# taz.de -- Vom Leben der Boheme | |
> ANARCHISMUS Herausragend! Die Tagebücher Erich Mühsams erscheinen | |
> erstmals in einer 15-bändigen Werkausgabe | |
VON ANDREAS FANIZADEH | |
Heut früh kam ich erst um 1/2 8 Uhr nach Hause. Ich war vom ‚Simpl.‘ aus | |
mit Uli und Seewald, Strich und Lotte, Emmy, Morax und Alwa (Schwirzer) zu | |
Uli aufs Atelier gegangen, wo die anderen sehr viel Schnaps tranken und | |
dadurch in eine Stimmung kamen, die ich durch Zusehen und Mitreden | |
künstlich in mir erzeugen musste. Lotte und Emmy küßten sich maßlos. | |
Dadurch wurde eine angenehm erotische Atmosphäre geschaffen. Dann wurde Uli | |
lebhaft und tanzte zum Wahnsinnigwerden schön. Wenn ich Uli so sehe, dann | |
vergesse ich alles in der Welt und vergehe vor Liebe zu ihr. – Um 6 Uhr | |
langten wir in Café Bauer an, nachdem Lotte und Emmy (Uli war mit Seewald | |
zu Hause geblieben) auf der Straße den unglaublichsten Unsinn getrieben | |
hatten.“ | |
Erich Mühsam notierte diese Begebenheit in München am 28. Mai 1911. Er | |
hatte mit dem Tagebuchschreiben im August 1910 begonnen, anlässlich eines | |
Kuraufenthalts in Château d’Oex, Schweiz. Der damals 32-jährige Anarchist | |
litt 1910 unter Herzbeschwerden, war geschwächt von Alkohol-, Nikotin- und | |
Kaffeekonsum. In den Schweizer Bergen sollte er sich auch auf Wunsch seines | |
Elternhauses erholen, von dem er finanziell abhängig war. Doch langweilte | |
er sich zunächst sehr. Die Schweizer Berge sind ihm eng, Briefe und | |
Zeitungen erreichen ihn nur verzögert. Mühsam war gerade der | |
Hochverratsprozess in München gemacht worden, und zusätzlich ärgerte er | |
sich über einen Text seines Mentors Gustav Landauer, den er als | |
paternalistische Kritik am ausschweifenden Leben der Boheme verstand. | |
## Wertvoll und schön | |
Doch war sein intellektuelles Selbstbewusstsein ungebrochen. Am 28.August | |
1910 notiert er in sein Tagebuch in Château d’Oex: „Ferner las ich Hans die | |
erste Hälfte des Gefängnistagebuchs vor. Ich sehe ein, daß das zum Besten | |
gehört, was ich je geschrieben habe.“ Mühsam war zu dieser Zeit bereits ein | |
bekannter Agitator und Schriftsteller. Er kritisierte in Zeichnungen und | |
Gedichten Preußentum und Wilhelminismus, schrieb Chansons und war mit | |
Künstlern und Schauspielerinnen befreundet. Neben den sozialrevolutionären | |
Kreisen fühlte er sich Autoren wie Frank Wedekind, Heinrich Mann oder | |
Lionel Feuchtwanger verbunden. In seiner ab 1911 erscheinenden Zeitschrift | |
Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit postulierte er die Einheit von | |
subproletarischen und künstlerischen Linken. | |
Doch von Politik ist in dem ersten nun vorliegenden Band 1910/1911 – | |
insgesamt sollen weitere 14 erscheinen! – vordergründig kaum die Rede. Der | |
Schriftsteller Mühsam durfte über das klandestine anarchistische Netzwerk | |
kaum Vertrauliches ausplaudern, vertrat aber sicher auch die These, dass | |
das Private politisch und von daher berichtenswert sei. Und so sind diese | |
Tagebücher vor allem eine außergewöhnliche Sittengeschichte, die die Weite | |
des damaligen anarchistischen Denkens deutlich machen. Mühsam hatte Humor, | |
musste einstecken, wusste aber auch auszuteilen. („Aber ich liebe diesen | |
Hermann Hesse nicht. Schon sein Stil ist mir unerträglich. Er sucht | |
Kühnheiten. Er schleimt. Er salbadert. Und ganz grauenhaft ist es mir, daß | |
er mitten in der Erzählung anfängt, seine persönliche Meinung über die | |
Probleme, die da angeschnitten werden, kundzutun. Wie häßlich! Wie | |
unkünstlerisch! – Dabei hat seine Prosa überall diesen verdächtigen | |
Erdgeruch, vielmehr Erdparfüm der Heimatkünstler.“) | |
Über den Anthroposophen Rudolf Steiner merkt Mühsam bissig an: „Bis der | |
Vortrag zu Ende war, mußten wir vor der Saaltür antichambrieren und ich | |
hörte dumpf von außen die hohle dröhnende Stimme, des hohlen dröhnenden | |
Steiners, den ich seit 5–6 Jahren nicht mehr gesehen habe.“ Position und | |
Haltung suchte Mühsam in direkter Auseinandersetzung mit anderen | |
Intellektuellen. Die bevorzugten Schauplätze sind Wirtshäuser, Theatersäle | |
und Kunstausstellungen. Mühsam zeichnete auch selber und verehrte den | |
Schweizer Maler Ferdinand Hodler. Dessen Gemälde „Die Nacht“ hatte 1889 | |
einen Skandal verursacht. Mühsam notiert 1910 in sein Tagebuch: „Eine | |
Anzahl Hodlers machten großen Eindruck auf mich – besonders Die Nacht, die | |
ich vor einigen Jahren schon in Berlin gesehen hatte.“ Und im Juni 1911 | |
anlässlich einer Ausstellung in München: „Hodler ist für mein Gefühl der | |
tiefste aller lebenden Maler. Er ist der einzige, der Ekstasen gestalten | |
kann.“ | |
Mühsam war kein eitler Schwätzer, sondern agierte mit den | |
Selbstermächtigungstricks des Außenseiters. Seine Positionen waren mit | |
Haltungen unterlegt, die er präzise und leidenschaftlich ausführen konnte. | |
Spießer waren ihm ein Gräuel, doch konnte er Respekt vor einem | |
abstinenzlerischen, vegetarisch-proletarischen Arbeiterhaushalt aufbringen, | |
ohne selbst allzu lange auf Alkohol oder Fleisch zu verzichten. Er war kein | |
engstirniger Dogmatiker, konnte ebenso mit Heinrich Mann parlieren wie die | |
revolutionären Massen aufpeitschen. Wenn er über Geld verfügte, verschenkte | |
er es, war er pleite, schnorrte er. Er war verliebt in einen Mann, | |
verklärte die lumpenproletarische Emmy, die er gegen Angriffe von Else | |
Lasker-Schüler verteidigte. Die Schwabinger Boheme propagierte die sexuelle | |
Freizügigkeit, wenn auch Mühsam, der 1915 schließlich heiratete, berichtet, | |
auch das Gefühl der Eifersucht zu kennen. | |
Mühsam mochte keine Heldenverehrung und ist in den Tagebüchern sehr darauf | |
bedacht, sich selbst erst gar keinen Sockel zu errichten. In Einstreuungen | |
bedenkt er die kriecherische deutsche Sozialdemokratie, mehr aber noch | |
spricht er über seinen permanenten Geldmangel und eine schmerzhafte | |
Geschlechtskrankheit im Jahre 1911. Doch ist Mühsams antiautoritäre | |
Offenheit im Prinzip ein auf Verfeinerung abzielendes Schwärmertum, gegen | |
die Rohheit des Wilhelminismus und den bürgerlichen Arbeitsethos gerichtet: | |
„Heute früh las mir Johannes aus einer Jean-Paul-Biographie seines Neffen | |
Spatzli Briefe an Otto vor, darunter den über die erste Begegnung mit | |
Goethe. Dann einen Auszug aus dem prachtvollen Brief Charlottes von Kalb an | |
Jean Paul über die Liebesfreiheit der Frauen. Sehr wertvoll und schön.“ | |
## Unsagbare Prügel | |
Ein Schwärmertum, das sich allerdings wesentlich über seinen Vater | |
finanzierte. Mühsams Genörgel über dessen Engherzigkeit hört sich mitunter | |
nach den Sprüchen eines verwöhnten Bengels an, doch ist die Ablehnung der | |
wilhelminisch-väterlichen Erziehung der Ausgangspunkt: „Es steigt etwas Haß | |
in mir auf, wenn ich daran zurückdenke, wenn ich mir die unsagbaren Prügel | |
vergegenwärtige, mit denen alles, was an natürlicher Regung in mir war, | |
herausgeprügelt werden sollte“, notiert er 1910. Und an anderer Stelle: | |
„Erst wenn es wirklich zu spät ist, werden sie aufhören sparsam zu sein. Es | |
ist widerlich, aber es ist Tatsache: die einzige Möglichkeit, daß ich leben | |
könnte, wäre, wenn mein Vater stürbe.“ | |
Mühsams Tagebücher umfassen die Jahre 1910 bis 1924 und wurden zum | |
allergrößten Teil noch nie publiziert. Sie sind ein kulturgeschichtlicher | |
Schatz und das literarische Vermächtnis des 1934 von den Nazis Ermordeten. | |
Band 1 erzählt von der subkulturellen Radikalität der früheren Boheme, die | |
sich auch im Praktizieren anderer Lebensformen unmittelbar versuchte. Man | |
darf annehmen, dass der Ton der Tagebücher mit dem Ersten Weltkrieg, der | |
Revolution und der Festungshaft schärfer werden wird. Mühsams Ehefrau | |
Kreszentia „Zenzl“ Elfinger konnte bis auf vier frühe Exemplare die | |
Tagebücher vor den Nazis retten, übergab sie aber später den Stalinisten in | |
der Sowjetunion, die Elfinger zum Dank ins Gulag schickten. | |
Was die Schwabinger Boheme spielerisch karikierte und ausprobierte, wurde | |
vor dem Hintergrund von Wilhelminismus und Erstem Weltkrieg blutiger Ernst. | |
In München wurde 1919 die Räterepublik ausgerufen und von verrohten | |
Freikorpstruppen niedergeschlagen. Mühsam überlebte in Haft. Viele Frauen | |
wurden von den Freikorpsverbänden vergewaltigt und Gustav Landauer wurde | |
grausam umgebracht, nachdem lanciert worden war, er und Mühsam hätten die | |
Kollektivierung der Frauen beschlossen, um sie sich sexuell untertan zu | |
machen. Es waren Wahngebilde, die so ziemlich das Gegenteil beschreiben, um | |
die es Mühsam 1910/11 inmitten der Schwabinger Boheme ging. | |
9 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
ANDREAS FANIZADEH | |
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