – oder nicht. Die Leute, die gelungene
Beziehungen zu anderen Menschen hatten, konnten auch gelungene Beziehungen
zu den Dingen herstellen. Das Problem der Sozialwissenschaftler ist, das
sie verallgemeinert sprechen: Alle sind entfremdet. Ich glaube das nicht.
Ich sehe die Leute nicht in einem Nebel entfremdeter Fragmentarisierung
herumlaufenEine Ihrer Thesen, warum sie das nicht tun, ist folgende: Die
Ordnung der Dinge, die diese Leute selbst errichten, stabilisiert sie auch.
Ja, weil sie gute Beziehungen aufgebaut haben. Wenn ich Beziehung sage,
meine ich die zu Menschen ebenso wie die zu Objekten. Die Dinge vermitteln
das Gefühl eines Fundaments. Und sie geben einem vor, wie man sich zu
verhalten hat – für gewöhnlich fällt uns das nur nicht auf. Wir denken
gemeinhin, die Präsenz der Dinge sein offensichtlich, weil sie ja materiell
sind. Tatsächlich aber sind sie oft unsichtbar, gewissermaßen demütig.
Meist sind die Dinge einfach da, um die Atmosphäre zu schaffen. Wenn man in
ein gemütliches Zuhause kommt, sagt man: Es ist behaglich. Niemand würde
hier die geblümte Tapete beschreiben. Die Dinge sind ein Rahmen: Sie sollen
das, was um sie herum ist, auch die Menschen inmitten von ihnen, betonen –
und nicht die Aufmerksamkeit auf sich selbst ziehen. Entgeht man den
gängigen Genres des Über-sich-selber-Redens, wenn man sich jemandem über
seine Dinge nähert? Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Sprache
und den Objekten. Beim Sprechen geht es immer um Legitimation. Man ist sich
sehr bewusst, was man sagen sollte: wie man zu sein hat, wie man wirkt.
Über Alltagsgegenstände wird aber nicht gesprochen, sie sind einfach eine
Ansammlung, Teil einer Praxis. Deswegen mag ich Objekte. Reden allerdings
müssen Sie trotzdem über sie. Wie gehen Sie vor? Es stimmt, Leute tendieren
zu vorgefertigten Erzählmustern. Sie erzählen Geschichten über sich, immer
wieder dieselben Anekdoten. Aber ich stelle ja nicht die Fragen eines
Journalisten. Ich frage nach dem Lampenschirm, dem Teppich, dem
Beistelltisch. Wann haben Sie diesen Fernseher gekauft, wer war dabei,
warum steht er genau hier? Weil das sonst niemand fragt, haben die Leute
kein Script dafür. Und vor allem: Es gibt keine richtige Antwort auf die
Frage nach dem Teppich. Genau deshalb lassen sich die Leute auf mich ein.
Alltagsobjekte haben eine angenehme Neutralität. Sie alarmieren niemanden,
sie zwingen niemanden in die Verteidigung. Die Leute reden gern über diese
Dinge – weil nicht viel auf dem Spiel steht. Das klingt so, als seien die
Dinge ganz unschuldig – und vor allem ganz unbeschrieben. Dabei benutzen
wir viele Objekte ganz anders, unter dem Identitätsaspekt. Wir wissen, wie
andere sie lesen, und setzen sie deshalb als großes „So einer bin ich“ ein.
Kleidung ist hier wahrscheinlich das Offensichtlichste. Aber ich würde
unterscheiden zwischen Leuten, die sich sehr bewusst sind, wie sie
aussehen, und solchen, die den öffentlichen Raum als entspannte Sphäre
begreifen, in der sie sich um ihre Erscheinung nicht kümmern. Für ein Date
oder eine Party – das ist etwas anderes. Aber viele wollen sich keine
Gedanken darüber machen, wenn sie im Bus sitzen. Schauen Sie sich in der
Londoner U-Bahn um: Die meisten tragen absolut uninteressante, eintönige
Sachen, die keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Damit drücken sie aus,
dass dies für sie eben kein Raum der Darstellung ist. Sie sind einfach da.
Wir unterstellen gern Bewusstheit, den Wunsch nach Selbstausdruck, nach
Repräsentation des Eigenen. Ihnen geht es dagegen um unser Verhältnis zu
den Dingen – aber jenseits der Identitätsversessenheit? Bei Kleidung und
den Dingen geht es um weit mehr als um Selbstausdruck. Das ist ein
zentraler Punkt in meinem Buch. Die Leute verbringen nicht den Großteil
ihrer Zeit ganz bewusst als Individuen, die ihre Individualität ausdrücken
wollen. Im Gegenteil. In meinem Buch erscheint es als Versagen, nur ein
Individuum zu sein: weil es bedeutet, dass man keine Beziehungen führt. Die
Porträtierten wollen Verbundensein, innige Beziehungen zu anderen – und sie
sind höchst einverstanden damit, ihre Individualität für etwas zu opfern,
das größer ist als sie selbst: Liebe zum Beispiel. Tatsächlich machen
Beziehungen, die das Leben bedeutsam machen, für die Befragten den größten
Unterschied zwischen Glück und Unglück aus. Die meisten Leute haben nicht
das Gefühl, dass sie diese Bedeutsamkeit selber herstellen können. Es muss
durch andere Menschen geschehen. Aber eben nicht einfach durch einen, der
im Vorübergehen sagt: Das sieht aber gut aus!
28 May 2011
## AUTOREN
KATRIN KRUSE
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