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# taz.de -- Was wurde aus den Tupamaros?
> ■ Raul Sendic war der Gründer der Tupamaros in Uruguay, Vorbild der
> bundesdeutschen Stadtguerilla / Ein Gespräch über den bewaffneten Kampf
> und die Phantasie, über Gefangenschaft und die Politik im heutigen
> Uruguay / Aus der legendären Stadtguerilla ist eine legale Bewegung
> geworden / Von Thomas Schmidt
Das Gespräch fand nicht in einer Hotelhalle statt, sondern in einer
Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg. Raul Sendic, Gründer der Tupamaros, der
legendären Stadtguerilla Uruguays und selbst schon lebende Legende, paßt in
dieses einfache Ambiente. Obwohl längst eine historische Figur, wirkt er
bescheiden. Mit seinem ergrauten Haar, den buschigen Augenbrauen, dem tief
zerfurchten Gesicht und dem Schlauch zwischen den Lippen, um den Mate,
dieses typisch uruguayische Tee-Gebräu, zu schlürfen, wirkt der 63jährige
ein wenig großväterlich. Sein Antworten kommen bedächtig, oft mühsam
artikuliert. Bei seiner zweiten Verhaftung hatte man ihm Unterkiefer und
Zunge durchschossen. Die Folgen machen ihm sichtlich auch heute noch zu
schaffen. Raul Sendic strahlt eine große Ruhe aus. Doch zur Ruhe gesetzt
hat er sich nie.
Ende der 50er Jahre arbeitete Raul Sendic in der Gewerkschaft der
Reisarbeiter. 1960 organisierte er die Zuckerrohrarbeiter, gründete eine
der ersten Landarbeitergewerkschaften und begann Anfang 1962 mit dem Aufbau
einer Untergrundbewegung, die sich dann 1965 unter dem Namen Tupamaros mit
einer Bombe vor der Niederlassung von Bayer-Leverkusen in Montevideo zum
erstenmal zu Wort meldete. 1970 wurde Sendic verhaftet, ein Jahr später
floh er zusammen mit 107 Genossen aus dem Gefängnis. 1972 wurde er wieder
verhaftet, schwer gefoltert und zwölf Jahre lang in Isolationshaft
gehalten. Nach dem Rücktritt der Militärdiktatur kam er 1985 frei. Heute
ist Raul Sendic ZK -Mitglied der MLN, wie sich die Tupamaros - wie schon
damals - offiziell nennen, einer politischen Bewegung, die nun legal
arbeitet.
taz: Nach zwölf Jahren Gefängnis und Exil haben die Tupamaros 1985 - nach
dem Rücktritt der Militärdiktatur ihre Auferstehung gefeiert. Doch aus der
legendären Stadtguerilla ist inzwischen eine legale politische Bewegung
geworden. Wie sieht die aktuelle Politik der MLN aus?
Raul Sendic: Wir organisieren öffentliche Veranstaltungen, wir geben die
Zeitschrift mit der höchsten Auflage in Uruguay - 'Mate amargo‘ ('Bitterer
Mate-Tee‘) - heraus. Wir mieten zur Zeit einen Langwellensender, um so
einen größtmöglichen Teil der Bevölkerung zu erreichen. Wir machen
Gewerkschaftsarbeit und arbeiten im sozialen Bereich in den Stadtteilen
Montevideos, aber auch im Landesinnern, wo große Armut herrscht. Wir haben
das „Koordinationskomitee gegen die Armut“ auf die Beine gestellt, und für
diejenigen, die vom Verarmungsprozeß auf dem Land am stärksten betroffen
sind, gibt es die „Bewegung für Land“, die nicht ausschließlich eine
MLN-Organisation ist, aber in der vor allem wir arbeiten.
Dasselbe gilt für die „Kommissionen für ein Referendum“, die ihre Aufgabe
bereits erfüllt haben. Die Unterschriften, die für die Anberaumung einer
Volksabstimmung (über das im Parlament beschlossene Gesetz, das den
Militärs und der Polizei Straffreiheit für die Menschenrechtsverletzungen
unter der Diktatur zugesteht, Anm.d.R.) sind zusammen.
Ist die Abkehr vom bewaffneten Kampf eine endgültige Entscheidung, oder
halten sich die Tupamaros die Option offen, wieder zu den Waffen zu
greifen, falls sich der legale politische Handlungsspielraum verengt?
Lateinamerika ist nicht Europa. Niemand kann versprechen, im Falle von
Militärputschen, die permanent als Bedrohung über unseren zivilen
Institutionen schweben, passiv zu bleiben. Wir haben uns also bloß
verpflichtet, diese Etappe von Zivilregierung zu respektieren, mehr aber
nicht.
Erscheint dir im Rückblick die Entscheidung in den 60er Jahren, zu den
Waffen zu greifen, richtig?
Ja, denn es gab in den 60er Jahren eine perfekt durchgeführte Strategie,
die sicherlich weit nördlich des Südkegels (Uruguay, Argentinien, Chile)
formuliert worden war und die den Vormarsch der Militärs auf Kosten der
zivilen Institutionen implizierte. So war es in den 50er Jahren in
Argentinien, so geschah es 1964 in Brasilien mit dem Militärputsch gegen
die Regierung von Joao Goulart, so geschah es danach in Uruguay und
schließlich in Chile. In Uruguay gab es damals eine Guerilla, in
Argentinien hingegen gab es keine, als die Militärdiktatur kam, und auch in
Brasilien nicht, als gegen die Zivilregierung geputscht wurde, und
ebensowenig in Chile. Es gab keine Guerilla, sondern einfach eine
fortschrittliche Regierung, in Chile eine sozialistische. Die Antwort war
immer die gleiche: Militärputsch und Auflösung der fortgeschrittenen
Kampfbewegung, die sich in den 60er Jahren in jenen Breitengraden wie
überall auf der Welt entwickelt hatte. Es gab also eine Strategie, um
diesem Vormarsch, dieser Flut von Kämpfen entgegenzuwirken.
Militärisch waren die Tupamaros bereits geschlagen, als die Militärs 1973
die Macht übernahmen. Versteckt sich hinter der militärischen Niederlage
auch ein politisches Scheitern?
Die Militärs hatten seit September 1971 einen präzisen Kalender, den sie
später publik machten. Als erstes stand der Kampf gegen uns an, als zweites
die Auflösung der Gewerkschaften, als drittes der Angriff auf die
Kommunistische Partei, als viertes die Auflösung aller übrigen Parteien.
Wenn man nun beurteilen will, inwieweit wir politisch gescheitert sind, muß
man die Dinge in einer historischen Perspektive sehen. Bei allen Kämpfen
gibt es Vorläufer, Vorboten. Wir selber haben einen nationalen Helden, Jose
Artigas, der nie die Unabhängigkeit erkämpfte, sondern nur ein simpler
Vorläufer war. Und wir haben Che Guevara, der ebenfalls ein Vorläufer ist.
Der Sturm auf die Roncada-Kaserne (von Santiago de Cuba durch eine von
Fidel Castro angeführte Gruppe 1953, Anm.d.Red.) wurde ein Desaster, aber
er schaffte die Bedingungen, die später dann einen neuen Embryo von Kämpfen
hervorgebracht haben.
Die RAF, eine Gruppe in der Bundesrepublik, die sich selbst als Guerilla
versteht, schrieb 1971: „Das Konzept Stadtguerilla stammt aus
Lateinamerika. Es ist dort, was es auch hier nur sein kann: die
revolutionäre Intervention von insgesamt schwachen revolutionären Kräften.“
Was sagst du dazu?
Es ist schwierig, einen Satz zu interpretieren, dessen Kontext man nicht
kennt. In Wirklichkeit hat die Stadtguerilla nicht nur einen Ursprungsort.
Wir selbst lasen ein Buch über eine Guerilla, die uns beileibe nicht
sympathisch war. Wir lasen „Aufstand im Heiligen Land“ von Menahem Begin.
Darin werden die Umrisse einer politischen Guerilla gezeichnet, deren
Absicht es war, die britische Herrschaft über Palästina bloßzustellen.
Zwei, drei Sachen haben wir da einfach abgekupfert: die Art und Weise, sich
eine falsche Identität und einen falschen Beruf zuzulegen. All diese Tricks
haben wir auch angewandt. Doch wir haben die Stadtguerilla noch viel weiter
entwickelt. Aber danach kamen die Salvadorianer und andere, die uns
diesbezüglich in den Schatten stellten und die es zudem verstanden, zum
richtigen Zeitpunkt den Sprung von der Stadt aufs Land zu machen, dann
nämlich, als die Lage in der Stadt unhaltbar wurde.
Hier in der BRD war die Stadtguerilla ein Mythos. Wir haben unsern Vätern
vorgeworfen, Nazis oder zumindest Mitläufer der Nazis gewesen zu sein,
bestenfalls den Nationalsozialismus billigend in Kauf genommen zu haben.
Als der Vietnamkrieg kam, der Völkermord in Vietnam, empfanden hier viele
Genossen ihre politische Ohnmacht. Dieses Gefühl der Ohnmacht förderte die
Mythenbildung. Die Tupamaros, wiewohl politische Realität, waren auch
Mythos. Und ich glaube, daß sie selbst damals in Uruguay schon Mythos, auch
Mythos waren. Worin bestand die Ausstrahlungskraft des Tupamaro?
Ich glaube, die Reinheit, mit der wir unsere Aktionen durchführten, hat uns
Sympathien eingebracht. Wir haben unseren ganzen Grips angestrengt, darauf
zu achten, daß die Gefahr des Blutvergießens vermieden wurde. Viermal
gelang uns eine Massenflucht aus dem Gefängnis, jedesmal erblickten einige
Dutzend Personen die Freiheit. Wir haben dabei immer wieder nach neuen
Wegen gesucht, und jede Flucht wurde ausgiebig gefeiert. Einmal haben wir
auch eine Kaserne der Marine - sechzig Mann waren drinnen - eingenommen,
ohne auch nur einen Tropfen Blut zu vergießen. In Wirklichkeit mußten wir
nur bei zufälligen Auseinandersetzungen auf die konventionelle Gewalt der
Guerilla zurückgreifen. Ja, dann hat man in Uruguay und im übrigen
Lateinamerika und offensichtlich auch in Europa darüber berichtet, man hat
oft auch - nebenbei gesagt - übertrieben. Wir haben zwar gegen niemanden
gewonnen, doch haben wir irgendwie den Ruf der Gewinner. Das hat mit der
mehr oder weniger geistvollen und witzigen Art zu tun, die unseren Aktionen
zugrunde lag.
Die Genossen der MLN-Tupamaros haben unter der Diktatur wohl am meisten
gelitten. Folter, Gefängnis, Exil. Doch die verantwortlichen Militärs sind
nie zur Rechenschaft gezogen worden. Im Gegenteil, das Parlament
verabschiedete das Schlußstrich-Gesetz, die Amnestie für die Verbrechen der
Diktatur. Die MLN und weitere Gruppierungen haben nun genügend
Unterschriften für ein Referendum in dieser Frage zusammengebracht. Wird es
eine Volksabstimmung geben?
Ja. Es sind mehr als genügend Unterschriften zusammen. So wird man also
sicher im Dezember die Abstimmung durchführen, wenn bei uns in Uruguay
Sommer ist und viele Leute in den Ferien sind. Ich habe trotzdem kaum
Zweifel daran, daß das Resultat positiv sein wird, daß das Gesetz also
abgeschafft werden wird. Doch gibt es danach viele Möglichkeiten,
rumzutricksen. Sie können zum Beispiel die Militärs mangels Zeugen
freisprechen. Als sie zwei uruguayische Senatoren ermordeten, gab es
offenbar keine Zeugen. Die Gerichte werden also schwerlich die größten
Verbrecher der Diktatur bestrafen, diejenigen, die - was man vorher bei uns
so nicht kannte - Leute töteten, nachdem sie sie manchmal monatelang
gefoltert hatten, und die heute ungestraft noch auf ihren Posten sitzen.
Worauf zielt das Referendum? Die Toten sind tot, die „Verschwundenen“
tauchen nicht auf. Was ist die Hauptforderung der MLN-Tupamaros in dieser
Frage?
Das Hauptziel wurde schon erreicht. Es bestand darin, eine Erklärung des
Volkes hervorzurufen. Das Volk hat mit der enormen Anzahl von
Unterschriften denjenigen eine Abfuhr erteilt, die die ganze Sache
klammheimlich beerdigen wollten. Aber es gibt noch ein wünschenswertes
Ziel: die Säuberung der Armee von Putschisten.
Ist also die Armee gar nicht so homogen, wie sie sich gewöhnlich darstellt?
Genau, sie ist es nicht. Das weiß ich, weil ich zwölf Jahre in Kasernen
verbracht habe, und ich kenne sie praktisch alle, Offizier für Offizier.
Aber es genügt schon, sich in Erinnerung zu rufen, daß die Frente Amplio
(breites, reformistisches Linksbündnis, Anm.d.R.) von einem Ex -General
geleitet wird, daß man 400 Offiziere entlassen mußte, um eine
putschistische Armee zu bilden.
Ich war von 1973 bis 1984 in Isolationshaft, dann wurde ich mit einem
anderen, der auch isoliert worden war, zusammen in eine Zelle gesteckt.
Erst in der allerletzten Zeit durften wir lesen, und sie entschieden, was
man zu lesen kriegte, da wurde genau ausgewählt. Ich beschäftige mich gerne
mit wirtschaftlichen Fragen. Ich habe alles mögliche über die US
-Wirtschaft gelesen, da weiß ich nun bestimmt besser Bescheid als Reagan,
das waren eben die Bücher, die sie durchließen. Auch die Zeitschrift der
Schweizerischen Bankgesellschaft, die - das nur nebenbei - wirklich sehr
informativ ist. Ich beschäftigte mich nicht nur mit Politik, sondern auch
mit Problemen der Evolution, der Biologie. Ich versuchte zu studieren, und
wenn sie mir die Bücher wegnahmen, machte ich mir zur Disziplin, pro Tag
ein Problem klar durchzudenken. Mein meistverkauftes Buch heißt „Briefe aus
dem Gefängnis“. Darin erzähle ich meinen Kindern von Problemen der
Biologie, der Evolution, der Astronomie, der Chemie, der Computerisierung.
In der Einleitung zu den „Briefen aus dem Gefängnis“ heißt es, du seist
sechs Monate lang in einer ausgetrockneten Zisterne eingeschlossen gewesen.
Wie hast du das überstanden? Auch lesen konntest du ja dort nicht.
In Wirklichkeit war es eine sehr große Zisterne, die - wenn sie nicht
infolge der Regenfälle unter Wasser stand - nicht so schrecklich war wie
die Zelle von 1,20 mal 2,00 Meter. Es gab Genossen, die sind dort verrückt
geworden.
Was hast du empfunden, wenn du bei Auseinandersetzungen auf Menschen
geschossen hast, vielleicht jemanden verletzt oder getötet hast? War es
immer nur Selbstverteidigung?
Ich habe in Wirklichkeit niemanden getötet. Um mich auf die Liste
derjenigen zu setzen, die getötet haben (und deshalb 1985 nicht in den
Genuß der Amnestie kamen, Anm.d.Red.), fanden die Richter unter der
Zivilregierung, die die Diktatur ablöste, im Zusammenhang mit der Einnahme
der Stadt Pando durch die Tupamaros einen sonderbaren Weg. Auch wenn ich
bei der Schießerei selbst nicht zugegen war, wurde ich für die Toten, auch
die in den eigenen Reihen, verantwortlich gemacht, als ob ich unsere
eigenen Genossen getötet hätte. Ich wurde zu 23 Jahren verurteilt. Für uns
gab es aber eine besondere Lösung. Jedes unter der Diktatur im Gefängnis
verbrachte Jahr wurde angesichts der Bedingungen, unter denen wir gefangen
waren, als drei Jahre angerechnet. So gelten meine zwölf Jahre also als 36
Jahre. Und da ich nur zu 23 verurteilt worden war, ließ man mich frei. Aber
weil ich das juristische Konstrukt, das meinem Prozeß zugrunge lag,
ablehnte, bin ich in Revision gegangen. Von der Amnestie waren an die 60
weitere Genossen ausgenommen. Aber sie kamen alle zehn bis 15 Tage nach den
andern auch frei, weil sie mehr als ihre Strafe abgesessen hatten.
Wieviele Tupamaros wurden gefangengenommen, wieviele gingen ins Exil,
wieviele starben?
Etwa 7.000 wurden gefangengenommen. Wie viele ins Exil gingen, kann ich
nicht mit Sicherheit sagen, aber ich schätze ebenfalls etwa 7.000.
Gestorben sind etwa 200, einige unter der Folter, nach 1973 wurden viele
aus dem Hinterhalt erschossen; statt sie gefangenzunehmen, wurden sie
einfach erschossen.
Interview: Thomas Schmidt
13 Jul 1988
## AUTOREN
thomas schmidt
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