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# taz.de -- Unter einem Grabstein
> GOTTESACKER Stirbt ein Mensch, kommt er in die Erde. Ein Besuch auf dem
> Berliner Alten St.-Matthäus-Friedhof
VON DETLEF KUHLBRODT
Lange Zeit bin ich gerne auf Friedhöfe gegangen. Bei jeder Reise hatte ich
Friedhöfe besucht und mich gefreut über Namen, die nicht mehr so
gebräuchlich sind, und die Fotografien der toten Leute angeschaut auf den
Grabsteinen in romanischen Ländern und in Osteuropa. Meist war es Sommer.
Und als ich 1984 nach Berlin kam, hatte ich auch erst mal tote Leute
besucht; Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, E.T.A. Hoffmann, Gottfried Benn,
Heinrich von Kleist und Henriette Vogel usw. Meine erste Wohnung, in den
80ern, war in der Monumentenstraße, gleich beim Alten
St.-Matthäus-Friedhof, und nachts waren wir manchmal über das Friedhofstor
geklettert. Und B. hatte mir den Friedhof erklärt. Es war Mai und ziemlich
heiß in diesen Tagen, und die vielen verfallenen Gruften waren gruselig und
romantisch. Und wir hatten im Innenhof der Hansemann-Grabanlage gesessen
und Dosenbier getrunken. Es war schön, in der Nacht auf dem Friedhof zu
gehen. Man meinte die Anwesenheit der Toten zu spüren. Auch derer, die hier
gar nicht liegen, und wir hatten einander Gruselgeschichten erzählt.
Und das ist nun auch schon ganz schön lange her, und ich denke daran,
während ich zum Matthäus-Friedhof fahre. Es ist superkalt und die
Nachmittagssonne wärmt nicht wirklich. Mein großer Traum war immer, auf dem
Friedhof zu wohnen. Nicht unter der gefrorenen Erde, sondern eher in einem
Friedhofsgärtner- oder Verwaltungshäuschen. Wenn ich dort wohnte, käme ich
jetzt nach Hause. Egal.
Ich gehe durch die Alleen über den alten Friedhof, der 1858 eröffnet wurde,
und lese die Namen auf den Grabsteinen. Seltsame Vornamen wie zum Beispiel
„Udet“ oder „Pupus“; schöne Nachnamen wie „Rattunde“. Bei „Rattu…
ich an Frau Kapanke. Frau Kapanke ist auf einem Foto in einem Fotoalbum aus
den 50er Jahren, das ich meiner Mutter vor ein paar Tagen gezeigt hatte, um
sie zum Sprechen zu bringen. Sie hatte an diesem Nachmittag fast die ganze
Zeit geschwiegen und ihr Kurzzeitgedächtnis funktioniert auch nicht mehr
gut, vor allem um Weihnachten herum. An Sachen von früher erinnert sie sich
aber; an die Gewerkschaftsjugend oder einen Ausflug mit der
Kassenärztlichen Vereinigung, und an Frau Kapanke eben, ein
Flüchtlingsmädchen aus Ostpreußen, auf diesem Foto von 1951.
Unter einem Grabstein liegt Gordana von Dijk, geb. Antanaskovic. Und gleich
daneben, ich hatte schon Angst, sie nicht mehr zu finden, Almut
Klotz-Dabeler, die Autorin und Musikerin, die früher bei den Lassie Singers
gewesen und im August letzten Jahres gestorben ist. Ihr Grab ist schön; das
kleine Holzkreuz, die Pflanzen; ein Schokoladenweihnachtsmann und eine
Packung mit Bio-Spekulatius als Totennahrung, und im Kopf läuft das
Daliah-Lavi-Lied „Oh, wann kommst du“, das sie mit ihrem Mann, Christian
Dabeler, noch so wunderschön gesungen hatte. Einen Moment bleib ich stehen
und denke an Almut und rauche nicht, weil mir zu kalt ist, und gehe dann
weiter, Rio Reiser besuchen, der gleich an der Hauptallee untergebracht
ist. Sein Grab erinnert ein bisschen an das von Jim Morrison, irgendwie.
Eine Figur beschwört den König von Deutschland, auf einem T-Shirt steht
„Keine Macht für Niemand“. Das Grab sieht so aus, als werde es häufig
besucht.
Ich schaue mir das Denkmal für die Leute an, die an den Folgen von Aids
gestorben sind, gehe durch den bunten Garten der Sternenkinder, der im
April 2008 eingeweiht worden war. Eine Gedenkstätte für Fehlgeburten,
Totgeburten und Babys, die während oder kurze Zeit nach der Geburt
gestorben sind. Ein bisschen erinnert der schöne Garten an einen
Spielplatz, ein bisschen an eine Modelleisenbahnanlage.
Dies Nebeneinander ist seltsam; hier die Sternenkinder mit Spielzeug auf
den kleinen Gräbern; da die pompösen Grabanlagen von Bimmel-Bolle oder
Hansemann. Hier der Gedenkstein für die Widerstandskämpfer des Attentats
vom 20. Juli 1944, da „ein ritterlicher, furchtloser Jagdfliegeroffizier“
und seine Frau, „eine tapfere, beliebte Berlinerin im Bombenhagel“. Die
Brüder Grimm finde ich grad nicht mehr.
Es ist kalt. Ich gehe in das schöne, gemütliche, warme Friedhofscafé
„Finovo“, das von Bernd Boßmann betrieben wird.
Boßmann ist auch bekannt als Ichgola Androgyn. Er engagiert sich in dem
gemeinnützigen Verein „Efeu e.V.“ für Erhalt und Pflege des Alten
St.-Matthäus-Kirchhofs. Sein Café ist wie aus der Zeit gefallen. Ich esse
Ananaskuchen, trinke Kaffee, am Nebentisch sprechen die Leute über ein
Buch, das von zwei Jugendlichen handelt, die sich auf einer Krebsstation
ineinander verlieben. Vor dem Café sitzen ein paar Leute um die 60. Sie
sehen sehr nett aus und rauchen einen Joint. Vielleicht sind es Freunde von
Rio Reiser.
Später am Abend besuche ich einen krebskranken Freund. Es ist ganz still,
weil er nicht sprechen kann; wir gucken Fernsehen und rauchen, und manchmal
schreibt er mir etwas. Ich bin froh, ihn zu sehen, und später geh ich
trinken.
3 Jan 2015
## AUTOREN
DETLEF KUHLBRODT
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