# taz.de -- Immer auf der Flucht | |
Es war nicht ihr Leben, aber es lässt sie nicht los: Die Kinder von | |
Holocaust-Überlebenden müssen Kind und Beschützer zugleich sein. Für manche | |
ein Erbe, das krank macht | |
VON PHILIPP GESSLER | |
Eigentlich, sagt Gert Levy, habe er seine Angstzustände „ganz gut im | |
Griff“. Das muss er auch, schließlich soll er Hilfe geben, nicht Hilfe | |
brauchen. Der 54-jährige Kölner ist Gestalt- und Suchttherapeut. In seiner | |
Praxis mitten in der quirligen Südstadt bietet er mehrsprachige | |
interkulturelle Psychotherapie, Supervision und Coaching von einzelnen | |
Patienten, Paaren und Gruppen an. Alles läuft gut. | |
Ab und zu aber kommen sie, oft plötzlich, diese „Panikmomente“, gepaart mit | |
Schweißausbrüchen. „Ich drehe ab“, beschreibt er, was dann passiert. Der | |
Auslöser: Levy sucht etwas in den Akten. Dabei hat er sie sehr penibel | |
geordnet, um solche subjektiven Notsituationen gar nicht erst aufkommen zu | |
lassen. Seine Frau kennt diese Panik und entmündigt ihn dann, wie er es | |
formuliert: „Ich suche für dich“, sagt sie. Das hilft. Aber schrecklich sei | |
es zugleich, meint Levy, werde doch so das eigene Unvermögen bestätigt. | |
Das Beispiel ist harmlos, kaum mehr als eine Marotte – andere trifft es | |
härter. Levy, Sohn eines Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfers, | |
profitiert davon, dass er eine Lehrtherapie gemacht hat. Dieses Ausleuchten | |
der eigenen Psyche ist vorgeschrieben, bevor man selber Therapien anbietet. | |
Sonst könnte Levy einer seiner Patienten sein: Der dünne Mann mit schon | |
etwas grauen Haaren, der ein wenig an den BAP-Sänger Wolfgang Niedecken | |
erinnert, hat sich unter anderem auf die Therapie der Nachkommen von | |
Holocaust-Überlebenden spezialisiert. Ein Angehöriger der „Second | |
Generation“, wie die Fachliteratur diese Gruppe nennt, behandelt, so | |
gesehen, seine eigene Generation. | |
Die psychischen Probleme der „Second Generation“ sind nicht neu, seit etwa | |
zwanzig Jahren werden sie, vor allem in den USA, von Fachleuten beschrieben | |
und diskutiert. Sie gehen davon aus, dass zwischen fünf und zehn Prozent | |
der Mitglieder der „Second Generation“ therapiebedürftig sind. Im Sommer | |
drängte diese meist eher schweigsame Gruppe massiv in die Öffentlichkeit, | |
als etwa viertausend Nachkommen von Holocaustüberlebenden in Israel eine | |
Sammelklage gegen Deutschland einreichten. Sie forderten die | |
Bundesregierung auf, die Behandlungskosten für notwendige | |
psychotherapeutische Sitzungen zu tragen, wozu vielen Mitgliedern dieser | |
Gruppe das Geld fehlt. | |
Grundsätzlich scheint die deutsche Regierung zu dieser humanitären Geste | |
bereit zu sein, hinter den Kulissen wird derzeit offenbar an einer | |
einvernehmlichen Lösung gearbeitet. Dabei geht es – bedenkt man die | |
Milliarden, die bereits an Wiedergutmachung an die erste Generation und an | |
NS-Zwangsarbeiter gingen – um relativ geringe Beträge: Die Organisatoren | |
der Klage gehen davon aus, dass insgesamt nur 50 bis 100 Millionen Euro | |
vonnöten sind. | |
Levy ist nicht überzeugt von dieser Klage – als er von ihr las, war er eher | |
verärgert, sagt er. Einerseits, weil er meint, dass weltweit alle Menschen, | |
die Opfer menschengemachter Katastrophen wurden, wenn nötig, kostenlose | |
psychotherapeutische Hilfe erhalten sollten. Andererseits hört er sie schon | |
jetzt, die Stimmen der Deutschen, die dann wieder einen neuen Anlass | |
hätten, „Schluss jetzt!“ zu rufen. Es sind die, die schon immer einen | |
Schlussstrich unter die Erinnerung an den großen Judenmord fordern. „Da | |
habe ich keinen Bock drauf“, sagt Levy. Und wer sich ein wenig umhört unter | |
Mitgliedern der „Second Generation“, stößt nicht selten auf ähnliche Kri… | |
an der Klage in Israel – vielleicht auch, weil die psychische Betreuung von | |
Patienten dieser Art hier in Deutschland durch das Krankenkassensystem | |
etwas leichter ist. | |
Dabei brauchen Mitglieder der „Second Generation“ dringend Hilfe, auch in | |
Deutschland. Manche von ihnen, beschreibt es Peter Fischer, rennen in der | |
Bundesrepublik „von einer Therapie zur anderen“. Fischer ist Vorsitzender | |
des Fördervereins von Amcha, einer israelischen Organisation, die sich um | |
die psychische Betreuung der Holocaust-Überlebenden, der ersten Generation, | |
in Israel kümmert – in der Bundesrepublik fehlt eine vergleichbare | |
Organisation. Hinzu kommt, dass es hierzulande nach Auskunft von Amcha zu | |
wenige Hilfsangebote für die Mitglieder der ersten oder zweiten Generation | |
gibt. Und vernetzt sind sie kaum. | |
Levy behandelt in seiner Kölner Praxis rund zwei Dutzend Patienten der | |
„Second Generation“. Seine Behandlungsräume sind niedrig und etwas | |
unaufgeräumt, sie wirken warm, fast familiär. Levy kann gut zuhören, das | |
Gespräch schwebt dahin, elegant wechselt er zwischen Konzentration und | |
Komik, Anekdote und Analyse. Dabei ist ihm das Thema ernst, todernst – der | |
Sache und der Patienten wegen: Einer von ihnen litt unter einem Waschzwang, | |
er wusch sich hundert Mal am Tag die Hände, bis sie wund waren. Ein eher | |
offensichtlicher Fall – andere sind hintergründiger: Wie viele Mitglieder | |
der zweiten Generation beschäftigt Levy heute noch die große Trauer, die | |
viele Eltern nach 1945 plagte: „Als Kind habe ich meinen Vater laut weinen | |
hören.“ | |
Der Züricher Ethnopsychoanalytiker Paul Parin, selbst dem Holocaust | |
entronnen und Partisan im Zweiten Weltkrieg, analysierte schon Ende der | |
Siebzigerjahre in einem Vergleich seiner schwulen und jüdischen Patienten, | |
dass bei manchen Juden „depressive Gefühle, Angst, Scham“ geradezu | |
„unvermeidlich“ erschienen. Wie Homosexuelle empfänden sich Juden als | |
„Fremde“ in der Gesellschaft. Sie spüren keinen festen Grund unter sich. | |
Levy liebte seine Eltern, seine Augen strahlen, wenn er von ihnen – seine | |
Mutter lebt noch – berichtet. Aber Konflikte gab es mehr als genug. Die | |
Eltern waren oft nur zu überzogenen Emotionen fähig, etwa zu plötzlichen | |
Wutausbrüchen. „Es gab kein Mittelmaß“, sagt Levy. Er erzählt von | |
Familientreffen, wo man, auch er, rumschrie, weil der eine dem anderen | |
vorwarf, eine Geschichte von damals nicht richtig zu erzählen. In anderen | |
Familien war es im Gegensatz dazu nach dem Krieg nicht möglich, überhaupt | |
Emotionen zu zeigen, war vielen das doch im Lager oder im Untergrund brutal | |
abgewöhnt worden. Es wäre lebensgefährlich gewesen: Schwäche konnte den Tod | |
bedeuten. | |
Dieses Hartsein und Härtezeigen hat auch nichtjüdische Deutsche und ihre | |
Kinder in und noch nach dem Krieg geprägt – aber die Verfolgten des | |
Naziregimes waren davon natürlich stärker betroffen: Levys Großonkel Benno | |
wurde von der SA auf offener Straße erschlagen, dessen Bruder Heinrich in | |
Auschwitz ermordet. Levys Vater kam aus einer angesehenen jüdischen Familie | |
in Aachen, die deutschnational und sehr assimiliert war, seine Mutter | |
entstammt einem christlichen, sozialistisch geprägten Umfeld, das | |
Widerstand gegen die Nazis leistete. | |
Seinen Vater hat Levy einmal gefragt, wann er wirklich realisiert habe, wie | |
schlimm die Nazis waren. Als er, wie alle Juden im Reich, nicht mehr | |
Gitarre oder überhaupt ein Musikinstrument spielen durfte, war die Antwort. | |
Nach dem Krieg bedurfte es nur einer Andeutung, und schon bekam Gert Levy | |
von seinem Vater ein Gitarre geschenkt. Fotos von einem Auftritt des | |
Therapeuten als Gitarrist in seiner Rock-Blues-Band schmücken in seiner | |
Praxis eine Wand über seinem Computer. | |
Die Familie Levy floh 1937 nach Belgien und wurde dort nach der Invasion | |
der Deutschen verhaftet. Levys Vater wurde in ein Internierungslager in | |
Südfrankreich gebracht. Beim zweiten Mal gelang ihm die Flucht. Er schloss | |
sich der Résistance an, wurde dort ein angesehener Experte für | |
Plastiksprengstoff und war beteiligt an der Befreiung von Toulouse. Fotos | |
von seinem Vater will Gert Levy zunächst nicht zeigen – „das ist mir zu | |
heiß, die durch die Stadt zu tragen“. Es gibt nur etwa 20 Fotos mit seinen | |
Eltern, schätzt er – jedes einzelne ist da sehr kostbar, so geht es vielen | |
Mitgliedern der „Second Generation“. | |
Nach dem Krieg musste der Vater von Gert Levy feststellen, dass er in | |
Deutschland nichts werden konnte. Viele Holocaust-Überlebende waren nach | |
1945 aber auch so traumatisiert, dass ihnen die Kraft zu einer Karriere im | |
Nachkriegsdeutschland fehlte. Der daraus resultierende Geldmangel, aber | |
auch die verlorenen Jahre im Lager hatten zur Folge, dass diese Familien | |
oft nur ein Kind hatten – und diese Tochter, dieser Sohn musste dann meist | |
größten Erwartungen gerecht werden. Bei vielen Überlebenden wurden „die | |
gesammelten Wünsche, die man selbst sich nicht erfüllen konnte, auf die | |
Kinder projiziert“, sagt Levy. Als er als Jugendlicher einmal nach Israel | |
in einen Kibbuz reisen wollte, habe er „nur schwupp machen müssen“ – Levy | |
schnippst mit dem Finger –, schon durfte er fahren. | |
Oft war das Kind solcher Eltern in fast pathologischer Weise der | |
Mittelpunkt des Lebens – und die Sorge um das Kind folgerichtig völlig | |
überzogen. Denn diesen Sohn, diese Tochter, den lebenden Beweis des Sieges | |
über Hitler, wollten die Eltern nicht einmal in die Nähe von Gefahr | |
bringen, „overprotecting“ nennt man dieses extreme Abschirmen. „Sie waren | |
wahnsinnig fürsorglich und ängstlich um mich“, erzählt Gert Levy von seiner | |
eigenen Familie. Hört man sich unter Kindern von Überlebenden um, gibt es | |
etwa die typische Geschichte eines erwachsenen Mannes, dem die Mutter im | |
Winterurlaub auf dem Lift hinterherfuhr, wenn er den Berg auf Skiern | |
hinabglitt. | |
Levys Vater fand nach dem Krieg schließlich in der Kommission der | |
Europäischen Gemeinschaft in Brüssel eine höhere Position. Mit seiner | |
Mutter sprach Gert Levy Deutsch, mit seinem Vater nur Französisch. Wie bei | |
vielen Überlebenden fiel auch Levy in der Pubertät eine nötige | |
Distanzierung von den Eltern schwer. Er habe diese Lebensphase nur mit | |
vielen Lügen überstanden, erzählt Levy. „Da war ich fit.“ | |
Und eine seltsame Konkurrenz konnte da entstehen: „Wir, die zweite | |
Generation, können unsere Eltern ja in ihrem Leid, in ihrer Kraft und in | |
ihrem Kampf zum Überleben nie toppen. Das werden wir nie schaffen“, meint | |
er. „Das ist ein zentrales Problem in der innerfamiliären | |
Auseinandersetzung.“ Ein typischer Satz. Wenn Levy von sich selbst oder | |
seiner Familie erzählt, scheint er die Therapeutenposition einzunehmen. | |
Dann sind Sätze zu hören wie: „Jetzt gehen wir mal genau da rein“, oder | |
„Das nur eben als Bild behalten“. | |
Die „Second Generation“ erlebte ihre Eltern nicht nur als übermäßige | |
Beschützer, sondern oft selbst als schutzbedürftig und schwach, ja wegen | |
ihrer Traumata als kaum lebenstüchtig. Die Kinder wurden zu Ersatz-Eltern | |
solcher Eltern, eine schwierige Position. Auch das kennt Gert Levy aus | |
eigener Erfahrung: Nur durch eine beherzte Suche nach einem Arzt mitten in | |
der Nacht hat er es als Achtjähriger einmal verhindert, dass seine Mutter | |
an einer Angina starb. Sie konnte für ihn sorgen, für sich selbst aber | |
nicht. | |
Das Prägendste aber war – ähnlich wie bei der Tätergeneration, wenn auch | |
aus ganz anderen Gründen – das große Schweigen, das in den Familien der | |
Überlebenden meist herrschte: „Bei meiner Mutter wurde nüscht | |
thematisiert“, sagt ein Mitglied der „Second Generation“, „es gab immer… | |
Tränen, da verbot es sich, Weiteres zu fragen.“ | |
Auch dieses Phänomen ist schon länger bekannt. Paul Parin: „Als die Kinder | |
klein waren, wurde von den Verfolgungen nicht gesprochen; Angehörige, die | |
dem Naziterror zum Opfer gefallen waren, wurden nie mehr erwähnt, gleichsam | |
für inexistent erklärt. Massive Ängste der Eltern, die nicht verbalisiert | |
und den Kindern gegenüber nicht zugegeben wurden, sickerten durch, färbten | |
schon frühe Angstträume, die die Analysanden später erinnerten.“ | |
„Wir wollen dich nicht belasten“, Sätze wie diese hörte auch Levy – und… | |
haben ihn natürlich belastet. Auch wegen dieser Erfahrung hat er mit | |
anderen vor vier Jahren in Köln ein Erzählcafé gegründet, wo | |
Schoah-Überlebende aus Köln und dem Umland Interessierten ihre Geschichte | |
erzählen. Amüsiert erzählt Levy eine für diese Generation typische Anekdote | |
über den früheren Botschafter der USA in Berlin, John Kornblum: Er brachte | |
es, so wird kolportiert, erst kurz vor dem Flug in die deutsche Hauptstadt | |
auf dem Flughafen fertig, seiner Mutter, einer Auschwitz-Überlebenden, zu | |
erzählen, dass er Botschafter in Deutschland werde. | |
Es ist ein Schweigen innerhalb der Familie. Aber auch nach außen. Denn in | |
Deutschland besteht ein immer noch großes Unverständnis gegenüber den | |
Folgen einer „transgenerationellen Übertragung“, wie der Fachbegriff | |
lautet. Es ist immer schwer, sich zu seinen psychischen Problemen zu | |
bekennen – umso mehr im Land der Täter, wo Nichtjuden den Juden gern die | |
Leiden der Deutschen im Bombenkrieg oder bei der Vertreibung vorhalten. | |
Nach dem Motto: Wir haben doch genauso gelitten! „Meine Eltern sind ja auch | |
vertrieben worden“, äfft Levy solche Leute nach. Das Offenbaren der | |
psychischen Leiden vor Therapeuten, deren Familiengeschichte man nicht | |
kennt, macht die Angelegenheit umso schwerer. | |
Levy ist Selbstmitleid fern, eine Heulsuse ist er nicht. Und doch | |
konstatiert er: Die Vergangenheit wirkt lange nach. Den Mitgliedern der | |
„Second Generation“, so sieht es Levy, fehlt häufig wegen ihrer frühen | |
Konfrontation mit dem Überlebenskampf ihrer Eltern ein gewisses Maß in der | |
Gestaltung ihres eigenen Lebens. Vielleicht, weil vor der Folie der Eltern | |
ihr Leben irgendwie banal, ja fast langweilig wirkt: Oft kümmern sich die | |
Kinder der Überlebenden weder um ihre Gesundheit noch um ihr Geld – noch um | |
ihr Leben selbst. Sie suchen häufig die Gefahr und Extremsituationen, um | |
sich selbst zu spüren. Sie gehen „in die Grenzbereiche des Lebbaren“, wie | |
Levy es sagt. Typisch dafür seien etwa zwei Freunde von ihm, beides Ärzte, | |
beide „Second Generation“: Der eine musste, nachdem er freiwillig während | |
des Bürgerkriegs im Libanon praktiziert hatte, sofort in den von Nicaragua | |
wechseln. Der andere arbeitet in Paris in jenen Noteinsatzteams, die | |
gerufen werden, wenn größere Katastrophen vorgefallen und etwa Leichenteile | |
einzusammeln sind, wie Levy sagt: Solche Arbeit in Extremsituationen sei | |
für sie offenbar „ein Lebenselixier“. | |
In gewisser Weise sind die Mitglieder der „Second Generation“ immer noch | |
auf der Flucht wie ihre Eltern, haben Angst vor Beständigkeit, | |
diagnostiziert Levy: im Beruf, beim Wohnort, ja selbst bei Beziehungen. | |
Einmal trennte sich Levy von einer Frau, weil er den Antisemitismus ihrer | |
Verwandten nicht mehr ertrug. Ein anderes Mal hielt er, damals selbst Teil | |
der Westberliner Linken, die linke Palästina-Begeisterung seiner Freundin | |
nicht länger aus. Bei einer dritten Frau versuchte er lange zu übersehen, | |
dass ihre Vorfahren, Banater Schwaben, während des Krieges bei | |
judenfeindlichen Massakern mitgemacht hatten. Mit ihr – „eine tolle Frau!“ | |
– schaute er sich Claude Lanzmanns „Shoah“ an, um diese Dinge mit ihr zu | |
diskutieren. Nach der dritten Folge trennte er sich von ihr. Unklar muss | |
bleiben, ob die Gründe für diese Trennungen unbewusst vorgeschoben wurden, | |
ob bloß Bindungsangst herrschte. | |
Oder war es einfach Konfliktscheu? Mitglieder der „Second Generation“ | |
vermieden Konflikte häufig, sagt Levy: „Alles wird weich gespült.“ Wenn er | |
glaube, er werde finanziell übers Ohr gehauen, sei er wie gelähmt, | |
reaktionsunfähig. Paul Parin schreibt überspitzt: „Unmittelbar auf den | |
(wirklichen oder phantasierten) Angriff erlebten sie sich als klein, | |
schwach, hässlich, entstellt, krüppelhaft, ekelhaft, manchmal als | |
verdorben, verfallen, vergiftet.“ | |
„Wir wollen keinen Streit“, sagt Levy. Es habe beispielsweise lange | |
gedauert, bis er den Antisemitismus in Teilen der Westberliner Linken der | |
Siebzigerjahre auch angeprangert habe, erzählt Levy. In einer | |
Außenseiter-Rolle hätten sich einige Nachkommen von Überlebenden sogar | |
regelrecht eingerichtet. Manche sähen sich dann von Feinden umringt: | |
„Überall Antisemiten“, flüstert Levy mit leichter Ironie in | |
verschwörerischem Ton. | |
„Häufig waren bei Juden nicht die eigenen Erfahrungen, sondern die der | |
Eltern, die alle die Jahre der Naziverfolgungen und des Holocaust miterlebt | |
hatten, für die Ängste und Befürchtungen maßgebend“, analysiert Paul Pari… | |
„Ein Symbol, ein Kleinstes genügt, um die Verfolgung als unzweifelhafte | |
Tatsache zu erleben.“ Manche Angehörige der „Second Generation“ zögen | |
deshalb aus ihrer Familiengeschichte die Lehre, fachlich-intellektuell | |
immer die Besten sein zu müssen, so Levy. Aber der eigentliche Kampf um die | |
besten Positionen werde dann eher gemieden: besser nicht auffallen. „Wir | |
stehen nicht gern im Vordergrund“, sagt Levy, „am liebsten bescheiden im | |
Hintergrund, damit ja niemand mitkriegt, was wir tun.“ | |
Die „Second Generation“ kommt nun, rein biografisch bedingt, in ein Alter, | |
in dem alte Konflikte wieder aufbrechen, Kindheit und Jugend wieder näher | |
rücken und manchmal ernüchternde Lebensbilanzen zu ziehen sind. Anlässe | |
dafür sind etwa der Tod der Eltern, der Auszug der eigenen Kinder aus dem | |
familiären Zuhause und das Ende des Erwerbslebens. | |
Depressionen können die Folge sein. Die Suizidrate unter Mitgliedern der | |
„Second Generation“ ist höher als im Durchschnitt der Bevölkerung. Wie ho… | |
genau, wird gerade untersucht. Levy wartet auf neueste Daten aus Israel, wo | |
dies derzeit erforscht wird. | |
Der Patient, den Levy wegen seines Waschzwangs behandelte, kam mit seinem | |
Leben trotz vielfältiger Hilfe irgendwann nicht mehr zurecht. Sein | |
zwanghafter Alltag, das ewige Händewaschen, eine penibelste Zeiteinteilung | |
führten schließlich dazu, dass ihm gekündigt wurde – der soziale Abstieg | |
begann, verstärkte seine Zwangshandlungen noch. Eine Einweisung in die | |
Psychiatrie aber, meint Levy, hätte dieser Patient als ein Einsperren in | |
ein KZ empfunden. Vor einem halben Jahr hat er sich umgebracht. | |
Levy konnte ihm nicht helfen. | |
PHILIPP GESSLER, Jahrgang 1967, ist Reporter und Autor der taz | |
10 Nov 2007 | |
## AUTOREN | |
PHILIPP GESSLER | |
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