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# taz.de -- Enteignet Springer
> ■ Das neue taz-Domizil liegt schräg gegenüber vom Pressezaren
Karl-Heinz Ruch
Die taz zieht in das alte Berliner Zeitungsviertel. Kein besserer Ort läßt
sich denken für eine Zeitung, die einmal angetreten ist, die Forderung
„Enteignet Springer durch Abspenstigmachen der Leser“ in die Praxis
umzusetzen. Der Riese in der Kochstraße kann in Zukunft auf den Zwerg
herabblicken. Dort, wo Ostern '68 die Studenten nach dem Anschlag auf Rudi
Dutschke gegen die Auslieferung der Springer-Zeitungen angingen, wird sich
die taz, selbst ein Kind der Studentenbewegung, in ihrem zweiten Jahrzehnt
niederlassen. Am 1.November 1988 hat die gemeinnützige Stiftung
„Umverteilen! Für eine, solidarische Welt“ das denkmalgeschützte Haus
Kochstraße18 im alten Zeitungsviertel erworben. Nach Instandsetzung und
Ausbau wird es ab 1.Mai 1989 Verlag, Redaktion und Produktion der taz als
neues Domizil dienen.
Parallel zur Instandsetzung des Altbaus ist eine Neubau -Erweiterung
geplant, in der voraussichtlich Ende 1990 die Produktionsabteilungen der
taz untergebracht werden. Medien-Klo
Der Umzug in größere Räume ist notwendig geworden, weil nach dem Ausbau und
dem Wachstum der Zeitung in den letzten Jahren die alten Räume in der
Weddinger Wattstraße zu eng geworden sind. So konnte etwa die neu
eingerichtete Medienredaktion vor zwei Jahren nur noch in einem umgebauten
Klo untergebracht werden. Die räumliche Enge zehrt an den Nerven der
inzwischen über hundert MitarbeiterInnen in der Wattstraße.
Die morgendliche Redaktionskonferenz findet in demselben Raum statt, wo die
Küchencrew gleichzeitig das Mittagessen vorbereitet, der Geräuschpegel der
Küchenmaschinen muß also übertönt werden, damit eine Verständigung
überhaupt möglich ist. Oft sitzen in einer kleinen Redaktion drei
RedakteurInnen, von denen die eine telefoniert, ein anderer sich mit einem
Besucher unterhält und die dritte versucht, sich auf einen Text zu
konzentrieren. Ruhige Plätze sind Mangelwaren, die Qualität der
Arbeitsplätze ist auf ein Mindestmaß gesunken.
Bei der Suche nach Lösungen mußten wir feststellen, daß weder eine
Auslagerung einzelner Abteilungen noch ein kompletter Umzug der gesamten
taz unproblematisch sind. Gegen das eine sprachen die damit verbundenen
organisatorischen Schwierigkeiten, denn in einer Tageszeitung sind alle
Arbeiten eng miteinander verbunden, und bei der anderen Lösung erwies es
sich als ausgesprochen schwierig, in Berlin geeignete Räume in
ausreichender Größe zu akzeptablen Bedingungen zu finden. Umverteilen
Der Umzug in ein altes, denkmalgeschütztes Haus in der Kochstraße im alten
Berliner Zeitungsviertel ist daher die annähernd ideale Lösung: Sie hält
der taz alle Möglichkeiten für eine weitere Entwicklung offen; auch die
finanziellen Bedingungen sind im Vergleich zu anderen Alternativen in
Berlin günstig.
Eigentümerin des Altbaus wird nicht die taz, sondern die Stiftung
„Umverteilen! Für eine, solidarische Welt“, die das Haus an die taz
weiterverpachtet. Für die Stiftung ist das Haus eine Vermögensanlage, und
der Pachtzins, den die taz zahlt (jährlich rund 216.000 Mark) wird für die
satzungsgemäßen, gemeinnützigen Zwecke der Stiftung verwendet.
Ausreichend Platz für alle Bedürfnisse der taz und ihrer Mitarbeiterinnen
wird es allerdings erst geben, wenn der Altbau um eine Giebelwandbebauung
erweitert wird. Das soll innerhalb der nächsten zwei Jahre geschehen,
solange das Berlinförderungsgesetz noch in seiner augenblicklichen Fassung
günstige Finanzierungsmöglichkeiten bietet. In den nächsten Monaten wird
die taz ihren Lesern die Beteiligung an der Produktionsgesellschaft
„contrapress Satz und Druck GmbH“ als Kommanditisten anbieten. Wenn sich
abzeichnet, daß sich ausreichend viele taz-Leser beteiligen, werden bis zum
31.März 1989 Bauanträge gestellt und der Erweiterungsbau bis Ende 1990
fertiggestellt. Nach Fertigstellung des Anbaus werden beide Häuser zusammen
mehr Platz bieten, als ihn die taz für ihre eigenen Zwecke braucht. Eine
Option für die Zukunft, aber auch Möglichkeit für andere Projekte, sich in
der Nähe der taz anzusiedeln, und die Chance, aus dem Verlagshaus mehr als
eine bloße Anhäufung von Arbeitsplätzen zu machen. Steiler Zahn
Vor zehn Jahren sollte das Haus Kochstraße18 abgerissen werden, weil es den
Planungen der autogerechten Stadt, die aus derKochstraße einen
Autobahnzubringer machen wollten, im Wege stand. Die Zeiten änderten sich,
und ein Autobahnnetz kreuz und quer durch die Stadt war nicht mehr
durchsetzbar. Als Zeugnis einer verfehlten Planung steht das Haus seitdem
als „steiler Zahn“, seiner Nachbarn beraubt, umgeben von Baulücken und neu
hochgezogenen Häusern der Internationalen Bauausstellung (IBA). Mit der
Zeit änderten sich die Wertvorstellungen, was den Landeskonservator
veranlaßte, das Haus 1985 unter Denkmalschutz zu stellen. Die Eintragung in
das Baudenkmalbuch findet dafür gewichtige Worte: „Das 1909 von dem
Baugeschäft C.Kühn errichtete fünfgeschossige Gebäude stellt ein
hervorragendes Beispiel der um die Jahrhundertwende begonnenen reinen
City-Bebauung im nörlichen Teil der südlichen Friedrichstadt dar. Das
Gebäude löst sich dementsprechend von der Ende des 19.Jahrhunderts in der
südlichen Friedrichstadt noch üblichen Doppelnutzung als Wohn- und
Geschäftshaus zugunsten eines reinen Geschäftshauses, wobei die Eigentümer
selbst kein Geschäft in dem Gebäude betreiben, sondern ausschließlich ihren
Gewinn aus dem Besitz und der Vermietung des Gebäudes erzielten. Diese
besondere geschichtliche Bedeutung des Gebäudes als reines Geschäftshaus
bildet auch die Grundlage für die Gestaltung der Vorderhausfassade, die
sich durch große, der Funktion entsprechende Fensterflächen deutlich von
der kleinteiligen Fensteraufteilung der Wohn- und Geschäftshäuser des
Wilhelminischen Barocks in der südlichen Friedrichstadt unterscheidet.
Trotz dieser veränderten Fassadengestaltung wird die Grundstruktur und die
Dekoration von der Gestaltungsart des Wilhelminischen Barocks beeinflußt,
der bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts für den Kochstraßenbereich prägend
war. So entspricht zum Beispiel der durch Schaufenster aufgelöste
Sockelbereich des Erd- und ersten Obergeschosses der Struktur der
benachbarten neobarocken Fassaden an der Kreuzung mit der Friedrichstraße,
und die Pilaster in Kolossalstellung nehmen die Vertikalbetonung der
Jahrhundertwende auf. Auch die Fassadendekoration greift historisierende
Dekorationselemente auf. Sie ordnen sich jedoch dem strengen
Gestaltungsprinzip der späten Jugendstilfassade unter, was den besonderen
künstlerischen Reiz des Hauses ausmacht. Darüber hinaus kommt der Fassade
als letztem Beispiel des auf die Struktur der Friedrichstadt bezogenen
späten Jugendstils eine besondere baugeschichtliche Bedeutung zu.“ 148
Zeitungen
In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entwickelte sich in der
Gegend um Koch-, Jerusalemer und Zimmerstraße in der südlichen
Friedrichstadt das Berliner Zeitungsviertel. Im rasanten Tempo wurde hier
eine Zeitung nach der anderen gegründet. Ihren Höhepunkt erreichte diese
Entwicklung in den zwanziger Jahren, als in Berlin schließlich 148 Tages
und Wochenzeitungen erschienen, einige davon sogar mit mehreren täglichen
Ausgaben. Für die Zeitungsstadt Berlin standen die Namen der großen
Zeitungsverleger wie Mosse, Ullstein oder Scherl, aber auch die engagierter
linker Journalisten wie Tucholsky, Jacobsohn oder von Ossietzky.
Die Nazis betrieben den Niedergang des Zeitungsviertels. In kurzer Zeit
liquidierten oder enteigneten sie die Verlage. Die Arbeiterpresse wurde
sofort nach der Machtergreifung verboten, kommunistische oder
sozialdemokratische Zeitungsleute mußten in die Gefängnisse oder gingen in
den Untergrund. Jüdische Verleger wurden systematisch in den
wirtschaftlichen Ruin getrieben, bis sie ihre Verlage an die Strohmänner
der Nazis verkauften. Was sie dafür noch bekamen, reichte gerade aus, um
die Flucht ins Ausland zu organisieren. Wem es nicht gelang, sich ins
Ausland abzusetzen, der kam ins Gefängnis, ins Konzentrationslager, wurde
ermordet. Theodor Wolff, der langjährige Chefredakteur des 'Berliner
Tageblatts‘, wurde von der Gestapo in Frankreich gefangengenommen,
überlebte mehrere Konzentrationslager, bis er, schwer erkrankt, 1943 in
Berlin starb. Die Nazis konzentrierten ihre Pressemacht unter dem Dach des
Ullstein Verlages, „arisiert“ unter dem Namen „Deutscher Verlag“, bis a…
dieses Haus endgültig zerbombt wurde.
Nach dem Krieg gab es keine Zeitungen mehr und auch kein Zeitungsviertel.
Auch an dieses Kapitel deutscher Geschichte wurde in der Restauration kein
Gedanke verwendet. Geschickt eignete sich Springer als der neue Pressezar
die Etiketten der Tradition an, indem er den Namen Ullstein kaufte und die
Schaltzentrale seines Konzerns auf den Trümmern der alten Verlagshäuser
errichtete - höher, größer und goldener denn je. Ein Zentrum der Presse war
das allerdings nicht mehr.
Eine linke Besinnung auf journalistische Traditionen gibt es nicht. Dabei
gäbe es gute Gründe, sich beispielsweise einer Zeitschrift wie der
'Weltbühne‘ zu erinnern, die mit einer minimalen Auflage eine Wirkung
erreichte, die sie heute noch zu einem Begriff für engagierten Journalismus
macht.
Für die taz ist der Umzug in die Kochstraße ein großer und bedeutender
Schritt, der für die praktische Arbeit viele Verbesserungen bringt.
Vielleicht bewirkt der neue Ort aber auch eine Erweiterung des Bewußtseins,
daß sich die taz nicht nur auf eine zehnjährige Tradition der Alternativ-
und zwanzigjährige Tradition der Studentenbewegung bezieht, sondern sich
vielleicht ein kleines Stück deutsche Zeitungsgeschichte aneignet. Auch
eine Form der Enteignung von Springer.
5 Nov 1988
## AUTOREN
karl-heinz ruch
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