# taz.de -- Der Mann, der aus der Kälte kam | |
> MISSION Der Grüne Boris Palmer ist der bekannteste Bürgermeister | |
> Deutschlands. Keiner polarisiert wie er. Jetzt will er wiedergewählt | |
> werden. Beim Amtsantritt hatte er Tübingen die ökosoziale Transformation | |
> versprochen. Und? | |
AUS TÜBINGEN PETER UNFRIED | |
Kaum hat der Oberbürgermeister von Tübingen sein Fahrrad angehalten, setzen | |
sich Leute aus den Vorgärten in Bewegung. Es ist ein sonniger Tag, und | |
Boris Palmer steht jetzt auf der Fahrradwegbrücke eines Neubaugebiets. Er | |
trägt Dienstkleidung, also Anzug, Krawatte, Fahrradhelm, seit einiger Zeit | |
auch Brille. Die Radtour durch die Stadt soll zeigen, was sich in den | |
letzten acht Jahren alles zum Positiven verändert hat. Ammerwiesen ist ein | |
wirklich schönes Neubaugebiet, fünf Minuten zur Altstadt, einige Terrassen | |
liegen direkt am Wasser. Gerade als er erzählt, dass der Fahrradweg vom | |
baden-württembergischen Verkehrsminister persönlich eingeweiht wurde, | |
erreicht eine ältere Frau als Erste die Brücke. „Grüß Gott“, sagt Palmer | |
und nickt ihr zu. Die Bürgerin hält sich mit Grüßen nicht auf. Sie zeigt | |
auf den Rasen neben dem Bächlein und sagt: „Do fehlt a Mülleimer.“ | |
Boris Erasmus Palmer, 42, ist der wichtigste Oberbürgermeister der Welt. | |
Sagen seine Kritiker, die ja auch in der eigenen Partei nicht mit hundert | |
Händen zu zählen sind. Das soll süffisant sein. Weil er es halt immer so | |
wichtig hat. Doch wer kann sich angesichts der Komplexität der Welt sicher | |
sein? Jedenfalls gibt es kaum Oberbürgermeister in Deutschland, die so | |
bekannt sind wie Palmer. Okay, Ude kannte man, aber der ist weg. Dann wird | |
es schon dünn. Wie heißt noch mal Stuttgarts OB? | |
Wenn man sagt, dass der Grüne OB Tübingen auf die Landkarte des 21. | |
Jahrhunderts gebracht habe, ruft die CDU: „Wir haben hier aber auch eine | |
Exzellenzuni.“ Ja, klar. Und den Hölderlinturm. Und das Schwäbische | |
Tagblatt. Und das Schild „Hier kotzte Goethe“. Aber Bloch ist tot. Und Jens | |
auch. | |
Der wichtigste Oberbürgermeister der Welt ist jetzt im achten Amtsjahr und | |
muss sich am 19. Oktober zur Wiederwahl stellen. Für die CDU | |
Baden-Württemberg wäre es zu schön, wenn Palmer stürzte. Man könnte es zwei | |
Jahre vor der Landtagswahl als Symbol verkaufen, dass der grüne Spuk im | |
Land zu Ende geht. Und faktisch hätte man den Politiker erledigt, den | |
Winfried Kretschmann bereits zu seinem Nachfolger erkoren hatte, bevor das | |
Ministerpräsidentenamt 2011 zum Mann kam. | |
Nach monatelanger Suche unterstützt die CDU nun eine parteilose Frau: | |
Beatrice Soltys, 48, Baubürgermeisterin in Fellbach bei Stuttgart. Das soll | |
als progressiv verkauft werden. Die Wahrheit ist, dass sich kein CDU-Mann | |
mit Karriereplan getraut hat, in Tübingen gegen Palmer anzutreten. Die SPD | |
tritt mangels Chancen auch nicht an. Also wird Palmer um eine grün-rote | |
Mehrheit kämpfen, nachdem er 2006 die SPD-Amtsinhaberin mit einer | |
grün-schwarzen Mehrheit geschlagen hatte. Der Wahlkampf verläuft bisher | |
unspektakulär. | |
Palmer war 34, als er gewählt wurde. Die Inaugurationsrede hielt damals der | |
2010 verstorbene Weltklimapolitiker Hermann Scheer, und das war angemessen, | |
denn der vormalige Landtagsabgeordnete Palmer hatte sich als OB der | |
ökologischen Transformation beworben. Also versprochen, das zu tun, wovon | |
die Grünen gern reden und womit sie sich seit der krachend verloren | |
gegangenen Bundestagswahl 2013 angeblich wieder intensiver beschäftigen | |
wollen. Weshalb sich die Frage stellt, was der Grüne OB in knapp acht | |
Jahren als Ökokommunalpolitiker erreicht hat. | |
Tübingen ist kein Paradies, vor allem fehlt Wohnraum für Wenigverdiener, | |
aber es hebt sich tatsächlich in den meisten Bereichen sehr positiv vom | |
Bundes- und Landesdurchschnitt ab. Hat einen schuldenfreien Haushalt, seit | |
2003 die Gewerbesteuer verdreifacht, steigende Arbeitsplatzzahlen (plus | |
4.500), wachsende Bevölkerung (plus 5.000), ist bundesweit führend in der | |
Kleinkindbetreuung. Und jetzt kommt’s: Die Wirtschaftskraft, meldet die | |
Stadt, sei um 15 Prozent gewachsen, gleichzeitig der durchschnittliche | |
CO2-Ausstoß pro Tübinger um 18 Prozent gesunken. Falls jemand denkt, wir | |
hätten doch im ganzen Land Energiewende: In der Bundesrepublik sind die | |
Treibhausgas-Emissionen letztes Jahr um zwölf Millionen Tonnen gestiegen. | |
Als Palmer antrat, sprach er von einer 70-Prozent-CO2-Optimierung bis 2020. | |
Das wäre eine Revolution. Davon ist auch Tübingen weit entfernt. Es gibt | |
keinen entsprechenden Beschluss des Gemeinderates. Aber wenn Tübingen | |
tatsächlich eine wachsende Wirtschaft und sinkende Emissionen hat, wäre das | |
„grüne Wachstum“ Realität geworden, dass der intellektuelle Parteidenker | |
und Chef der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks predigt. | |
Tübingen ermittelt seine Klimabilanz wie 250 andere Kommunen mit dem | |
sogenannten Ecoregion-Tool des Europäischen Klimabündnisses. Erfasst wird | |
der Energieverbrauch von Stadt, Industrie, Verkehr und Haushalten. Nicht | |
erfasst werden individuelle Emissionen wegen Fleisch oder Flugreisen. Da | |
wird ein Durchschnittswert genommen, der nicht berücksichtigt, wenn der | |
relativ wohlhabende Tübinger mehr fliegen sollte als andere. Sonst müsste | |
man in Haushalte einmarschieren, um die private Bilanz zu messen. Dann wäre | |
es Ökodiktatur. Oder Facebook. | |
Was Tübingens Bilanz wirklich wert ist, darüber streiten sich die Gelehrten | |
selbstverständlich. Felix Matthes, Deutschlands Dekarbonisierungsguru vom | |
Freiburger Öko-Institut, hält die 18 Prozent CO2-Senkung für wenig | |
aussagekräftig, weil der gemessene Raum viel zu klein sei. Das Klimabündnis | |
für europäische Städte, das das Tool entwickelt hat, nennt es eine | |
Annäherung. Sein Wert bestehe darin, dass eine Kommune dadurch | |
handlungsfähig werde. Tübingen sei „ein Vorreiter“. | |
Palmer sei zwar „eine Erfolgsstory auf zwei Beinen“. Grünes Wachstum sei | |
das aber keineswegs, sagt der Oldenburger Professor und | |
Postwachstumsverfechter Niko Paech. Was nicht überraschend ist, denn für | |
Paech gibt es kein grünes Wachstum, weil die Windräder, die neue grüne | |
Wirtschaft oder Tübinger Ökohäuser das Alte meist nicht ersetzen, sondern | |
zusätzlich Energie und Fläche verbrauchen. Aus seiner Sicht hilft nur | |
radikales Downsizing. Klar sei das grünes Wachstum, sagt Böll-Chef Fücks. | |
Viel mehr könne man an ökologischer Stadtpolitik nicht machen. Palmer sei | |
ein Grüner, der zeige, „wir können es“. | |
Palmer sagt, als Kommunalpolitiker könne er nicht warten, bis sich die | |
Gelehrten auf die endgültigen Messkriterien geeinigt hätten. Er habe den | |
5.000 Menschen, die nach Tübingen wollten, auch nicht sagen können, sie | |
sollten wegbleiben, damit die Emissionen nicht stiegen. Was er tun konnte: | |
dafür sorgen, dass sie so energieeffizient wohnen oder zur Arbeit pendeln, | |
dass der durchschnittliche Energieverbrauch sinkt. | |
Anders als Paech und ein Teil der Grünen glaubt Palmer, dass der | |
entscheidende Treiber des Wandels nicht verbesserte Moral ist, sondern das | |
Drehen an den richtigen Rädchen. Im Grunde versucht er die | |
Gegenwartsbezogenheit der Deutschen mit Zukunft zu verknüpfen, aber ohne | |
dass sie viel davon merken. Ein wichtiges Rädchen sind die Stadtwerke. Der | |
städtische Strommix enthält jetzt 36 Prozent Erneuerbare, das ist nicht | |
sensationell, aber mehr als anderswo. Er legte Effizienzprogramme auf, | |
sanierte öffentliche Gebäude, startete „Tübingen macht blau“, eine Art | |
praktisches Klimakulturprogramm, und schuf bei den Stadtwerken eine | |
eigenständige Stabstelle Klima und Umweltschutz, die Alltagsverbesserungen | |
für Bürger austüftelt, vom „Mobilitätsmanagement“ bis hin zum | |
Kühlschranktauschprogramm für finanzschwache Haushalte. Der Ressortchef | |
Bernd Schott ist studierter Öko, Fahrradfahrer, besitzt kein Auto. Sein | |
Idealismus ist die Folge von Tschernobyl. Bei Palmer heuerte er an, um | |
diesen Idealismus in Handeln umwandeln zu können. Er sagt, er habe „einen | |
sehr guten Außendienstmitarbeiter“, der heiße Boris Palmer und lege den | |
Unternehmern seinen Pedelec-Akku auf den Tisch, wenn er sie besuche. Oder | |
er fragt nach dem Fahrradparkplatz, wenn keiner da ist. | |
Palmer ist überzeugt, dass Politiker die grüne Moderne nicht vorschreiben | |
dürfen, aber vorleben müssen, wenn sie gesellschaftliche Mehrheiten dafür | |
wollen. Er isst Fleisch, aber er hat seine Bürger erschreckt, als er zugab, | |
im Winter ohne Kühlschrank auszukommen. So ernst sei Klimaschutz noch nie | |
genommen worden, kommentierte das Schwäbische Tagblatt, um dem OB dann | |
„missionarischen Eifer“ zu unterstellen. | |
Palmer ist nicht nur Ökopolitiker, er ist auch habitueller Öko – anders als | |
viele in der Partei. So gesehen ist es ironisch, wenn ihm Grüne vorwerfen, | |
er sei kein richtiger Grüner. Von der anderen Seite werfen sie ihm das | |
Gegenteil vor: dass er ein „ideologischer Grüner“ sei – eine Tautologie, | |
denn für die Landes-CDU ist ein Grüner immer ideologisch. Aber Palmer haben | |
viele besonders gefressen, weil er als Protagonist der Stuttgart-21-Gegner | |
maßgeblich zu ihrem Machtverlust beigetragen hat. | |
Es könne sein, dass die Verbindung gleich weg sei, sagt Sandra Ebinger, | |
stellvertretende Vorsitzende des CDU-Kreisverbands Tübingen. Sie stehe hier | |
gerade am Schlossbergtunnel im Stau. „Als Autofahrer ist man hier ja nicht | |
so gut gelitten.“ | |
Das ist der altbürgerliche Trumpf gegen Palmer: ideologischer Autofeind. | |
Der Tunnel wird nach 35 Jahren erstmals saniert, zuständig ist nicht | |
Palmer, sondern das Regierungspräsidium. Aber es geht ja nicht um die | |
Fakten, sondern darum, was hängen bleibt. | |
Fahrradfreak! Seine Gegenkandidatin Soltys will für „mehr Parkplätze“ | |
sorgen, das soll diese Stimmung bedienen. Dass Palmer mit dem Dienstfahrrad | |
fährt, wird vom Mentalautofahrer nicht als role model verstanden, sondern | |
als Bedrohung. | |
Davon kann indes keine Rede sein, wenn man mit einem organisierten | |
Radfahrer spricht. Tenor der Tübinger Sektion des Allgemeinen Deutschen | |
Fahrrad-Clubs: Der Rad fahrende OB hat das Fahrrad nicht entscheidend | |
vorangebracht. „Er darf der CDU und der Autolobby nicht zu große | |
Angriffsflächen bieten“, sagt Vorstandsmitglied Andreas Oehler. Städtische | |
Aktionen, die das Auto kritisch sehen, lehnt Palmer tatsächlich ab. Sein | |
Ansatz ist: Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer. | |
Oehler lebt im Französischen Viertel, dem sozioökologischen | |
Vorzeigestadtteil. Er hat kein Auto. Radelt in fünf Minuten in die | |
Altstadt. Generell sei das Fahrradklima in Tübingen ja auch angenehm (drei | |
Viertel aller städtischen Wege werden ohne Auto zurückgelegt). Palmer sehe | |
zwar keine Notwendigkeit, sich beraten zu lassen (weil er ja selbst alles | |
besser wisse), er sei aber inhaltlich „deutlich besser als seine | |
SPD-Vorgängerin“. Oehlers Fazit: „Wir sind nicht zufrieden, aber wir | |
glauben nicht, dass wir einen Besseren kriegen werden.“ | |
Im Neubaugebiet Ammerwiesen ist Palmer überhaupt nicht der Meinung seiner | |
Bürgerin, dass unter der Fahrradbrücke ein Mülleimer fehlt, das sieht man | |
sofort an seinem Gesicht. Aber wenn er ihr das sagt, steht er wieder als | |
Besserwisser da und nicht als Repräsentant einer bürgernahen Politik des | |
Gehörtwerdens. Irgendwann findet er sich also in einer Abhandlung über | |
Funktion und Sinn von Müllbehältnissen wieder. Seine Bürgerin bleibt dabei. | |
Da fehle ein Mülleimer. „Jetzt hat halt die Bevölkerung gesprochen“, sagt | |
sie am Ende und geht ab, worauf eine jüngere Frau – ebenfalls grußlos – | |
wissen will, wann der Kinderspielplatz endlich fertig werde. | |
Der Hauptvorwurfsstrang gegen Palmer ist: weiß alles besser. Hält sich für | |
den Schlausten. Und alle anderen für doof. Macht alles allein. Ist nicht zu | |
beraten. Also: Charakterdefizite. | |
Es stimmt, dass er Waldorfschüler war, sein Abi mit 1,0 gemacht hat, schon | |
auch als Streber galt, Mathematik studiert hat, viel und schnell und | |
möglichst zu Ende denkt, bevor er in eine Diskussion geht. Er klaut sich | |
seine Strategien nicht zusammen wie ein normaler Politiker. Er saugt keine | |
anderen ab. Deshalb hört er vielleicht nicht gut genug zu. Tritt nicht | |
bescheiden genug auf. Fragt nicht erst mal alle anderen, was sie davon | |
halten, um dann engagiert die Mehrheitsmeinung zu vertreten. | |
Es stimmt, dass er bei der Landesregierung in Stuttgart einreitet, wenn | |
dort ein Gesetz beschlossen werden soll, dass aus seiner Sicht der Realität | |
nicht standhält. Wenn er „liebe Leute“ sagt, dann wissen sie schon, dass er | |
ihnen erklärt, was sie wieder falsch gemacht haben. Da freuen die sich | |
natürlich total. Besserwisser kann nun wirklich keiner brauchen, schon gar | |
nicht die Grünen. Bei Palmer aber müssen sie mit dem Schlimmsten rechnen; | |
dass er es tatsächlich besser weiß. Wenn er am Ende richtig liegt, wie mit | |
der Warnung vor einem Steuererhöhungswahlkampf vor der Bundestagswahl, | |
hassen sie ihn doppelt. | |
Während man bei den Grünen den Berliner Protagonisten Göring-Eckardt, | |
Hofreiter und Özdemir vorwirft, dass sie es fachlich nicht draufhaben, | |
wirft man Palmer letztlich vor, dass er es ethisch und menschlich nicht | |
draufhat. Er macht sich die Finger schmutzig, und das ist für ihn | |
Verantwortungsethik – und für sie Verrat an der Gesinnungsethik. Die linken | |
Grünen halten Palmer für moralisch minderwertig. Und er hält sie für | |
geistig minderbemittelt. Dahinter stehen zwei konkurrierende Modelle von | |
Zukunftspolitik. Aus Sicht der klassischen Linken, linken Grünen und | |
Sozialdemokraten fehlt Palmer das Verständnis für soziale Probleme, | |
Arbeiter und Wenigverdiener. Er sei mittelschichtsfixiert. Für Palmer ist | |
Ökopolitik auch Sozial- und Wirtschaftspolitik, also der Schlüssel zur | |
Zukunft. | |
Wer Ressentiments gegen Boris Palmer sucht, hat es gut: Man kann ihnen | |
nicht entkommen. Interessant ist, dass die Vorurteile sich regelmäßig | |
widersprechen. Lässt nur seine eigene Ideen gelten – schmückt sich mit den | |
Ideen seiner Mitarbeiter. Zieht gnadenlos sein Ding durch – hängt immer | |
sein Fähnchen nach dem Wind. Ist er überregional gefragt, heißt es: Hat der | |
in Tübingen nicht genug zu tun? Dabei arbeitet er rund um die Uhr. Worauf | |
Leute brummen, der Palmer habe ja gar kein Privatleben, das sei auch nicht | |
gesund. | |
Richtig hitzig wird es auch in Tübingen nicht wegen des drohenden | |
Untergangs der Weltgesellschaften, sondern wegen des umstrittenen Baus der | |
sogenannten Palmer-Treppe in der Mühlstraße. Was soll das? Darüber können | |
sie sich die Köpfe heißreden. Mancher Tübinger schwelgt in Erinnerungen an | |
die segensreiche Regierungszeit König Karls oder wenigstens die von Eugen | |
Schmid, Palmers Vorvorgänger, einem Patriarchen, der noch in würdiger Ruhe | |
vor sich hin herrschte, wie die Alten seufzen. Palmer ist manchen einfach | |
zu gegenwärtig. Zu aktiv. Zu laut. Er klopft persönlich an Autofenster, um | |
den Leuten zu sagen, dass sie hier nicht parken dürfen. Und dann ständig | |
dieses Facebook. | |
Man kann mit vielen reden, und auch der Wohlgesinnteste wird Palmers | |
Fähigkeiten für ausbaubar halten, Loyalitäten und Bündnisse zu schließen. | |
Irgendwann fällt dann der Satz, der Boris werde seinem verstorbenen Vater | |
immer ähnlicher, dem Bürgerrechtler und Remstalrebellen Helmut Palmer. Der | |
galt als der größte Sturkopf des ganzen Landes. Er ging für seine | |
Überzeugung ins Gefängnis. | |
Er habe keinen Grund, sich für seinen Vater zu schämen, sagt Palmer. Sein | |
Vater habe ihm beigebracht, Rückgrat zu zeigen und klare Worte zu sprechen. | |
Derzeit gibt es Proteste gegen Affenversuche am Tübinger | |
Max-Planck-Institut. Statt sich aus dem staatsmännischen Off betroffen zu | |
zeigen und „Aufklärung“ zu fordern, sagt der OB, er habe Mitleid, aber | |
halte die Tierversuche für „ein notwendiges Übel“ und trage sie mit. Jetzt | |
richtet sich auch hier die Wut geballt gegen Palmer. In den Fällen, da alle | |
Parteifreunde sich wegducken, kann man ihn anrufen, und er wird ein klares | |
und zu Ende gedachtes Wort finden. | |
Angst hat er keine. | |
Vom Neubaugebiet Ammerwiesen geht es mit dem Fahrrad weiter. Alle halbe | |
Minute lässt Palmer ein zackiges „Grüß Gott“ erschallen, alle paar Meter | |
wedelt er mit den Armen, um auf Belege seines Wirkens hinzuweisen. Das | |
Neubaugebiet Alte Weberei am Neckar ist eine weitere Industriebrache, fünf | |
Minuten von der Altstadt. Flächenverdichtung statt Flächenfraß war das | |
Prinzip von Palmers erster Amtszeit. Kein Investor, die Stadt hat das | |
Gelände gekauft und weitergegeben, es gibt Baugruppen und Sozialwohnungen. | |
Wasser, großer Platz mit Gastronomie, Fahrradwege, Wohnraum für 700 Leute, | |
halbierte Emissionen, verglichen mit dem Stadtdurchschnitt. | |
„Schön hier?“, ruft Palmer hinüber zu den schwäbischen Mitbürgern auf e… | |
halb fertigen Terrasse. Es soll leutselig klingen. Aber ein bisschen hört | |
es sich an, als würde ihm ein „Danke“ oder ein kleines „Ja“ mal ganz | |
guttun. | |
Trotz nicht weniger Gespräche mit Palmer thematisiert er die ausbleibende | |
Anerkennung nur einmal, nur auf Nachfrage. Und nur einmal wirkt er wirklich | |
angefasst. Das ist in Berlin, und er kommt aus der Privatsphäre. Der Drang | |
zum Gestalten in ihm muss viel stärker sein als bei den meisten anderen | |
Menschen, sodass er nie „Macht doch euren Scheiß alleine“ flucht. Auch wenn | |
Gnadenlosigkeit zur Politik gehört, ist es erstaunlich, dass selbst hoch | |
sensible Menschen denken, bei Palmer sei maximale Brutalität angemessen. | |
Woran liegt das? Der Frankfurter Sozialpsychologe Christian Schneider sagt, | |
die Leute empfänden bei ihm einen Mangel an Wärme. Er erscheine ihnen als | |
den Sachen zugewandt, aber nicht den Menschen. Sie hätten das Gefühl, er | |
schätze sie nicht, deshalb schätzten sie ihn nicht. Daraus ergebe sich, | |
dass er das rationale Argument gewinne, aber nicht immer die Menschen. Die | |
Kälte, mit der manche Palmer begegnen, wäre dann die andere Seite seiner | |
eigenen Kälte. | |
Radtour zu Ende. Abendtermin steht bevor. Tübingen bei Sonnenuntergang. | |
Südländisch anmutende Swabian girls, letzte Stocherkähne auf dem Neckar. | |
Touristen machen Selfies mit dem Hölderlinturm als Hintergrund. Man kann | |
sich Schlimmeres vorstellen, als hier zu leben. | |
Boris Palmer leitet von Hegels Dialektik über zu seiner „Schwäche“, den | |
Leuten das Gefühl des Angenommenseins zu geben. Er will da besser werden. | |
Er weiß, dass diese Wahl seine politische Zukunft entscheidet. Aber er ist | |
jetzt an dem Punkt, an dem er ist. Keiner muss ihm über den Kopf | |
streicheln. Schon gar nicht wird er dafür Bullshit erzählen. Das ist aus | |
seiner Sicht ein Versprechen. Er will jetzt wissen, ob die Tübinger | |
einsehen, dass die Vorteile überwiegen, wenn ihr Oberbürgermeister Boris | |
Palmer heißt. | |
■ Peter Unfried, 50, ist taz-Chefreporter | |
11 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
PETER UNFRIED | |
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