| # taz.de -- ÜBERSTÜRME | |
| > ■ Filme von Boris Barnet im Arsenal | |
| Wogen, tosende, mit Gischt bis an den oberen Rand der Leinwand. Zwei | |
| Schiffbrüchige werden an den Strand einer kleinen Insel im Kaspischen Meer | |
| gespült. Ihre gestreiften Matrosenhemden trocknen auf der Haut, im warmen | |
| Wind eines Sommers im utopischen Sozialismus. | |
| Am blauen, blauen Meer von Boris Barnet ist heimlich eine | |
| Dreiecksgeschichte: Yousif und Aljoscha, der eine blond und sportlich, der | |
| andere adipös mit freundlichen Locken, verlieben sich gleich bei ihrer | |
| Ankunft am Strand in Machenka (Jelena A. Kouzmina), die Vorsitzende einer | |
| Fischereikolchose. Sie erwidert die zweifache Liebe auf den ersten Blick | |
| mit einer raffinierten Nahaufnahme: mit einem einladenden Blinzeln, das | |
| nach den Regeln der Montage nur einem gelten dürfte und dennoch beide | |
| meint. Mit dieser Szene verspricht der Film, die verzwickte Situation nicht | |
| orthodox-bürgerlich (also einsam oder tödlich) aufzulösen. Machenka | |
| geleitet die Männer zielsicher durch die Niederungen von Eifersucht und | |
| Gockelgehabe. Am Ende schafft sie es - wohl auch, weil sie eine Absolventin | |
| der Leningrader „Fabrik des exzentrischen Schauspielers“ ist -, daß aus | |
| zwei Freunden drei werden, von denen die eine heiraten wird. Ihr Erwählter | |
| ist ein Foto, ein Matrose in Uniform, und deswegen tut es gar nicht weh. | |
| Am blauen, blauen Meer, wiewohl ein Tonfilm von 1936, bekennt offen seine | |
| Sympathie für den Stummfilm. Stürme und Gewitter, jeweils dramaturgische | |
| Wendepunkte, werden von orchestraler Musik untermalt, die eher an | |
| Klavierbegleitung denn an „Atmo“ erinnert. Das Stummfilmerbe zeigt sich vor | |
| allem in einem unaufdringlichen Slapstick. Selbst beim Kasatschok beläßt es | |
| Barnet bei einer Andeutung. Nie würde er seinen Schauspielern die Torte in | |
| die Hand geben! | |
| Als Besonderheit des Films sei das nasse Kostüm als Bedeutungsträger | |
| hervorgehoben. Wieder und wieder gehen die Kolchosemitglieder an den Strand | |
| - sortieren Fische, halten die Boote instand oder denken nach. Meistens | |
| laufen sie dabei so weit ins Wasser, daß sich die Grenze zwischen dem Meer, | |
| der Natur also, und der Dorfgemeinschaft sehnsuchtsvoll in eine andere Zeit | |
| verschiebt. | |
| Boris Barnet, der in den zwanziger Jahren vom Boxer zunächst zum | |
| Schauspieler avancierte, bietet in seinen Spielfilmen das ganze Panorama | |
| der verschiedenen Stilepochen sowjetischer Revolutionskunst. Eine Auswahl | |
| ist derzeit im Arsenal zu sehen, unter anderem auch Der Poet aus dem Jahre | |
| 1957. | |
| Man könnte meinen, Barnet habe die Anregungen für diesen Film direkt vom | |
| damaligen Minister für Kultur, N.A. Michailow, bekommen. Nach Stalins Tod | |
| sprach dieser mit den Filmschaffenden der SU über neue Inhalte: „Wie sich | |
| die Psychologie eines Menschen erneuert, der in die Partei eintritt, wie | |
| sein Bewußtsein wächst, sein Verantwortungsgefühl für seine Arbeit vor dem | |
| ganzen Kollektiv, wie er Hindernisse und Widersprüche des Lebens | |
| überwindet, wie ihm mitunter der Kampf mit den Überbleibslen der | |
| Vergangenheit schwerfällt, alles das ist sehr reiches Material für einen | |
| Künstler.“ | |
| In Der Poet beschließt der junge Dichter Nikolas Tarassow gleich zu Beginn | |
| des Films, seine Kunst ganz in den Dienst der Revolution zu stellen. Es ist | |
| Bürgerkrieg, und die Bolschewiken bereiten sich auf einen blutigen 1.Mai | |
| vor. Olga und Nikolas sind gemeinsam für die Transparente, Gedichte und | |
| Parolen der Demonstration verantwortlich. In diesen harten, aufregenden | |
| Zeiten hat die bald aufkeimende Liebe der beiden gegen viele äußere Feinde | |
| zu kämpfen. Doch sie geht gestählt aus diesen Wirren hervor. Ebenso die | |
| politische Überzeugung des Dichters, für die er jederzeit das Leben zu | |
| opfern bereit ist. | |
| Parteiprogramm und Filminhalt passen in diesem Fall so gut zueinander, daß | |
| sich ein leiser Verdacht regt. Möglicherweise hatte Barnet 1957, als die | |
| sowjetische Filmproduktion in mehr als hundert historisch-revolutionären | |
| Filmen den 40. Jahrestag der Revolution feierte, mit Der Poet eine feine, | |
| kleine Satire im Sinn. Ein Konzept, so eng an die Richtlinien des | |
| Sozialistischen Realismus angeschmiegt, daß in den Feierlichkeiten die | |
| Karikatur ihrer selbst schlichtweg untergegangen ist. | |
| Nikolas, der Goldjunge, produziert mit seiner Olga, die als Revolutionärin | |
| gern einen schicken, engen Ledermantel trägt, eine fast angepunkt grelle | |
| Revolutionsfolklore. Dichte was Gepfeffertes, was Politisches! Und Nikolas | |
| reimt - aus dem Stegreif, herzhaft, häufig und mit Gefühl vorgetragen. Im | |
| Hintergrund erklingen dazu Kinderlieder über das nahe Ende des Bourgeois. | |
| Diese Begeisterung! Und wenn's hart auf hart geht - zum Beispiel am | |
| Kontrollpunkt der rotweintrinkenden Franzosen -, läßt Barnet das Herz von | |
| Nikolas‘ Feind durch ein morgendliches Vogelgezwitscher weich werden. | |
| Genosse Poet verzagt nicht eher, bis er mit Hurra-Schreien die neue Zeit | |
| begrüßen kann. Dabei enblößt er minutenlang seine Zähne, irritierend weiß | |
| vor einem optimistisch blauen Himmel. | |
| Eisenstein schrieb einmal, der Film sei das Lieblingskind der sowjetischen | |
| Kultur. Vielleicht spekulierte Barnet in Der Poet mit diesem Bonus. Denn | |
| das Lieblingskind tut so manches, was die anderen nicht dürfen. | |
| Dorothee Wenner | |
| Am blauen, blauen Meer (OmÜb), heute um 18 Uhr; | |
| Der Poet (DF), 16.3. um 18 Uhr | |
| 15 Mar 1990 | |
| ## AUTOREN | |
| dorothee wenner | |
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