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# taz.de -- Das Museum des Lebens
> ERINNERUNG 2013 eröffnete das Museum Polin in Warschau, nun startet die
> Dauerausstellung „1000 Jahre jüdisches Leben in Polen“. Sie richtet den
> Fokus auf den Reichtum polnisch-jüdischer Kultur
AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER
Polin heißt das neue jüdische Museum in Warschau – „hier lasse dich
nieder!“. Das hebräische Wort sollen die ersten jüdischen Siedler auf ihrem
Weg nach Osten gehört haben. Hunderttausendfach ist das Wort auf den
graugrünen Glaslamellen des Museumsgebäudes eingraviert. Vielleicht, um dem
Genius loci des Platzes zu trotzen, steht das jüdische „Museum des Lebens“
doch mitten im ehemaligen Warschauer Ghetto. Am Dienstag schneiden die
Staatspräsidenten Polens und Israels, Reuven Rivlin und Bronislaw
Komorowski, gemeinsam das rote Band durch und eröffnen die Dauerausstellung
„1000 Jahre jüdisches Leben in Polen“.
Vor dem Überfall der Wehrmacht lebten in Polen rund 3,5 Millionen Juden.
Die Hauptstadt Warschau war mit über 300.000 Juden nach New York die
zweitgrößte jüdische Metropole der Welt. Die Krochmalna- und Nalewki-Gasse
fanden über den Jiddisch schreibenden Nobelpreisträger Isaac Bashewis
Singer Eingang in die Weltliteratur. Im Warschauer Stadtteil Muranow
pulsierte das jüdische Leben. Bis die Deutschen kamen, genau hier das
Warschauer Ghetto errichteten und fast alle Juden ermordeten. Gegenüber dem
Museumseingang erinnert das Denkmal der Helden des Ghettoaufstands an den
Kampf der letzten Ghettoüberlebenden 1943 für Leben und Freiheit. Von hier
aus führt ein Gedenkpfad an kleineren Denkmälern, der Zygielbojm-Wand und
dem Anielewicz-Bunker bis zum Umschlagplatz vorbei: Von hier aus fuhren die
Züge ins Vernichtungslager Treblinka.
Doch das Museum Polin will vor allem an das Leben der polnischen Juden
erinnern. Die Idee dazu hatte Grazyna Pawlak vor über 20 Jahren. Als die
Soziologin 1993 von der Eröffnung des Holocaust-Museums in Washington nach
Warschau zurückkam, war sie begeistert von der damals geradezu
revolutionären Idee, die Museumsbesucher aktiv in die
Geschichtsinszenierung mit einzubeziehen. Ein Museum zum Mitmachen hatte es
bis dahin in Polen nicht gegeben.
Die Tochter einer Holocaust-Überlebenden arbeitete eine erste Konzeption
für ein polnisch-jüdisches „Museum des Lebens“ aus und stellte es dem
Trägerverein des Jüdischen Historischen Instituts (ZIH) in Warschau vor.
Ihr Argument, Polen brauche kein Holocaust-Museum, da mit
Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Sobibor und anderen ehemaligen nazideutschen
Vernichtungslagern authentische Orte existierten, überzeugte. So erhielt
sie den Auftrag, im Namen des ZIH die Gründung des neuen Museums
voranzutreiben. Im Jahr 1994 sprach sie den damaligen Bundespräsidenten
Roman Herzog beim 50. Jahrestag des Warschauer Aufstands von 1944 an. Wenig
später war die Anschubfinanzierung für das ambitionierte Projekt mit den
ersten 2 Millionen Mark gesichert.
Nun, 20 Jahre später, kann Grazyna Pawlak das fertige Museum mit ihrer
ursprünglichen Idee vergleichen. Während sie selbst seit Jahren die
Moses-Schorr-Stiftung leitet, übernahmen die späteren Museumsdirektoren aus
Polen, Jerzy Halberstadt und Dariusz Stola, die Kuratorin der
Dauerausstellung, Barbara Kirshenblatt-Gimblett aus Kanada, sowie der
Chefhistoriker des Hauses, Anthony Polonsky aus Großbritannien, ihre Idee.
Sie schlossen Verträge mit Polens Kulturministerium, der Stadt Warschau und
vielen großzügigen Privatspendern aus der ganzen Welt. 80 Millionen Euro
hat allein der Bau des vom finnischen Architektenpaar Rainer Mahlamäki und
Ilmari Lahdelma entworfenen Gebäudes gekostet und noch einmal knapp 15
Millionen Euro die Ausstellung.
Wie alle Besucher wird Grazyna Pawlak am Denkmal der Helden des
Ghettoaufstands vorbeigehen, den graugrünen Kubus mit der Außenhaut aus
Glaslamellen betreten und die „Furt“ entlanggehen, die an den Marsch der
Israeliten durch das Rote Meer erinnern soll. Hinter den sandfarbenen,
hohen Wänden verbergen sich ein großer Theater- und Kinosaal, Vortragsräume
und die Büros der Mitarbeiter. Eine breite, steile Treppe führt hinab zur
Dauerausstellung. Aus dem Dunkel leuchtet ihr der „Legendenwald Po-lin“ in
Grün entgegen.
Nach einem engen Korridor öffnet sich eine weiträumige und farbenfrohe
Saalflucht: das Mittelalter und die frühe Neuzeit. Wandmalereien,
Computeranimationen und die von Studenten nachgebaute Holzsynagoge von
Gwozdziec in der heutigen Ukraine machen mit der ersten Begegnung von Juden
und Christen in Polen bekannt, mit dem „Paradisus Iudaeorum“ im 16. und 17.
Jahrhundert und dem Leben in einem „Städtchen“.
Das jiddische Wort „Schtetl“ wird in der Ausstellung vermieden, da es laut
Chefkuratorin vor allem mit der kitschigen „Wenn ich einmal reich wär“-Welt
aus Anatevka von Scholem Alejchem assoziiert wird.
Die Galerie „Herausforderung der Moderne“ soll zeigen, wie sich das Leben
der polnischen Juden ab 1772 in den drei Teilungsgebieten – Russland,
Österreich und Preußen – entwickelte. Doch die Unterschiede werden kaum
klar. Dass sich in der Teilungszeit die Identität „Pole-Katholik“
herausbildet, die sich von äußeren Feinden – Russen, Österreichern und
Preußen – abgrenzt, aber auch von den „inneren Feinden“, den Juden, wird
nur Eingeweihten ersichtlich.
Die lärmende „Straße“ der Zwischenkriegszeit wirkt auf den ersten Blick w…
eine zweite „goldene Zeit“ für Polens Juden. Doch dass zahlreiche jüdische
Vereine, Verlage und Künstlertreffpunkte vor allem deshalb entstehen, weil
Arierparagrafen, Boykottaufrufe und Ghettobänke Juden aus dem
gesellschaftlichen Leben drängen, geht nur aus kleinen Vitrinen, winzigen
Karikaturen und einzelnen Textstellen hervor.
Dann kommt mit dem 1. September 1939 die Galerie „Zaglada“ – „Vernichtu…
Die bisher farbenprächtige Welt des „Museums des Lebens“ wird schwarz-wei�…
geht im Warschauer Ghetto ins Grau-in-Grau über und wird am Ende in einer
rostroten dunklen Metallkammer fast völlig schwarz. Texte und Bilder
unterscheiden sich nicht von denen in den Gedenkstätten der nazideutschen
KZs und der Holocaust-Museen.
Der Eindruck ist so stark, dass es schwerfällt, in der Galerie
„Nachkriegszeit“ den zaghaften Neuanfang der rund 300.000 überlebenden
Juden in Polen zu verfolgen. Die meisten kehrten aus der Sowjetunion zurück
und siedelten sich in Niederschlesien und der weitgehend unzerstörten
Industriestadt Lodz an.
Die Schubladen mit den Texten zu den Nachkriegspogromen und die
Zeitzeugenberichte zur antisemitischen Hetzkampagne der kommunistischen
Partei Polens 1968 verstärken das Gefühl einer tiefen Traurigkeit. Ganz am
Ende der Ausstellung erzählen einige wenige Juden auf einer Leinwand von
der „Renaissance des Judentums in Polen“. Immerhin haben bei der letzten
Volkszählung in Polen über 7.000 Personen ihre Nationalität als „jüdisch�…
bezeichnet. Bei vielen sitzt die Angst tief, sich öffentlich zum Judentum
zu bekennen. In großen Städten ist das eher möglich. Doch in kleineren
Orten, insbesondere in Ostpolen, sind Juden nach wie vor vorsichtig.
„Natürlich freue ich mich, dass meine Idee nun realisiert wird“, sagt
Grazyna Pawlak. Die Ausstellung beeindrucke durch ihren Reichtum an
Informationen. Andererseits sei es traurig, dass ausgerechnet jetzt das
große Marek-Edelman-Graffito an einer Hauswand in Muranow übermalt worden
sei. Vor ein paar Jahren hatten engagierte und begeisterte Warschauer Geld
gesammelt, Farbe gekauft, eine Hauswand gefunden, und ein Künstler hatte
Edelman, einen der Anführer des Warschauer Gettoaufstandes, auf der Wand
verewigt. Doch die Hausgemeinschaft wollte die Wand nun „vermieten“, als
sei das Kunstwerk eine Art Reklame. Eine Bewohnerin meinte gar: „Können Sie
nicht einen katholischen Polen an die Wand malen?“
Wenig begeistert sind Polens Juden auch davon, dass der Sejm, das polnische
Abgeordnetenhaus, ausgerechnet jetzt über die Ehrung Roman Dmowskis
diskutiert und ihm sogar eine eigene Ausstellung widmet. Der Historiker
Szymon Rudnicki findet es unfassbar, dass heute noch Politiker in Polen
geehrt werden können, die 1934 mit obsessivem Antisemitismus die Leute
aufgehetzt hätten. Damals schrieb Dmowski Sätze wie: „Es ist klar, dass man
konsequent danach streben muss, immer weniger Juden im Lande zu haben, will
man Polens Zukunft sichern. Die Juden beherrschen den Handel, zum Teil auch
das Handwerk. Sie verjuden unsere Städte und Städtchen. Die Polen müssen
den Handel in ihre Hände nehmen und das Handwerk von den Juden säubern.“
Dariusz Stola, seit einem halben Jahr amtierender neuer Museumsdirektor,
möchte, dass die Ausstellungsbesucher mit einem „Gefühl des Stolzes auf die
reiche Kultur und Geschichte der polnischen Juden“ das Museum verlassen. Ob
das gelingt, werden die nächsten Monate zeigen. Stola rechnet mit rund
einer halben Million Besucher jährlich.
28 Oct 2014
## AUTOREN
GABRIELE LESSER
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