# taz.de -- Lotte? Wo bist du? | |
Das Hühnerbarometer. Über den Versuch, eines von neun Milliarden Eiern zu | |
verfolgen | |
VON STEFAN KUZMANY | |
Zunächst einige Fakten. Im Jahr 2005 lebten in Deutschland zweiunddreißig | |
Millionen und zweihundertfünfundsechzigtausend Hühner, gemeinsam haben sie | |
neun Milliarden und zweihundertzweiundsechzig Millionen Eier produziert. | |
Sollten Sie diese Geschichte im Jahr 2048 aus dem Archiv ziehen, dann | |
entspricht das genau der Anzahl der dann auf der Erde lebenden Menschen. | |
Die im Jahr 2005 in Deutschland gelegten Eier wiegen gemeinsam | |
fünfhundertvierundsiebzig Millionen und zweihundertvierundvierzigtausend | |
Kilogramm, sind also zehnmal so schwer als der Ozeandampfer „Titanic“, der | |
am 14. April 1912 gegen dreiundzwanzig Uhr und vierzig Minuten mit einem | |
Eisberg zusammenstieß und zwei Stunden vierzig Minuten später im | |
Nordatlantik versank. Würde man alle im Jahr 2005 in Deutschland gelegten | |
Eier übereinander stapeln, ergäbe das einen | |
fünfhundertfünfundfünfzigtausendsiebenhundertzwanzig Kilometer hohen | |
Eierturm, das ist das Anderthalbfache der Strecke von der Erde bis zum | |
Mond. | |
Legte man alle Eier nebeneinander, würden sie die Fläche von | |
dreitausendvierhundertvierundzwanzig Fußballfeldern bedecken. Würde man | |
diese Fußballfelder übereinander stapeln, ergäbe sich ein | |
einhunderteinundfünfzig Meter hoher Eiquader, er hätte damit fast die | |
Hälfte der Höhe des Eiffelturms und wäre nur ein klein wenig niedriger als | |
der Kölner Dom. Würde man die Eier alle aufschlagen, ergäbe das | |
dreihundertacht Millionen | |
siebenhundertdreiunddreißigtausenddreihundertdreiunddreißig und ein Drittel | |
Liter Eiflüssigkeit. Diese Menge würde ausreichen, um auf dem Münchner | |
Oktoberfest einundfünfzig Jahre lang Eiglibber an Stelle von Bier | |
auszuschenken, aber nur, wenn man davon ausgeht, dass die Maß Eiglibber | |
auch gut eingeschenkt wird. Wahrscheinlicher aber ist es, dass der Glibber | |
sogar für fast fünfundsiebzig Jahre ausreichen würde. | |
Das Ei ist aus unserer Kultur und unserem Sprachgebrauch nicht mehr | |
wegzudenken, was der folgende klassische Eierwitz anschaulich illustriert. | |
Kommt ein Mann zum Arzt. Sagt der Arzt: „Sie sind eine medizinische | |
Sensation – Sie haben drei Eier.“ Der Patient freut sich, verlässt die | |
Praxis und spricht auf der Straße den erstbesten anderen Mann an: „Hallo, | |
wissen Sie was? Zusammen haben wir fünf Eier.“ Sagt der andere: „Ach so, | |
Sie haben nur eins?“ Die Freude am Mehrbesitz von Eiern galt durch die | |
ganze Geschichte der Menschheit als etwas Erstrebenswertes. Die Menschheit | |
teilt sich in solche Menschen, die Eier haben und solche, die keine Eier | |
haben, womit keineswegs nur Männer gemeint sind. Und obwohl Eier in | |
unglaublichen Massen gelegt werden, ist der Verzehr von Eiern doch eine | |
sehr persönliche Sache. Man kommt dem Tier sehr nahe. Man verspeist seine | |
Nachkommen. Das Ei ist ein Symbol der Fruchtbarkeit. Wir stammen letztlich | |
alle aus Eiern. | |
„Das Ei ist zu hart geworden“, sage ich. – „Das Ei ist genau richtig so… | |
sagt meine Freundin. Es ist Sonntagvormittag, der heilige Sonntagvormittag. | |
Mit Ausschlafen, Sonntagszeitungen, klassischer Musik und einem opulenten | |
Frühstück. Mit Ei. Immer mit Ei. Entweder als Rührei, dann lieber mit | |
Pilzen oder Shrimps, oder weichgekocht. Ich mag sie etwas weicher. | |
Eigentlich ist es schon Sonntagnachmittag. | |
„Hast du dir eigentlich schon einmal Gedanken darüber gemacht, welches Huhn | |
dieses Ei gelegt hat, das du da gerade isst?“, frage ich. – „Nein“, sagt | |
meine Freundin. „Du etwa?“ | |
Na ja, noch nicht oft. Ich weiß nur wenig über die zweiunddreißig Millionen | |
Hühner. Aber gerade eben hat eines davon angefangen, mich zu interessieren. | |
Und wenn ich einmal damit angefangen habe, mich für etwas zu interessieren, | |
dann bin ich nicht mehr aufzuhalten. Es ist Sonntag. Ich habe nichts zu | |
tun. Ich werde das jetzt herausfinden. Ich schwöre, ich werde nicht locker | |
lassen. Und das Beste dabei: Ich muss mich dafür nicht vom Fleck bewegen. | |
„So so“, sagt meine Freundin. | |
Wir haben, was Eier betrifft, ein normal gutes Gewissen. Seit einiger Zeit | |
schon kaufen wir im Supermarkt nur noch Bioeier, fragen Sie mich nicht, was | |
der Auslöser war, die anderen waren uns irgendwann einfach zu eklig. Man | |
kennt das ja: die traurigen Bilder aus den Legebatterien, wo Hühner immer | |
noch auf einer Fläche leben müssen, die kleiner ist als ein DIN-A4-Blatt. | |
Wer sie unbedingt noch einmal sehen will, im Internet gibt’s jede Menge | |
davon. Ich habe diese Bilder immer gemieden. | |
Mit solcher Tierquälerei wollte ich nichts zu tun haben – was meinen | |
Eierkauf aber viele Jahre lang nicht beeinflusst hat. Und dann, vor einigen | |
Monaten, von einem Tag auf den anderen, kauften wir nur noch Bioeier. Wir | |
haben es einfach getan. Eines war klar: Mit Boden- und Freilandhaltung | |
wollten wir uns gar nicht aufhalten. Wenn wir schon etwas für die Hühner | |
tun wollten, dann aber richtig. Boden- und Freilandhaltung, das war nur | |
graduell besser als der Käfig. Bei der reinen Bodenhaltung sind die Tiere | |
in geschlossenen Räumen untergebracht. Direkter Lichteinfall ist zu | |
vermeiden, das macht die bis zu fünftausend Hennen der Kolonie wütend, und | |
sie fangen vielleicht sogar an, sich gegenseitig umzubringen. Weil Hühner | |
sich nur deutlich weniger als fünfzig Artgenossen merken können, kommt es | |
in der großen Gruppe zu ständigen Kämpfen um die Rangordnung, was zu Stress | |
und Verletzungen führt. Die Tiere kommen häufig mit Kot in Kontakt, deshalb | |
verbreiten sich Krankheiten schneller, und es müssen mehr Antibiotika | |
eingesetzt werden. | |
Freilandhaltung ist zwar schon besser, da gibt es Auslauf. Aber in der | |
Biohaltung gibt es noch mehr Platz, die Hühner werden weitestgehend mit | |
Biofutter verpflegt, und es gibt sogar Hähne. Nur Bio bringt Freiheit! | |
Dachte ich. Und wenn ich seither mein Ei löffelte, dann hatte ich, sollte | |
ich dabei überhaupt jemals an ein Huhn gedacht haben, das Bild eines | |
glücklichen Huhns im Kopf. Dasselbe glückliche Huhn, das aus derselben | |
glücklichen Familie stammt, mit der schon auf den Eierkartons meiner | |
Kindheit geworben wurde: „Von glücklichen Hühnern“ stand darauf, und ich | |
stellte mir vor, wie diese glücklichen Hühner im Pulk und gackernd über | |
einen Bauernhof liefen, gejagt von einem kleinen blonden Jungen, der einen | |
Weidenstock schwingt, so eine Art Astrid-Lindgren-Bauernhof-Vision. | |
Ich machte mir da selbstverständlich etwas vor. Denn obwohl wir nur Bioeier | |
kaufen, essen wir trotzdem noch Unmengen der Eier, die in schrecklicher | |
Käfighaltung gelegt wurden – versteckt in Produkten, die Eier enthalten und | |
die nicht ausdrücklich mit Biozutaten hergestellt worden sind. Also in | |
jedem herkömmlichen Produkt, in den Kuchen, die wir in Bäckereien kaufen | |
(wenn es keine Biobäckereien sind), in Nudeln, Fertignahrung und im | |
Katzenfutter (wenn wir eine Katze hätten). Aber immerhin: Das Ei, das ich | |
persönlich auslöffle, gewissermaßen im Angesicht des Huhns beziehungsweise | |
seines Hinterteils, soll sauber sein. Ist sauber. Ist doch sauber? | |
Die Sache ist ganz einfach, dachte ich mir, dafür braucht man keinen | |
gesamten Sonntagnachmittag: Seit Anfang 2004 muss auf jedem Ei das | |
Herkunftsland, die Haltungsform, der Betrieb und der Stall angegeben sein. | |
Auf den ersten Blick kann man also sehen, ob mit dem Ei alles in Ordnung | |
ist. | |
Die Länderkennzeichnung ist wie ein Autokennzeichen, die Haltungsform ist | |
mit einem einfachen Zahlencode angegeben, und dann ist da eben noch diese | |
Ziffernfolge, die sich auf einen bestimmten Betrieb und Stall in Soundso | |
zurückverfolgen lässt, der im besten Fall nach Ökostandards Eier | |
produziert. Wunderbar, Sache erledigt, ich musste noch nicht einmal den | |
Frühstückstisch verlassen. | |
„Moment, Moment, nicht so schnell“, sagt meine Freundin. „Was heißt hier | |
Soundso? Wo ist denn nun dieser Betrieb? Was ist denn das für einer?“ | |
Ha, nichts leichter als das. Computer aufgeklappt, Browser gestartet, auf | |
die Seite [1][www.was-steht-auf-dem Ei.de] des „KAT – Verein für | |
kontrollierte Tierhaltungsformen“ gesurft. Eine super Seite. Die haben | |
sogar eine Pac-Man-Version mit einem Huhn – Pickman, genial! | |
Statt der Geister verfolgen Füchse die Spielfigur, und das Labyrinth ist | |
wie ein Supermarkt gestaltet. Dazu fetzige Musik. Und ab und zu muss man | |
sich mit dem Huhn einen Einkaufswagen schnappen, damit kann man dann | |
spezielle Bonuspunkte einsammeln. Zuerst wirkt es schwierig, aber wenn man | |
sich über einige Runden warmgespielt hat, kann man es in die Highscoreliste | |
schaffen. Ich verewige mich unter dem Pseudonym „Huhnibert“. | |
„Wolltest du nicht nachschauen, wo dieses Ei herkommt?“, fragt meine | |
Freundin. Stimmt. Also tippe ich die Nummer des Eis in das vorgesehene | |
Feld: 0 – DE 1261022. Und schon habe ich das Ergebnis: „Schatz, unser Ei | |
kommt vom Biogeflügelhof Deersheim, und wenn du’s genau wissen willst: aus | |
der Farm B2. Und hier schreibt der Verein: ‚Dieser Betrieb unterliegt | |
unserem Kontrollsystem und wird regelmäßig überwacht.‘ Es handelt sich | |
dabei um ‚Kontrollierte Biohaltung‘, was bedeutet: ‚Jeder Legehenne steht | |
neben dem gesamten Stallraum tagsüber ein uneingeschränkter Freilandauslauf | |
zum Laufen, Picken und Scharren zur Verfügung. Die Freifläche muss | |
Buschwerk, Hecken oder sonstige Unterschlupfmöglichkeiten sowie | |
Wassertränken für die Tiere bieten. In der Biohaltung darf ausschließlich | |
ökologisch erzeugtes Futter aus gentechnisch unveränderten Erzeugnissen | |
verwendet werden.‘ Mit anderen Worten: Unserem Huhn geht es gut. Sehr gut“, | |
sagte ich. „Woher willst du das wissen?“, fragte meine Freundin. „Warst du | |
schon einmal dort?“ | |
War ich selbstverständlich nicht. Aber, dozierte ich meiner Freundin, im | |
Zeitalter des Internet ist das auch gar nicht nötig. Was wetten wir, dass | |
unser Biogeflügelhof eine eigene Internetpräsenz hat? Und die hatte er dann | |
auch, sogar die exklusive Adresse [2][www.biohenne.de]. Gleich am Anfang | |
begrüßten uns fünf lustige Comic-Hühner, die auf einer Stange saßen. Und | |
hier verbrachten wir dann den Rest des Nachmittags, so viel Interessantes | |
war da über das Huhn und das Ei im Allgemeinen und Speziellen zu entdecken. | |
Sogar ein Rezept für Spiegeleier gab es da! | |
Auf dem Biogeflügelhof in Deersheim werden die Hühner in Farmen gehalten, | |
die so schöne Namen haben wie „An den Eichen“, „Buschwiese“, „Wildro… | |
oder „Waldblick“. Unsere Farm B2 war allerdings nicht zu entdecken, | |
vielleicht war die Seite nicht ganz aktuell. Obwohl sie doch an anderer | |
Stelle auf dem neuesten Stand war: Hier gab es das aktuelle | |
„Hühnerbarometer“, denn „unsere Hühner haben einen abwechslungsreichen … | |
Was der Großteil gerade macht, können Sie hier sehen …“ Das war | |
hochinteressant und versprach spannende Einblicke. Was unser Huhn wohl | |
gerade machte? Ich hatte es mittlerweile insgeheim „Lotte“ getauft, sie war | |
doch mein Huhn, gewissermaßen. | |
Lotte hatte mir ihren Nachwuchs zum Verzehr geschenkt. Damit hatte sie sich | |
redlich einen schönen Namen verdient. Mal sehen, was das Hühnerbarometer | |
sagte. War Lotte eine von den fleißigen fünfzehn Prozent, die gerade „Eier | |
legen“? Oder war sie unter jenen fünfunddreißig Prozent, die im Moment | |
„spielen“? Vielleicht gehörte sie auch zu den zwanzig Prozent, die schon | |
„schlafen“. Oder war sie wanderlustig und, wie zehn Prozent, gerade | |
„spazieren gehen“? Beruhigt stellte ich fest, dass auch für das leibliche | |
Wohl der guten Lotte gesorgt wurde: Zwanzig Prozent ihrer Freundinnen waren | |
gerade beim „Essen“. Ob sie dabei war? Eigentlich egal: Lotte ging es in | |
jedem Fall gut. | |
Ich startete den Film, mit dem sich der Biogeflügelhof Deersheim auf seiner | |
Seite präsentiert. Sein Titel: „Die Biohenne als Filmstar“. Ein Klavier | |
klimperte. „Das ist ein Bioei“, sagte ein Mann. Es war ein Trickfilm, in | |
dem jetzt ein Trickfilmei zu sehen war, aus dem ein Trickfilmküken | |
schlüpfte, das schnell zu einem Trickfilmhuhn heranwuchs. „Und das ist | |
Lotte“, sagte der Mann jetzt. „Lotte geht es gut. Denn Lotte ist eine | |
Biohenne.“ | |
„Schau einer an“, sagte ich. – „Lotte? Wer nennt denn sein Huhn Lotte?�… | |
fragte meine Freundin. | |
„Biohennen sind Hennen, die tagsüber im Freien viel Sport treiben“, sagte | |
der Mann jetzt. „Deshalb sind sie auch besonders stark. So wie Lotte, wenn | |
sie sich wieder einmal Adler Alfred vom Leibe hält.“ Im Film war zu sehen, | |
wie das Trickfilmhuhn einem Trickfilmadler in die Fresse schlug. „Weil | |
Lotte gesund und zufrieden ist, legt sie auch gerne Eier“, sagte die | |
Stimme. Es traten tatsächlich echte Hühner auf, die an einem strahlenden | |
Tag und in völliger Freiheit an einem Waldrand pickten. „So kann man sie | |
tagsüber auf den Feldern, im Wald und auf den Wiesen beobachten.“ Dann war | |
ein bärtiger Typ von „Gäa Sachsen-Anhalt“ zu sehen, der bestätigte, dass | |
der Biogeflügelhof und auch sein Futter zuliefernder Bauer von Gäa | |
kontrolliert werde. Es sprach auch die Geschäftsführerin des Betriebes, die | |
erläuterte, man habe schon vor Jahren den Betrieb auf biologische Haltung | |
umgestellt, auch weil man von den ethischen Vorteilen dieser Haltungsform | |
überzeugt sei. Zwischendurch wurden einige süße Küken gezeigt, später waren | |
wieder die Hühner zu sehen, die sich, „erschöpft von den Anstrengungen des | |
Tages“, zum Schlafen auf die Stange setzten und ihre „müden Augen“ | |
schlossen – „wie alle anderen Hühner auch“. – „Bestimmt haben sie sc… | |
Träume“, sagte der Mann mit optimistischer, sanfter Stimme. | |
Sonnenuntergang, romantische Musik, so endet der Tag auf dem Biogeflügelhof | |
Deersheim. Und so endete auch der Film. „Lotte geht es gut“, sagte ich. | |
„Lotte geht es richtig gut“, sagte meine Freundin. Und fielen uns | |
erleichtert in die Arme. | |
Später sagte sie: „Sag mal, wie machen die das eigentlich mit diesem | |
Hühnerbarometer?“ – „Ist doch ganz klar“, sagte ich. „Jedes Huhn hat… | |
Transponder, und dieser Transponder sendet den individuellen Code der Henne | |
an den Zentralrechner, und der weiß dann immer genau, wo sie sich gerade | |
befindet. Technisch ist das überhaupt kein Problem mehr. Künftig werden | |
alle Produkte solche Funkchips tragen, das ist die Zukunft. | |
Und hier hat sie schon angefangen, wo sonst als in der fortschrittlichen | |
Biogeflügelhaltung?“ – „Tatsächlich“, sagte meine Freundin. „Oder d… | |
Leute, die ständig die Hühner im Blick behalten und beobachten, was sie den | |
ganzen Tag lang tun“, sagte ich, „ist doch im Osten. Die haben viele | |
Arbeitskräfte dort. Bestimmt haben die auch so eine Art Hühnerredaktion, | |
die Neuigkeiten aus der Farm Waldblick berichtet. Oder eine eigene Zeitung | |
herausgibt: den Buschrosenboten. Da stehen nur gute Nachrichten drin. In | |
Hühner- und in Menschensprache. Wir könnten uns den Buschrosenboten | |
abonnieren.“ | |
„Wenn du meinst“, sagte meine Freundin. Und wir seufzten glücklich. | |
„Weißt du was? Nächstes Wochenende besuchen wir Lotte. Wir leihen uns ein | |
Auto, machen eine kleine Landpartie, schütteln Lotte die Kralle und gehen | |
im Wald spazieren, was hältst du davon?“, sagten meine Freundin und ich | |
gleichzeitig. Denn wie hieß es doch so schön im Werbefilm über Deersheim? | |
„Manche Leute kommen extra hierher, um sich Bioeier zu kaufen.“ Das konnten | |
wir auch. Aber vielleicht sollten wir uns anmelden. Also schrieb ich eine | |
freundliche Mail an eine der Ansprechpartnerinnen, die mir „gern persönlich | |
Rede und Antwort stehen“, und bat um einen Termin. So ging unser Tag zu | |
Ende, und wir gingen zu Bett, um friedlich von den glücklichen Biohühnern | |
auf dem idyllischen Astrid-Lindgren- Bauernhof zu träumen. | |
Leider wurde daraus nichts. Ich schlief unruhig, wälzte mich hin und her. | |
Und dann wachte ich auf. Draußen wehte ein Sturm. In der Wohnung knackte es | |
irgendwo. Mit offenen Augen lag ich da. Nebenan hustete der Nachbar. Mein | |
Körper musste Lottes Leibesfrucht mittlerweile völlig absorbiert haben. Was | |
sie wohl gerade trieb? Ging es ihr wirklich gut? Der Gedanke ließ mir keine | |
Ruhe. Ich stand auf. Es war ein Uhr achtundvierzig. Ich ging ins | |
Wohnzimmer. Der Fußboden knarzte. Auf dem Tisch lag noch mein Notebook. Ich | |
klappte es auf und besuchte die Seite des Biogeflügelhofs. Die Seite baute | |
sich auf. Gleich würde mir das Hühnerbarometer Gewissheit und einen ruhigen | |
Schlaf schenken. Jetzt mussten alle Hühner friedlich schlafen. Hundert | |
Prozent auf dem Hühnerbarometer. | |
Sollte auch nur ein Prozent noch wach sein und als spazierengehend gemeldet | |
werden, ich wäre mir sicher gewesen: Lotte ist noch wach und hat sich | |
verlaufen. Das arme Tier! Oder musste sie etwa als Einzige noch aufbleiben | |
und Eier legen bis spät in die Nacht? Vielleicht hatte sie einfach einen | |
schlechten Tag gehabt oder keine Lust. Auch ein Huhn hat ein Recht auf | |
einen schlechten Tag! Auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und dreißig | |
Tage Urlaub im Jahr. Ich würde mich sofort bei der Hühnergewerkschaft | |
beschweren. Oder, falls nötig, eine gründen. Die Seite war geladen. | |
Das aktuelle Hühnerbarometer, das mich in dieser stürmischen Nacht doch | |
eigentlich hätte beruhigen sollen, versetzte mich in Panik. Laut Statistik, | |
aufgerufen um kurz vor zwei Uhr nachts auf [3][www.biohenne.de], waren | |
gerade in diesem Moment fünfzig Prozent der Hühner dabei, Eier zu legen. | |
Das konnte doch nicht sein! Zwanzig Prozent spielten! Fünfzehn Prozent | |
machten gerade eine Nachtwanderung. Zehn Prozent gönnten sich ein | |
Mitternachtsmahl. Und nur fünf Prozent taten das, was Hühner um diese Zeit | |
eigentlich längst tun müssten: Sie schliefen. Wie konnte das sein? Waren | |
die Hühnerzähler verreist? Oder schliefen etwa sie? War der Zentralrechner | |
defekt, waren die Transponder gestört? | |
Ich rief meinen Kumpel Michael an. Michael betreibt eine kleine | |
Internetfirma und kennt sich mit so etwas aus. „Bist du noch wach?“, fragte | |
ich. – „Jetzt wieder.“ Und ich erzählte ihm die Geschichte von Lotte und | |
dem Transponder, der ja wohl kaputt sein müsse. „Hmm“, sagte Michael, „du | |
solltest das im Auge behalten. Vielleicht bewegt sich das Hühnerbarometer | |
gar nicht. Könnte sein, dass der Hauptrechner abgestürzt ist und keine | |
aktuellen Daten mehr liefert. Oder die Transponder gestört sind. Das kann | |
schon mal passieren.“ Ich klickte auf „Aktualisieren“. Die Grafik blieb | |
dieselbe. „Behalt das Hühnerbarometer besser mal im Auge. Ich gehe wieder | |
schlafen.“ Er lachte grimmig, was ich mir nicht erklären konnte, da es sich | |
hier doch um eine sehr ernste Angelegenheit handelte. Aber als ich ihn nach | |
dem Grund seiner Heiterkeit fragen wollte, hatte er schon aufgelegt. | |
Was blieb mir anderes übrig? Ich folgte seinem Rat, saß da und beobachtete | |
die Grafik, Minute um Minute. Ich nahm mir vor, sie jede Minute einmal zu | |
aktualisieren, aber es machte keinen Unterschied, ob ich ständig | |
aktualisierte, nichts veränderte sich, nichts geschah. Vielleicht jetzt? | |
Nein, immer noch nicht. „Kommst du nicht schlafen?“, fragte meine Freundin. | |
„Später, meine Liebe. Ich muss Lotte beobachten“, sagte ich. Noch mal | |
aktualisieren. Immer noch nichts. Sie ging wieder ins Bett. Ich stand auf, | |
machte mir eine Tasse Tee und schaute in den Kühlschrank. Es waren noch | |
vier Eier in dem Karton, aus dem ich am Morgen Lottes Ei genommen hatte. | |
Wenn mit Lotte irgendetwas nicht in Ordnung wäre, dann würde ich diese Eier | |
nicht mehr essen wollen. Ich würde sie feierlich beerdigen und in tiefem | |
Respekt vor der Kreatur vor ihrem Grab verharren. | |
So wie jetzt vor dem Hühnerbarometer. Aber nichts passierte. Immer wieder | |
fielen meine Lider, einmal war ich kurz davor einzuschlafen, ganz kurz | |
davor, aber plötzlich war da ein lautes Schnarchen zu hören, und davon | |
wachte ich wieder auf. Es war vier Uhr dreiunddreißig. Und es hatte sich | |
etwas getan auf dem Biogeflügelhof. Jetzt waren siebzig Prozent der Hühner | |
damit beschäftigt, Eier zu legen, zehn Prozent spielten, fünf Prozent | |
schliefen, zehn Prozent gingen spazieren, und fünf Prozent stärkten sich. | |
Der Biobauernhof war wieder auf Sendung! Ich ließ das Hühnerbarometer nicht | |
mehr aus den Augen. Dort tat sich – nichts. War es wieder abgestürzt? War | |
etwa mein Rechner abgestürzt? Nein, alles in Ordnung. Nur das | |
Hühnerbarometer stand wieder still. Aber diesmal blieb ich wach. | |
Ich war zum Hühnerforscher geworden. Und Folgendes fand ich während meiner | |
siebentägigen Beobachtung, vierundzwanzigstündigen Überwachung heraus: Die | |
Hühner auf dem Biogeflügelhof Deersheim hatten einen sehr geregelten | |
Tagesablauf. Sie verhielten sich statistisch gesehen immer wieder gleich. | |
Es gab tatsächlich nur acht verschiedene statistische Verteilungen, die das | |
Verhalten der Hühner anzeigten. Alle drei Stunden wechselte die Anzeige, | |
immer in derselben Reihenfolge. Im statistischen Mittel ergab sich für | |
Lotte folgendes Tagespensum: acht Stunden und zweiundvierzig Minuten | |
verbrachte sie im Schnitt damit, Eier zu legen, was mir als ungewöhnlich | |
viel erschien. Sie schlief nur vier Stunden und drei Minuten. | |
Fürs Spielen hatte sie neun Minuten mehr Zeit. Drei drei Viertel Stunden | |
ging sie spazieren. Und immerhin drei Stunden und achtzehn Minuten | |
verbrachte sie mit der Nahrungsaufnahme. Also, rein statistisch. Anders | |
konnte ich das nicht herausfinden. Denn der Biogeflügelhof antwortete nicht | |
auf meine Mail. Also rief ich an. Was gar nicht so einfach ist. Denn um | |
Auskünfte zu erhalten, muss man mit der Geschäftsführerin sprechen. Und die | |
ist eine beschäftigte Frau, wie sie mir auch gleich sagte, als ich sie | |
erreichte. Ich könne deshalb leider auch nicht kommen. Sie bezweifelte, | |
dass das Ei, das ich im Supermarkt gekauft hatte, aus ihrem Betrieb | |
stammte. | |
Um sicherzugehen, dass ich mich nicht geirrt hatte, las ich ihr noch mal | |
die Nummer vor: 0 – DE 1261022. Und es stellte sich heraus: Lotte befand | |
sich nicht in Deersheim, sondern in Bestensee. Deersheim, lernte ich | |
später, ist ein Ort mit achthundert Einwohnern, gehört zu Sachsen-Anhalt | |
und befindet sich im Nichts der ehemaligen Zonengrenze zwischen Magdeburg | |
und Salzgitter. Die Farm B2, aus der mein Ei stammte und in der | |
folgerichtig Lotte wohnte, gehörte zwar der Biogeflügelhof Deersheim GmbH, | |
stand aber in Bestensee, einem brandenburgischen Ort in der Nähe von Pätz | |
und Motzen, ungefähr vierundvierzig Kilometer südlich von Berlin. Das war | |
eine „Packstelle“, wie die Geschäftsführerin sagte, was ich so verstand, | |
dass dort Eier eingepackt wurden. Ob ich denn die Packstelle besuchen | |
könnte? Das müsse ich mit deren Leiter vereinbaren, sagte die | |
Geschäftsführerin. | |
Ob sie mir denn in der Packstelle einen Ansprechpartner nennen könne, | |
fragte ich die Geschäftsführerin. Ich sollte ihr meine Nummer geben, sie | |
würde mich zurückrufen. Tatsächlich rief sie am selben Nachmittag an. Aber | |
ich verpasste ihren Anruf. Und als ich sie zurückrufen wollte, war sie in | |
Urlaub. Erst zwei Wochen später sollte ich sie wieder erreichen können. | |
Zwischendurch machte ich mir wieder Gedanken über das Hühnerbarometer. Traf | |
es auf Lotte zu? Wahrscheinlich nicht. „Was der Großteil unserer Hühner | |
gerade macht“, das bezog sich wahrscheinlich nur auf die ortsansässigen | |
Hennen in Deersheim. Und Lotte war in Bestensee. Die Ökobilanz betrachtet, | |
war das viel besser als Deersheim – das Ei musste nicht unsinnigerweise | |
zweihundertvierunddreißig Kilometer per LKW nach Berlin gefahren werden, | |
sondern stammte direkt aus der Umgebung. Ein regionales Produkt. Wie es | |
wohl Lotte ging? Ich musste immer noch an sie denken, wenn auch nicht mehr | |
ganz so viel wie früher. | |
„Hast du eine andere?“, fragte meine Freundin. – „Ich denke an Lotte“, | |
sagte ich. – „Du denkst an ein Huhn.“ Ich hörte, wie sie am Telefon einer | |
Person erzählte: „Mein Freund denkt an ein Huhn.“ Aber das beirrte mich | |
nicht. | |
Endlich erreichte ich die Geschäftsführerin wieder. Sie erinnerte sich | |
sogar an mich. Nur – leider könne ich die Packstelle nicht besuchen. Wegen | |
der Vogelgrippe, ich müsse verstehen. | |
Die Vogelgrippe. Diese schreckliche Krankheit, an der wir vor einiger Zeit | |
einige Monate lang alle gestorben sind. Ich hatte sie fast schon wieder | |
vergessen, aber sie war immer noch da – in Gestalt von Stallpflicht. In | |
Vogelgrippegefahrenzonen verhängt das zuständige Veterinäramt im | |
Bedarfsfall eine dauerhafte Stallpflicht für Geflügel. Zwar war die | |
Freilandhaltung in vielen Gebieten zwischenzeitlich wieder dauerhaft | |
erlaubt worden – in Bestensee jedoch bestand die Stallpflicht immer noch. | |
Das bedeutete, dass Lotte niemals spazieren gehen konnte. Sie wurde in | |
einer Halle gehalten. Trotzdem dürfen so hergestellte Eier Bioeier heißen – | |
auch wenn die Hennen, die sie legen, niemals im Freien waren. Es kommt nur | |
darauf an, dass sie biologisch erzeugtes Futter bekommen, dann bleiben sie | |
auch dann Biohennen, wenn sie wegen Vogelgrippegefahr dauerhaft eingesperrt | |
sind. | |
Damit änderte sich Lottes von mir konstruierter Tagesablauf radikal. | |
Offensichtlich hatte Lotte die Vogelgrippe erwischt, jedenfalls hatte sie | |
ihr die Freiheit geraubt. Ich war, muss ich gestehen, geschockt. So | |
geschockt, dass ich ganz vergaß, die Geschäftsführerin nach der genauen | |
Adresse von Lottes Heimatfarm B2 zu fragen. Ich überlegte gerade, ob ich | |
sie nicht gleich noch mal anrufen sollte, da klingelte das Telefon. Es war | |
Kumpel Michael. | |
„Wollte nur wissen, ob du immer noch vor dem Hühnerbarometer hockst“, sagte | |
er. „Nein, Lotte wohnt gar nicht in Deersheim“, sagte ich, „war aber | |
trotzdem ganz interessant. Ich glaube, die stellen dort irgendetwas | |
Seltsames mit den Hühnern an. Die haben einen ganz genau abgezirkelten | |
Lebensrhythmus, legen unglaublich lange Eier und schlafen kaum.“ | |
Und je länger ich erzählte, desto mehr musste Michael lachen. „Ich kann | |
dich beruhigen“, sagte Michael. „Dein Huhn bekommt seinen Nachtschlaf, | |
keine Sorge.“ – „Aber wie kann das sein, wenn doch das Hühnerbarometer | |
etwas ganz anderes anzeigt?“, fragte ich. | |
„Wie das sein kann? Das will ich dir sagen: Dein Hühnerbarometer ist ein | |
kompletter Scheiß. Die verarschen dich. Die Hühner werden nicht gezählt. | |
Das ist ganz simpel programmiert. Diese Prozentzahlen hat sich jemand | |
ausgedacht. Das kann doch jeder. Kann ich dir auch machen. Ich würde es | |
aber schlauer anstellen, etwas plausibler, als die das offensichtlich | |
gemacht haben.“ | |
Da fiel es mir wieder ein. Er hatte es mir ja schon einmal erzählt. Michael | |
hatte ganz am Anfang, kurz nach der Firmengründung, einen Kunden, der | |
Stripshows über das Internet verkaufen wollte. Die Darstellerinnen | |
arbeiteten hauptberuflich als Prostituierte in einem Bordell, das nur | |
wenige Straßen von der Firma entfernt war. Der Bordellbesitzer wollte mit | |
dem Internetsex die Zeit versilbern, in der die Frauen auf reale Kunden | |
warteten. Michael und sein Kompagnon installierten die Webcams und | |
betreuten die technische Übertragung. Wenn eine rote Lampe aufleuchtete, | |
bedeutete das, dass ein virtueller Freier online war, und von den Frauen | |
wurde erwartet, dass sie sich dann entkleideten und an sich herumspielten. | |
Das Geschäft lief aber schlecht. Aus irgendeinem Grund wollte der Zuhälter | |
nicht, dass die Frauen merkten, dass kaum jemand sie strippen sehen wollte. | |
Also schrieb Michael ein kleines Programm, das in unregelmäßigen Abständen | |
im Puff die rote Lampe aufleuchten ließ. Auf dem Bildschirm im Bordell | |
zeigte das Programm zufällig erzeugte Äußerungen von erfundenen | |
Chatteilnehmern an: Die Frauen sollten glauben, dass irgendwo an einem | |
Rechner ein Kunde saß und ihnen zusah und beispielsweise „Show me your | |
tits“ eintippte. Und sie glaubten es. Und taten es. Die Frauen strippten, | |
zogen sich aus, räkelten sich, und niemand war da, der ihnen dabei | |
zugesehen hätte. „Wir haben die Hühner ganz schön tanzen lassen“, sagte | |
Michael und lachte dreckig. „Alle glauben, was der Computer ihnen sagt oder | |
die Statistik. Und das gilt besonders für computererzeugte Statistik. Dafür | |
sind die gemacht. Aber du glaubst es auch? Du hast es doch nicht wirklich | |
geglaubt?“ Er lachte wieder. Und immer noch lachend legte er auf. | |
Das gab mir den Rest. Lotte saß irgendwo im Dunklen. Die Hühner in | |
Deersheim taten wohl alles Mögliche, aber nicht das, was das sogenannte | |
Hühnerbarometer gerade anzeigte. Ich wusste weniger über mein Bioei als je | |
zuvor. Auf der Biohennehomepage suchte ich verzweifelt nach einem Hinweis | |
darauf, dass vielleicht doch alles in Ordnung wäre. Und tatsächlich, ich | |
fand ihn. Zertifikate! Warum hatte ich nicht schon früher an die | |
Zertifikate gedacht? | |
Zertifikate sind eine ganz tolle Sache. Weil wir Verbraucher nicht alles | |
selbst überprüfen können, schicken wir unabhängige Fachleute in die | |
Betriebe, die überprüfen dann für uns. Die Prüfer stellen anschließend ein | |
Zertifikat aus, das wir Verbraucher dann mehr oder weniger intensiv zur | |
Kenntnis nehmen. Die Hauptsache ist, dass es ein Zertifikat gibt. Dann sind | |
wir schon beruhigt. Die Prüfer kennen sich doch viel besser aus als wir! | |
Prüfern können wir vertrauen. Und auch ihren Zertifikaten. Der | |
Biogeflügelhof Deersheim hatte gleich vier davon auf seiner Homepage, denn | |
„alle unsere Bemühungen werden irgendwann einmal belohnt“. Das erste | |
Zertifikat trug das Label des International Food Standard (IFS) und | |
bescheinigt dem Biogeflügelhof Deersheim, diesen „auf höherem Niveau“ | |
erfüllt zu haben. IFS ist eine Organisation der Einzelhändler, also der | |
verkaufenden Supermärkte. Sie prüfen die angeschlossenen Betriebe zwar, | |
machen die Ergebnisse der Prüfung aber nicht öffentlich. Das Siegel war für | |
mich sowieso wertlos: Hier bestätigte die Verkäuferseite, dass mit dem | |
Produkt alles in Ordnung sei. Und dass die Verkäufer dieser Ansicht waren, | |
das wusste ich ja schon. | |
Ich wollte aber, dass mir unabhängige Experten bestätigten, dass es Lotte | |
gutging. Das zweite Zertifikat stammte vom Ökolandbauverband Gäa, mit dem | |
der Biogeflügelhof Deersheim sehr viel Werbung macht. Ist ja auch ein | |
vertrauenswürdiger Verband, unabhängig und streng, mit Richtlinien, die | |
über jene der EU hinausgehen. | |
Und dann gab es noch zwei Zertifikate von einer „Öko-Prüfstelle e. V.“ | |
namens „Grünstempel“. Eines war die „Bestätigung der ökologischen | |
Bewirtschaftung“, das andere ein „Kontrollzertifikat“, das irgendwie noch | |
mal dasselbe bestätigte. Okay, immerhin drei Zertifikate von zwei | |
unabhängigen Stellen. Ich wollte den Computer schon ausschalten, da wurde | |
ich stutzig. Und sah noch mal genauer hin. Alle vier Zertifikate waren | |
bereits abgelaufen, seit über einem Jahr. Kann ja mal passieren, dass man | |
seine Webseite nicht aktualisiert. Also rief ich bei Gäa an. Und erreichte | |
tatsächlich sofort eine freundliche Mitarbeiterin. Die mir aber erklärte, | |
dass der Biogeflügelhof Deersheim nicht mehr nach Gäa-Richtlinien | |
zertifiziert sei. Wie denn das käme?, wollte ich wissen. Ja, dieser Hof sei | |
vom Gäa-Landesverband Sachsen-Anhalt zertifiziert, sagte sie. Na und? Tja, | |
stellte sich heraus, der Gäa-Landesverband Sachsen-Anhalt sei nicht mehr im | |
Bundesverband und auch nicht berechtigt, Gäa-Zertifikate auszustellen. | |
Seltsam. Warum denn der Landesverband Sachsen-Anhalt nicht mehr im | |
Bundesverband sei? Und da erzählte die freundliche Gäa-Mitarbeiterin von | |
unterschiedlichen Auffassungen, aber um was es eigentlich ging, erzählte | |
sie mir nicht. Sie plauderte so freundlich, dass wir uns längst in einem | |
allgemeinen Gespräch über Bioessen befanden, als es mir auffiel, und dann | |
kam es mir unhöflich vor, noch weiter nachzubohren. | |
Also sprachen wir Allgemeines. Ob denn Biokost aus dem Supermarkt überhaupt | |
gesünder sei als konventionelle Ware, wollte ich wissen. Na ja, das sei | |
wissenschaftlich schwer nachzuweisen, sagte sie. Aber immerhin seien | |
Biolebensmittel grundsätzlich weniger mit Pestiziden belastet als | |
konventionelle. Sie erzählte mir von einer Studie aus Österreich. Deren | |
Verfasser hatten 170 internationale Untersuchungen ausgewertet. Unter | |
anderem heißt es bei ihnen, dass Biogemüse und Bioobst mehr Vitamine habe | |
als konventionelles, besser haltbar sei, weniger Nitrat enthalte, deutlich | |
geringere Pestizidrückstände aufweise und, laut Geschmacksproben, besser | |
schmecke. Biofleisch habe eine günstigere Fettsäurezusammenfassung, Bioeier | |
eine höhere ernährungsphysiologische Qualität – weil die Hühner besseres | |
Futter bekommen. Kein Gift und kein genverändertes Essen hätten zum | |
Beispiel bei Männern einen ganz konkreten Effekt: Männer, die sich | |
ausschließlich organisch ernähren, sind dänischen Vergleichsuntersuchungen | |
zufolge fruchtbarer als andere. Hochinteressant. Allerdings arbeiteten die | |
Biodänen mit dem Supersperma auf einer Ökofarm und die normal fruchtbaren | |
nicht. Interessanter fände ich eine Vergleichsstudie mit Dänen, die sich | |
von Supermarktbilligökoprodukten ernähren. | |
Die Ökolebensmittelbranche, sagte die Gäa-Frau, stehe im Zentrum der | |
öffentlichen Aufmerksamkeit wie sonst keine. Dabei habe sie nur einen | |
Marktanteil von deutlich unter fünf Prozent. Gäa überbiete zwar die | |
EU-Ökorichtlinie, verlange also noch besseres Futter, noch mehr | |
Auslauffläche, noch weniger Gift – aber immerhin, wenn die gesamte | |
EU-Landwirtschaft nach der EU-Richtlinie arbeiten würde, dann wären wir | |
schon ein ganzes Stück weiter, sagte die Biolobbyistin. Und weil die | |
Branche noch relativ klein sei, habe man noch gar nicht die Möglichkeiten, | |
über das reine Herstellungsverfahren hinaus nachhaltig zu produzieren. Und | |
so könne es eben sein, dass in einem Jahr mit schlechter Kartoffelernte die | |
Biokartoffeln nicht vom Bauern nebenan kommen, sondern mit dem Schiff aus | |
Übersee. Und das sogar, wenn es in den deutschen Lagern noch genügend | |
Biokartoffeln gäbe – aber eben nicht die schönen Frühkartoffeln, sondern | |
schon etwas ältere, verschrumpelte. Und die wolle der Biokunde nicht mehr | |
haben. | |
Klar sei es ein Ziel, alles in der Region zu produzieren, um beim Transport | |
möglichst wenig Energie zu verbrauchen, aber die Branche sei noch zu klein | |
und zu jung, um dieses Ziel jetzt schon erreichen zu können, sagte die | |
Gäa-Frau. Ein sehr interessantes Gespräch. Trotzdem wurde ich langsam | |
unruhig. Denn Lotte hatte mich all das kein Stück näher gebracht. Nun ja, | |
vielleicht könnten mir ja die Leute bei Grünstempel mehr berichten, dachte | |
ich, und suchte mir die Adresse heraus. Und es stellte sich heraus, dass | |
Grünstempel dieselbe Adresse hatte wie Gäa Sachsen-Anhalt, der Verein war, | |
wie ich später lernte, aus Gäa Sachsen-Anhalt hervorgegangen. Die Dame, die | |
ich bei Grünstempel erreichte, konnte mir noch nicht einmal sagen, wann | |
Grünstempel gegründet worden war, ohne mich auf ihren Chef zu verweisen, | |
der aber nicht da sei. Nur das konnte sie mir sagen: Der Biogeflügelhof | |
Deersheim werde nach wie vor von Grünstempel geprüft und erfülle nach wie | |
vor die EU-Ökokriterien. Immerhin. | |
Ich rekapitulierte. Das Bioei mit der Nummer 0 – DE 1261022, Lottes | |
Leibesfrucht, die ich am Sonntag verspeist hatte, stammte nicht von einer | |
Henne, die sich in Wald und Wiese vergnügte, wie es mich der Werbefilm der | |
Erzeugerfirma glauben machen wollte. Die Firma war auch nicht nach den | |
Gäa-Richtlinien zertifiziert, wie sie behauptete. Der Landesverband, der | |
ihr Zertifikat ausgestellt hatte, durfte mittlerweile keine Gäa-Zertifikate | |
mehr ausstellen – aus welchen Gründen auch immer. Es war also von vier | |
Zertifikaten auf der Biohenneseite eines von einem Industrieverein | |
ausgestellt und drei stammten von ein und derselben Adresse. Dazu waren | |
alle vier veraltet. | |
Ich forschte weiter nach. Der einzige Eier erzeugende Betrieb in Bestensee | |
ist laut Auskunft der Gemeinde die „Landkost Ei Erzeugergemeinschaft GmbH“. | |
Sie besitzt in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt Legeplätze für drei | |
Millionen Hennen, die im Jahr eine Milliarde Eier legen, und machte im Jahr | |
2001 einen Umsatz von rund 92 Millionen Euro. Ein Drittel der | |
Landkostlegeplätze sind für Boden- oder Freilandhaltung ausgestattet. Mit | |
anderen Worten: Zwei Millionen Landkosthühner hausen in Käfigen. Die | |
Landkostei gehört (zum Teil) einer Familie Eskildsen. Der Biogeflügelhof | |
Deersheim ist ebenfalls ein Eskildsenbetrieb. Stammte das Ei 0 – DE 1261022 | |
von Landkostei? Stand in Bestensee die Farm B2, wo Lotte lebte? | |
Ich schickte eine Mail an den Biogeflügelhof Deersheim. Ich wollte jetzt | |
verdammt noch mal wissen, wo Lotte war. Ich wollte außerdem wissen, warum | |
die Deersheimer mit einem Zertifikat warben, das längst abgelaufen war. Und | |
ich wollte endlich wissen, wie das Hühnerbarometer funktionierte. Ob es | |
überhaupt funktionierte. Auf eine Antwort warte ich heute noch. | |
Am Anfang hatte ich es mir so einfach vorgestellt. Ich kaufe ein Bioei und | |
mit dem Bioei ist dann alles in Ordnung. Ich konnte Lotte – theoretisch – | |
von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten, ihr die Kralle schütteln und, | |
wenn es sein musste, auch den Adler Alfred vertreiben. Und jetzt? Ich | |
wusste gar nichts. Meine Freundin steckte den Kopf zur Tür herein. „Brütest | |
du immer noch über dem Ei?“, fragte sie. Das tat ich. Aber es hatte keinen | |
Sinn mehr, hier herumzusitzen. Wenn ich unbedingt wissen wollte, wie es | |
Lotte ging, dann musste ich sie suchen gehen. Es blieb mir nichts mehr | |
anderes übrig. | |
Ich bin dann also hingefahren, den ganzen Weg nach Brandenburg. Habe mir | |
bei der erstbesten Autovermietung das billigste Modell gemietet und bin | |
losgefahren. Erst als ich schon drinsaß, merkte ich, dass es sich um einen | |
weißen Kastenwagen handelte, wie ihn auch Natascha Kampuschs Entführer | |
Wolfgang Priklopil benützt hatte. Man fährt von Berlin-Kreuzberg aus etwa | |
eine Stunde nach Bestensee, wenn die Straßen frei sind und man sich nicht | |
verfährt. | |
Die Straßen waren voll, und ich habe mich verfahren. Kurz vor Bestensee | |
hätte ich beinahe einen Hasen überfahren, zum Glück konnte ich noch | |
rechtzeitig bremsen. Als ich endlich ankam, war es bereits stockdunkel. Ich | |
fuhr durch den menschenleeren Ort, dachte schon, ich wäre wieder | |
hinausgefahren und fand dann ein ganzes Stück weiter doch noch die Einfahrt | |
eines Agrarbetriebes mit einem großen „Landkost“-Schild davor. Das | |
eigentliche Firmengelände war mit einer Schranke versperrt. In der | |
Verwaltungsbaracke brannte noch Licht. Okay, ich hatte jetzt mehrere | |
Möglichkeiten. Ich parkte den Wagen auf dem Parkplatz, stieg aus, steckte | |
mir eine Zigarette an und überlegte. Ich könnte da jetzt reingehen und nach | |
der Farm B2 fragen. „Wo sind die Hühner?“, könnte ich fragen oder rufen: | |
„Bringen Sie mich zu den Hühnern!“ Ich hatte keinen Termin. Es war nach | |
sechs Uhr abends. Wegen der Vogelgrippe war jeder Personenverkehr von Amts | |
wegen auf das Nötigste zu begrenzen. Die Chancen standen schlecht, dass | |
jemand für mich eine Ausnahme machen würde. | |
Ich könnte mich jetzt wieder ins Auto setzen, Anlauf nehmen und mit dem | |
Kastenwagen die Schranke durchbrechen und zu den Ställen rasen. Auf dem | |
Luftbild hatte ich gesehen, dass sich dahinter ein großer Komplex mit | |
Stallungen befand, insgesamt dreißig etwa fünfzig Meter lange Gebäude, in | |
kleinen Gruppen im Wald stehend, in der näheren Umgebung nochmal dreißig | |
Gebäude mehr. Ich könnte jetzt durchbrechen und die mehrere Kilometer lange | |
Betriebsstraße hinunterjagen, ganz hinter bis zum letzten Stall rasen und | |
ihn aufbrechen, „Lotte!“, würde ich rufen, „Loooottee!“, und vielleicht | |
würde ich sie finden und sie endlich fragen können: „Geht es dir gut, | |
Lotte? Sag es mir, geht es dir gut?“ | |
Da ging eine Tür auf, und eine Frau kam heraus. Sie beendete gerade ihren | |
Arbeitstag und ging zum Parkplatz zu ihrem Auto und sah dort neben einem | |
gemieteten weißen Kastenwagen einen Mann im Dunklen stehen, der gerade an | |
einer Zigarette sog und sie unschlüssig anstarrte. Ich sagte: „Guten | |
Abend.“ Sie sagte: „Guten Abend.“ Dann stieg sie in ihr Auto und fuhr | |
davon. Und ich drückte die Zigarette aus, schnappte noch ein wenig frische | |
Luft und fuhr nach Hause. Ich wollte nicht der Freak sein, der nachts | |
Frauen auflauert. Oder Hühnern. | |
Auf dem Heimweg dachte ich nach. Sollte ich in Zukunft noch Bioeier kaufen, | |
obwohl es nicht möglich war, Lotte zu finden? Seit neuestem waren alle | |
Bioeier in meinem Supermarkt mit dem Kennzeichen NL versehen. Nach Holland | |
würde ich sicher nicht fahren wollen. Aber deswegen auf Nichtbioeier | |
umsteigen? Nein, ich würde weiter Bioeier kaufen. | |
Dass ich Lotte nicht sehen konnte, hieß nicht zwangsläufig, dass es ihr | |
schlecht ging. Dass mich Lottes Besitzer einseifen wollten, bedeutete | |
nicht, dass sie gegen Gesetze verstießen. Vielleicht hatte ich einfach Pech | |
gehabt mit meinem Ei. Vielleicht waren alle anderen Eier perfekt und ihre | |
Hennen glücklich, kräftig, jederzeit besuchbar. Mein Ei, das war ja nur | |
eines von über neun Milliarden. Ich wollte es gerne glauben. Ich war ja nur | |
ein Konsument. | |
STEFAN KUZMANY, Jahrgang 1972, Redakteur der taz seit 1999, leitet in | |
dieser Zeitung das Ressort taz zwei. Seine Liebesgeschichte über Lotte, das | |
unbekannte Huhn, ist ein Vorabdruck aus seinem aktuell erschienenen Buch | |
„Gute Marken. Böse Marken. Konsumieren lernen, aber richtig“, S. Fischer | |
Verlag, Frankfurt am Main 2007, 194 Seiten, acht Euro | |
29 Sep 2007 | |
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STEFAN KUZMANY | |
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