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# taz.de -- Auf Wiedersehen in Europa
> Was Jugoslawien sein wollte, was es war. Warum es blutig zerbrach, der
> Frieden nicht gesichert ist und es dennoch Hoffnung gibt
VON IVAN IVANJI
Im Alter wird man entweder unkritisch oder so kritisch, dass man alles
infrage stellt. Ich gehöre zur zweiten Sorte. Zu viel von dem, was ich für
richtig gehalten, woran ich geglaubt habe, hat sich als Illusion erwiesen.
Ich habe Joseph Roth gern gelesen. Wieso hat er Kakanien nachgeweint? Weiß
man heute noch, was „Kakanien“ genannt wurde? Liebevoll und doch ironisch
das „Kaiserlich und Königliche“, die österreichisch-ungarische Monarchie.
Jammere ich, wie er, weil es Jugoslawien nicht mehr gibt? Tito hat man
mitunter „den letzten Habsburger“ genannt. Er hat es gewusst, war nicht
böse, sondern hat es belächelt.
Ich habe viele autobiografische Bücher der am Zerfall Jugoslawiens
unmittelbar beteiligten Politiker gelesen und verglichen, wie sie über
Ereignisse, an denen sie teilgenommen haben, berichten. Zum Beispiel die
Bücher der letzten Präsidiumsmitglieder aus Kroatien und Serbien, Stipe
Mesic und Borisav Jovic, des letzten Verteidigungsministers Jugoslawiens,
Veljko Kadijevic, und des ersten Verteidigungsministers des unabhängigen
Slowenien, Janez Jansa. Da fügt sich ein allgemein verständliches Puzzle
zusammen. Es geht freilich nicht darum, dass Jugoslawien von der Landkarte
verschwunden ist, sondern wie, mit wie vielen Toten, Vertriebenen,
Beraubten, Misshandelten, Vergewaltigten, mit welchen materiellen und
geistigen Verlusten.
Von Amerika aus hat man seinerzeit Jugoslawien mit der Tschechoslowakei
verwechselt, von „Tschechoslowakien“ gesprochen. Aber die Tschechen und
Slowaken haben sich elegant voneinander verabschiedet, Jugoslawien aber ist
im schrecklichsten Blutbad, das Europa nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt
hat, untergegangen. Warum? Die meisten Antworten bleibe ich schuldig, weil
ich sie nicht kenne. Es ist leichter, Fragen zu stellen.
Einige Analytiker haben die Katastrophe für die Zeit nach Titos Tod
vorausgesagt. Ich habe mit ihnen diskutiert und behauptet, das auf
Arbeiterselbstverwaltung und Blockfreiheit begründete System würde
überleben, mein Land gehöre in keiner Weise zum „kapitalistischen Westen“
oder dem „stalinistischen Osten“, sei „etwas Drittes“, nirgendwo im Wes…
sei der Mensch sozial so sicher, nirgendwo im Osten so frei.
Habe ich keine Anzeichen des Zerfalls gesehen? Ich habe sie gesehen, aber
nicht wahrnehmen wollen.
Mich nervte eine Phrase, die Tito oft wiederholte: „Hütet die
Brüderlichkeit und Einigkeit unserer Völker wie euren Augapfel.“ Ich
dachte: „Was soll’s, das ist eine Selbstverständlichkeit.“ Als sein
Dolmetscher konnte ich ihn aus der Nähe sehen. In seinen letzten
Lebensjahren war er oft schlecht gelaunt. Wenn er sich unbeobachtet
glaubte, setzte er die freundlich-interessierte Maske des Staatsmannes ab,
sein Gesicht verwandelte sich in eine schmerzvolle Grimasse. Damals
erklärte ich mir das mit den physischen Schmerzen, mit denen er zu kämpfen
hatte. Heute glaube ich, dass er auch das Ende seines Lebenswerks, seines
Jugoslawiens, voraussah.
Ich kannte die wirtschaftliche Ungleichmäßigkeit der Landesteile. Hier
beschreibe ich sie auf Grund des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf aus dem
Jahr 1988 (dargestellt in US-Dollar):
– Slowenien: 5.918
– Kroatien: 3.230
– Vojvodina: 3.061
– Serbien: (ohne Vojvodina und Kosovo): 2.238
– Montenegro: 1.754
– Bosnien-Herzegowina: 1.573
– Mazedonien: 1.499
– Kosovo: 662
Das konnte nicht gut gehen. Die Reichen wollten nicht mehr Geld in Fässer
ohne Boden pumpen, die Ärmsten platzten vor Neid.
Als eine Stunde nach der Meldung über Titos Tod am 4. Mai 1980 das
Fernsehen live die Sitzung des Staatspräsidiums übertrug, auf der Lazar
Kolisevski mit belegter Stimme urbi et orbi sagte: „Auf Grund der
Verfassung übernehme ich den Vorsitz“, dachte ich: Es wird gelingen, wir
bleiben bestehen. Das Staatspräsidium bestand aus acht Mitgliedern, die von
sechs Republiken und zwei autonomen Gebieten gewählt waren und reihum den
Vorsitz ausüben sollten. 1986/87 wurde der Schriftsteller Sinan Hasani, ein
Kosovo-Albaner, Vorsitzender des Staatspräsidiums und damit Präsident des
ganzen Jugoslawiens. Ich gratulierte und sagte: „Endlich habe ich einen
Staatschef, mit dem ich per du bin.“ Er antwortete: „Ja, jetzt wo das
niemand mehr nützt.“
Verdächtig hätte mir mein eigenes Benehmen sein sollen. Slobodan Milosevic
putschte sich parteintern 1987 an die Spitze des Bundes der Kommunisten
Serbiens. Ich kannte ihn gut genug als den jüngeren Bruder meines Kollegen,
Borislav Milosevic, der Titos Russischdolmetscher war, um die Partei, der
ich seit 1951 angehörte, zu verlassen. Ich schrieb: „Ich komme zu keinen
Sitzungen mehr und werde keine Mitgliedsbeiträge zahlen. Ich weiß nicht,
wie ihr das behandeln werdet, ich habe jedoch nicht den Eindruck, dass ich
aus der Partei ausgetreten bin, sondern dass sie aus sich selbst
herausgetreten ist.“
Nach Vorträgen, die ich in Deutschland gehalten habe, pflegte ich auf die
Frage über die Feindschaft zwischen Serben und Kroaten zu antworten, das
sei nicht anders als zwischen den Bayern und den übrigen Deutschen. Wie
sehr ich mich in dieser Hinsicht geirrt habe! Ich behauptete aber auch, das
Problem der Zukunft liege im Kosovo, dort herrsche Ruhe, solange Enver
Hoxha lebe, und man sage, in Albanien ist es noch schlimmer. In dieser
Hinsicht habe ich leider recht gehabt.
Von meiner Wohnung in Belgrad konnte ich 1991 hören, wie über die Autobahn
unendlich lange Panzerkolonnen Richtung Westen donnerten. Wer könnte dieser
Macht widerstehen? Die Antwort kennen wir auch aus Vietnam oder
Afghanistan: Militärische Übermacht gegen Freiheitswillen. Brecht schrieb
übrigens: „General, dein Tank ist ein starker Wagen. Aber er hat einen
Fehler: Er braucht einen Fahrer.
In Jugoslawien war der „Fehler“ schon zu Titos Zeiten „einmontiert“. Aus
Angst, von der UdSSR überrollt zu werden, wurden neben der Armee Kräfte der
„territorialen Verteidigung“ ausgebaut. Vorbild war der Partisanenkampf
gegen die deutsche Besatzungsmacht. Ich habe aber seinerzeit für den
jugoslawischen Generalstab auch Handbücher der schweizerischen Armee
übersetzt. So weit wie dort, die Gewehre samt Munition zu Hause bei den
Wehrpflichtigen zu halten, wollte man bei uns nicht gehen. Aber Waffen,
Gerät, Fahrzeuge und so weiter waren in Gemeinden und größeren Fabriken
gelagert. Diese territoriale Verteidigung bildete die Befreiungstruppen
gegen die gesamtjugoslawische, unmotivierte Armee.
Ich bin überzeugt davon, dass Slobodan Milosevic den Krieg losgetreten hat.
Memoiren seiner nächsten Mitarbeiter beweisen es. Er wollte Slowenien aus
dem gemeinsamen Land hinausekeln, Mazedonien war ihm nicht wichtig. Wenn
man Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro zu einem
einzigen, zusammengeschweißtes Territorium machen würde, wäre die
serbische, also seine, Mehrheit unangefochten. Natürlich hätte er ohne
ähnliche „nationale Helden“, wie Franjo Tudjman (Kroatien) oder Alija
Izetbegovic (Bosnien-Herzegowina) nichts erreichen können.
Auf den Trümmern des ehemaligen Jugoslawiens stehen heute die souveränen
Staaten Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro,
Mazedonien und das nicht in internationale Organisationen aufgenommene,
Kosovo genannte Phänomen. Die Grenzen zwischen diesen Ländern sind 1945
willkürlich und teilweise unlogisch von einer Kommission des Tito-Regimes
gezogen worden, aber sie sind heute international anerkannt.
Damit ist dieses Kapitel auf dem Balkan nicht abgeschlossen. Nichts wird
besser, wenn es unter den Teppich gekehrt wird, unbeobachtet wird es immer
schlimmer. Das Abkommen von Dayton ist schlicht unmöglich, Bosnien und
Herzegowina, sowie es heute existiert, ist nicht lebensfähig.
Dieses Territorium war jahrhundertelang Teil des Osmanischen Reiches,
Österreich-Ungarns, Jugoslawiens. Eine „bosnische Nation“ und eine
bosnische Sprache mussten erst erfunden werden; es handelt sich um Serben
oder Kroaten, die sich zum Islam bekennen. Kosovo hat seit dem Mittelalter,
als auf dem Balkan – übrigens genau wie in Deutschland – eine Vielzahl
kleiner, feudaler Staaten existierte, nur von 1913 bis 1915, von 1918 bis
1941 und von 1945 bis 1999 zu Serbien gehört.
Serben und Albaner lebten in einem Imperium, das wir der Einfachheit halber
Türkei nennen. Der albanische Freiheitsheld Skanderbeg kämpfte genau so
gegen diese Besatzungsmacht wie die serbischen Fürsten. Auf dem Berliner
Kongress 1878 wollte Bismarck nichts „von diesen Hammeldieben auf dem
Balkan“ hören. So zog man willkürlich die Grenzen Serbiens, Bulgariens und
Montenegros, lehnte jedoch die Bildung eines albanischen Staates ab.
Für die Analyse der jeweiligen exjugoslawischen Länder bräuchte ich je eine
Seite der taz. Die kurze Version: Das Pulverfass steht, die Lunte ist
ausgelegt, ringsum werden Zigaretten geraucht. Ob per Zufall oder
absichtlich, wenn sich Amerika und/oder Europa umdrehen, wird es … Nein,
das mag ich nicht zu Ende denken und schon gar nicht aufschreiben.
Gibt es Hoffnung? Ja, die gibt es. Ich bringe sie auf einen Nenner: Auf
Wiedersehen in Europa. Möglichst in einem Europa der Regionen, in dem es
keine Grenzen gibt, die Nationen jedoch als Folklore gepflegt und
gehätschelt werden.
18 Jun 2011
## AUTOREN
IVAN IVANJI
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