# taz.de -- Marzipankartoffel aus Stahl | |
> VEUVE CLIQUOT John Wayne der deutschen Publizistik: Kurt Scheel, | |
> Herausgeber des „Merkur“, geht in Pension | |
VON KATHRIN PASSIG | |
Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause gehnwernicht!“, sang Kurt | |
Scheel gegen fünf Uhr morgens in der offenen Tür lehnend. Er hatte leicht | |
singen, denn er war ja schon zu Hause, in seiner 1.000 Quadratmeter großen | |
Charlottenburger Merkur-Redaktion mit angegliedertem Heimkino. Nur wir | |
Gäste mussten noch in die weit entfernten Stadtteile Berlins, in denen man | |
als Inhaber erfundener Berufe so wohnt. Er sang es auch gar nicht so laut, | |
denn Herr Scheel denkt selbst nach mehreren Flaschen Veuve Cliquot an seine | |
Nachbarn. | |
Kurt Scheel ist zu Unrecht vor allem dafür bekannt, dass er von 1980 bis | |
2011 zusammen mit Karl Heinz Bohrer den Merkur herausgegeben hat. („Nein, | |
nicht den Münchner Merkur“, sage ich an dieser Stelle zu meinen | |
Gesprächspartnern. Aber Sie als gebildete taz-Leser wussten bestimmt auch | |
so, dass die Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken gemeint ist.) | |
## Zu Gast bei Herrn Scheel | |
Weitgehend unbekannt und unterschätzt sind hingegen Scheels Fähigkeiten als | |
Gastgeber. Die internationale Gastgeberqualitätsskala – die links mit | |
„Besuch bei Frau Passig in einem feuchten Pappkarton, dazu ein Glas Wasser“ | |
beginnt –, ist an ihrem rechten Ende mit „Filmabend bei Herrn Scheel“ | |
beschriftet. Die Einladungen beginnen mit einem Hertha-Spiel – gute Plätze, | |
die Karte bekommen Sie zugesandt –, umfassen einen Restaurantbesuch und | |
enden im Redaktionsheimkino, wo Herr Scheel ausgewählte Filme vorführt, | |
während seine Gäste knietief in Qualitätspralinen waten und die Getränke | |
nie zu Ende gehen. | |
Ich suche bei diesen Filmabenden sehr gern das Scheel’sche Badezimmer auf, | |
einen der wohlgeordnetsten Orte des Universums. Ich erbaue mich an den | |
japanischen Morgenmänteln, der akkuraten Anordnung der Manikürewerkzeuge, | |
ich stelle mir vor, wie der Mitherausgeberkörper zu sicher frühester | |
Morgenstunde damit auf thomasmannhafte Weise von jeder Körperlichkeit | |
befreit wird, und wie es wäre, selbst ein Leben von so reinlicher | |
Aufgeräumtheit zu führen. Ach, das könnte schön sein! Suhrkamp-Klassiker | |
bis ganz zum Ende lesen! Gründliches europäisches Denken! | |
Dieses hohe Maß an Zivilisiertheit, das Herrn Scheel umstrahlt, bringt die | |
Leute auf falsche Gedanken. „Diese süße, gnubbelige kleine | |
Marzipankartoffel von Mann wollte Krieg führen? Warum nur?“, kommentierte | |
Lord Dahrendorf vor ein paar Jahren einen Artikel im Merkur, in dem Herr | |
Scheel sich zu 9/11 geäußert hatte. (Okay, es war nicht Lord Dahrendorf, | |
sondern Wiglaf Droste. Das sei aber ungerecht, fand Herr Scheel, | |
schließlich kenne er Droste ja nun wirklich nicht sehr gut, und jetzt | |
durchwandere diese Kartoffelmetapher auch noch seinen Nachruhm, nein, Ruhm. | |
„Sie sollten lieber jemanden erwähnen, mit dem ich mich viel intensiver | |
unterhalten habe als mit Wiglaf Droste, der mich besser kennt, sagen wir | |
mal: Lord Dahrendorf.“) Lord Dahrendorf hat es ja nun selbst nicht leicht | |
und wird meistens zusammen mit seiner Physiognomie rezensiert, laut Max | |
Goldt sieht er aus „wie eine westfälische Bäuerin mit immensen | |
Hormonstörungen“. Umso besser sollte er eigentlich wissen, dass man sich | |
von anderer Leute Marzipankartoffelhaftigkeit nicht täuschen lassen darf. | |
Tatsächlich ist Herr Scheel nur außen herum mit Marzipan furniert. In ihm | |
drin wohnt unter anderem Urs Theckel, sein monströses anagrammatisches | |
Alter Ego. „Urs Theckel“, erklärt Herr Scheel, „ist erkennbar blöder als | |
ich und auch sympathischer, also naiver. Er verbindet das Abgründige des | |
Herrn Scheel mit dem fröhlichen Optimismus eines Zeit-Leitartiklers“, | |
weshalb Theckel logischerweise auch einige Jahre lang eine Kolumne in der | |
Zeit bewirtschaftete. | |
Jetzt, wo Scheel die Merkur-Mitherausgeberschaft niedergelegt hat (siehe | |
dazu auch Jan Feddersens Interview in der taz vom 19. 9.), spielt er mit | |
dem Gedanken an ein ganzes Urs-Theckel-Buch. Das wird voraussichtlich zu | |
einem derartigen Erstarken Theckels führen, dass er eines Tages eine | |
verbrecherische Solokarriere einschlagen muss wie in Stephen Kings „Dark | |
Half“. | |
Es wird dann einiges zu tun geben für Theckel, wenn er dem „Abgründigen des | |
Herrn Scheel“ eine Stimme und zwei Fäuste verleihen will: „Meine Verachtung | |
– das muss ich gestehen, es ist wirklich Verachtung – gilt einem Großteil | |
der Journalisten. Besonders widerwärtig und abscheulich sind ja die | |
TV-Fritzen, und wenn ich Nachrichtensendungen sehe: Gott, was haben die | |
einen Durchblick und was wissen die alle Bescheid! Also wirklich, da würde | |
ich gerne handgreiflich werden. Na ja? Und Leitartikler möchte ich auch | |
verprügeln.“ Herr Scheel kichert freundlich, als er das sagt. | |
Denn Herr Scheel ist eine Marzipankartoffel aus Stahl. Das habe ich | |
herausgefunden, indem ich einen Myers-Briggs-Persönlichkeitstest gemacht | |
und mir dabei vorgestellt habe, ich sei Kurt Scheel. Jemand, der wie Herr | |
Scheel in den 80er Jahren Brigitte-Abonnent war, kann nichts gegen einen | |
seriösen Psychotest haben, und der ergibt, dass Herr Scheel durch und durch | |
mit Urteilen angefüllt ist. Ich will darüber gar nicht urteilen, denn mir | |
ist dieser Wesenszug fremd, wo in Herrn Scheels Testergebnis das Judging | |
sitzt, da kommt bei mir Perceiving („Gneißen“) heraus. Solcherart | |
ausgestattet, gneiße ich mit wissenschaftlicher Präzision, dass für Herrn | |
Scheel jeder Tag Judgement Day ist. Dreißig Jahre lang täglich sieben | |
Zeitungen zu lesen, das kann auch dem Friedlichsten schlechte Laune machen. | |
Aber wahrscheinlich war Herr Scheel schon vorher gar nicht so friedlich und | |
schuld ist vielmehr das Kino, wie man in seinem 1998 erschienenen Buch „Ich | |
und John Wayne“ nachlesen kann: „Der Western, fürchte ich, hat mein | |
Weltbild stark geprägt: Man muß geduldig und freundlich sein, und dann muß | |
man sie erschießen.“ Die beiden männlichen Protagonisten in Polanskis | |
gerade in den Kinos laufenden „Gott des Gemetzels“ führen ihren Glauben ans | |
Gemetzel ebenfalls auf John Wayne und Ivanhoe zurück, obwohl sie dafür | |
eigentlich zu jung sind. Das lässt sie deutlich besser aussehen als ihre | |
hysterisch kreischend für friedliche Konfliktlösungen plädierenden | |
Ehefrauen Jodie Foster und Kate Winslet. Aber da Polanski selbst im besten | |
Alter für eine Prägung durch John Wayne und Ivanhoe ist, kann man eine | |
gewisse Parteinahme auch hier nicht ausschließen. | |
## Simulierte Bescheidenheit | |
Dabei gibt es im Frieden so wenig Gelegenheit zum Erschießen von Leuten. | |
Die Berliner Verkehrsbetriebe werben derzeit unter dem Motto „Deine Waffe | |
gegen Gewalt“ mit Bildern von Menschen, die mit zur Pistole geformten Hand | |
bei Bedarf den Notrufknopf drücken („Notruf drücken – Zivilcourage | |
zeigen“). Es sind schlechte Zeiten für die Bürger Ivanhoe, Wayne und | |
Scheel. Auch die damsels müssen nicht mehr so oft aus distress gerettet | |
werden wie früher, und nur ein einziges Mal, im Winter 1972, stand Herr | |
Scheel zur rechten Zeit am Tegeler See, wo er ein im Eis eingebrochenes | |
Kind aus dem Wasser zog und dafür die Berliner Rettungsmedaille am Bande | |
bekam. Das ist nicht irgend so eine Kaugummiautomaten-Medaille: „Die | |
Rettungsmedaille am Bande wird nur an diejenigen Personen verliehen, die | |
unter besonders schwierigen, mit erheblich eigener Lebensgefahr Menschen | |
aus Lebensgefahr gerettet haben oder eine von der Allgemeinheit drohende | |
Gefahr abgewendet haben und dabei ein besonderes Maß von Mut und | |
Opferbereitschaft erbracht haben.“ | |
Ich erfuhr davon nach fast zwanzig Jahren Scheelbekanntschaft, und Herr | |
Scheel erzählte es erst, nachdem das Gespräch ohne sein Zutun auf Eiswasser | |
und Unterkühlung gekommen war. So bescheiden ist er, oder so professionell | |
im Simulieren von Bescheidenheit, beides seltene Gaben. Seine | |
Bescheidenheit ging so weit, dass er Medaille und Urkunde umgehend verlor. | |
Falls also ein Mitarbeiter des zuständigen Bezirksamts diesen Beitrag | |
liest: Ich glaube, Herr Scheel würde sich über Ersatz freuen und ihn hin | |
und wieder an die Brust heften, wenn gerade niemand hinsieht. | |
Im Western werden Männer, die eigentlich nur in Frieden leben und die | |
Zeitung lesen wollen, durch die äußeren Umstände genötigt, in den Kampf zu | |
ziehen. Herr Scheel wird durch die äußeren Umstände genötigt, in Frieden zu | |
leben und die Zeitung zu lesen. Und man braucht sich nicht vorzustellen, | |
dass das zweite Leben einfacher ist als das erste. | |
■ Kathrin Passig (geb. 1970 in Deggendorf) lebt in Berlin und ist | |
Merkur-Autorin. Sie hat gerade mit Aleks Scholz und Kai Schreiber „Das neue | |
Lexikon des Unwissens“ bei Rowohlt veröffentlicht | |
10 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
KATHRIN PASSIG | |
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