# taz.de -- Tanzende Spannungsfelder | |
> TANZTHEATER Hochabstrakt und zugleich intensiv emotional: Kampnagel | |
> eröffnet die neue Spielzeit mit der Europapremiere des aktuellen Stücks | |
> „Sadeh21“ der israelischen Batsheva Dance Company | |
VON ROBERT MATTHIES | |
„Wir lernen, unseren Schweiß zu lieben, wir entdecken unsere Leidenschaft, | |
uns zu bewegen, und verknüpfen sie mit unserer Anstrengung, wir entdecken | |
zugleich das Tier in uns und die Kraft unserer Imagination.“ Die Spiegel | |
und mit ihnen die Selbstkritik hat Ohad Naharin schon lange aus dem Studio | |
der Batsheva Dance Company verbannt. Und das Einstudieren von | |
Bewegungsabläufen durch einen Dialog zwischen Choreograf und Tänzer_innen | |
ersetzt. Durch deren ganz individuelle Antwort auf verbale Anweisungen, die | |
die Aufmerksamkeit auf bestimmte Körperteile, Handlungen oder Eigenschaften | |
lenken: eine Serie von Wörtern bezeichnet unterschiedliche Weisen, | |
Bewegungen zu initiieren. Und zugleich jene Teile des Körpers, die an | |
diesen Anregungen beteiligt sind und die Bewegung fühlen. Ein Fluss durch | |
den gesamten Körper soll so entstehen – unabhängig davon, wo die Bewegung | |
beginnt. | |
„Gaga“ nennt der israelische Tänzer, Musiker und Choreograf im vollen | |
Bewusstsein der damit einhergehenden Konnotationen die komplexe | |
Bewegungssprache, mit der die internationale Compagnie in Tel Aviv ihre | |
Arbeiten entwickelt, seit er 1990 zu deren Künstlerischem Leiter geworden | |
ist. Und damit eine neue Ära für die 1964 von der amerikanischen Modern | |
Dance-Neuerin Martha Graham und der jüdischen Philanthropin und | |
Tanz-Förderin Baroness Batsheva de Rothschild gegründeten Compagnie | |
begonnen hat. Denn Gaga stattet die Tänzer_innen nicht nur mit einer | |
außergewöhnlichen Aufmerksamkeit für die je eigenen Fähigkeiten, Talente | |
und Grenzen aus, indem Körper, Emotionen und Gedanken in Bewegung | |
untrennbar werden. Sondern eröffnet auch ein Spektrum an Bewegungen, das | |
weit über jenen Bereich hinausgeht, den traditionelle Trainingsmethoden | |
abdecken: fließen, beben, eine Spaghetti-Schnur in kochendem Wasser sein – | |
die Batsheva-Tänzer_innen verfügen neben Glissé und Plié über eine riesige | |
Werkzeugkiste voller Bewegungs-Texturen, die sie auf ihre biegsamen Körper | |
anwenden können. | |
Eine unverwechselbare Ästhetik und einzigartige Physikalität zeichnet | |
deshalb jede der umjubelten Arbeiten aus, die die renommierte Compagnie auf | |
den großen Bühnen dieser Welt präsentiert. In Hamburg war sie zuletzt 2009 | |
mit dem Stück „Max“ zu sehen, einer eindrucksvollen tänzerischen | |
Erforschung des Ursprungs und der Essenz körperlicher Bewegung und zugleich | |
unserer Auffassungen von Struktur, Raum und Zeit: ein immer wieder zwischen | |
Chaos und System, maximal nach innen gekehrter Aufmerksamkeit und | |
konzentrierter Kollektivität changierendes tanzendes Spannungsfeld. | |
Ein energie- und temporeiches Feld von Kontrasten spannt auch die aktuelle | |
Batsheva-Arbeit „Sadeh21“ auf, die nun als Europapremiere auf Kampnagel die | |
neue Spielzeit eröffnet. Präsenz und Absenz, Abstraktion und Expressivität, | |
Leere und Fülle, Einsamkeit und Kollektivität, Differenz und Beziehung: | |
zwischen drei weißen Wänden und auf einem weißen Boden entfaltet Ohad | |
Naharin in Zusammenarbeit mit seinen Tänzer_innen aus scheinbar Zufälligem | |
beständig neue Systeme von Regeln und Bedeutungen, die umso abrupter wieder | |
mit Unerwartetem konfrontiert werden – einer plötzlichen Veränderung in | |
Rhythmik, Richtung, Licht oder Klang, die sich jeder erreichten | |
Interpretation wieder entzieht. Und genau da wird auch die Zuschauerin | |
„gaga“: vergnüglich ist „Sadeh21“ genau an jenem Punkt, an dem die | |
Leichtigkeit mit der Anstregung zusammenfällt. | |
■ Do, 29. 9. bis Sa, 1. 10., 20 Uhr. Kampnagel, Jarrestraße 20 | |
29 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
ROBERT MATTHIES | |
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