# taz.de -- „Brasiliens Regierung ist für die Morde mitverantwortlich“ | |
> ■ Sklaverei und organisiertes Verbrechen terrorisieren die landlose | |
> Bevölkerung am Amazonas/ Interview mit dem Pfarrer Ricardo Rezende | |
> INTERVIEW | |
Rio de Janeiro (taz) — Vier Wochen nach der Ermordung des | |
Landgewerkschaftsführers Expedito Ribeiro de Souza in Rio Maria im | |
brasilianischen Bundesstaat Pará (taz berichtete) reißt die Gewalt in der | |
Amazonas-Provinz nicht ab. Expedito Ribeiros Nachfolger, der 30jährige | |
Carlos Cabral, überlebte Anfang dieser Woche selbst ein Attentat. Er wurde | |
vor dem Friedhof in Rio Maria von zwei Schüssen getroffen, als er zusammen | |
mit dem örtlichen KP- Chef Roberto Neto da Silva das Pfarrhaus der Stadt | |
verließ. Carlos Cabrals Schwiegervater Joao Canuto, erster | |
Gewerkschaftsvorsitzender in Rio Maria, war im Dezember 1986 am selben Ort | |
umgebracht worden. | |
Der Ortspfarrer von Rio Maria, Ricardo Rezende, trat vergangene Woche | |
erstmals an die brasilianische Öffentlichkeit, um die Verhältnisse in | |
seiner Heimat bekanntzumachen. Rezende, der bereits zahlreiche | |
Morddrohungen bekommen hat, arbeitet zugleich für das der katholischen | |
Kirche nahestehende Organ 'Commissao Pastoral da Terra‘ (CPT), welches die | |
Landlosenbewegung organisiert und auf eine Agrarreform in Brasilien dringt. | |
taz: Hat sich die Gewalt auf dem Land in der letzten Zeit verschärft? | |
Ricardo Rezende: Ja. Die Ermordung von Landarbeitern, die in der | |
Gewerkschaft organisiert sind, hat sich mit dem zunehmenden Einfluß der UDR | |
(„Uniao Democrática Rural“ — eine Vereinigung brasilianischer | |
Großgrundbesitzer) gehäuft, die sich seit 1985 in der Region aufhält. Die | |
Killer wurden nicht mehr einzeln, sondern von einer Gruppe von | |
Großgrundbesitzern mit der Beseitigung unliebsamer Personen beauftragt. Um | |
die Bevölkerung einzuschüchtern, wurden die Leichen verstümmelt und sogar | |
Kinder ermordet. | |
Wie viele Tote gab es in den vergangenen zehn Jahren? | |
Seit der Ermordung des ehemaligen Gewerkschaftsvorsitzenden von Rio Maria, | |
Raimundo Ferreira Lima, am 10. Mai 1980, sind im Süden des Bundesstaates | |
Pará 183 Menschen ermordet wurden. Der letzte war Expedito Ribeiro am 2. | |
Februar dieses Jahres. Es handelt sich hierbei ausdrücklich um politische | |
Morde. | |
## „Polizisten arbeiten lieber für die Großgrundbesitzer“ | |
Was tut die Polizei dagegen? | |
Gar nichts. Viele Polizisten arbeiten für die private Miliz der | |
Großgrundbesitzer, weil sie dort besser verdienen. Bis jetzt ist erst einer | |
der stadtbekannten Pistoleiros, José Serafim Sales, der Mörder von | |
Expedito, festgenommen worden. Auf der Beerdigung des Gewerkschaftlers am | |
4. Februar lief er noch frei herum. Er fühlte sich so sicher, daß er sogar | |
dieselbe Hose und dasselbe Hemd wie zur Tatzeit anhatte! | |
Gibt es in Pará wirklich noch Sklavenarbeit? | |
Ja. Besonders spektakulär war der Fall von einem 16jährigen Jungen aus Rio | |
Maria. Er nahm vor zwei Jahren eine Arbeit auf der Fazenda „Espírito Santo“ | |
im Nachbarort Xinguara an, die der einflußreichen Familie Mutran gehört. | |
Nach ein paar Tagen bemerkte er, daß er gefangengehalten wurde. Man sagte | |
ihm, daß er die Fazenda nur verlassen könne, nachdem er seine Schulden | |
beglichen hätte. Da es für ihn mit seinem spärlichen Lohn unmöglich war, | |
die überteuerten Lebensmittel im Laden des Großgrundbesitzers zu kaufen, | |
wuchsen seine Schulden täglich. Als er zusammen mit einem Kollegen fliehen | |
wollte, wurde er von den Wächtern angeschossen. Der Kollege war sofort tot. | |
Der Junge überlebte, stellte sich jedoch ebenfalls tot, um auf diese Weise | |
die Unterhaltung der Wächter mitzubekommen. Sie einigten sich darauf, die | |
Leichen nicht in den Fluß, sondern vor das Tor der benachbarten, aber | |
verfeindeten Fazenda „Brasil Verde“ zu schmeißen. Die Angestellten des | |
Guts, das dem Schwager der schwedischen Königin Silvia, Roque Quagliato, | |
gehört, kamen dem Jungen in letzter Minute zu Hilfe. | |
Existiert die Sklaverei auf der Fazenda „Espírito Santo“ noch immer? | |
Nicht mehr in „Espírito Santo“, dafür aber auf vielen anderen Fazendas. | |
Nach der geglückten Flucht denunzierte der Junge auf meinen Druck hin das | |
Verbrechen. Die Polizei stürmte die Fazenda und befreite die restlichen 70 | |
Landarbeiter. Der Besitzer wurde allerdings nicht festgenommen. | |
## „Collor hat keinen einzigen Quadratmeter enteignet“ | |
Was sind die Ursachen für diese unmenschlichen Verhältnisse? | |
Das größte Problem ist die Konzentration von Großgrundbesitz. Die | |
Straflosigkeit rangiert an zweiter Stelle. Die Regierung ist für die Morde | |
mitverantwortlich, weil sie stets die großen Agrarfabriken, nicht jedoch | |
die landsuchenden Bauern unterstützt hat. Unter der Regierung Collor ist | |
bis jetzt nicht ein einziger Quadratmeter Land enteignet worden. | |
Was plant die Gewerkschaft von Rio Maria, um in Zukunft Morde an ihren | |
Mitgliedern zu verhindern? | |
Wir haben einen Brief mit über 200 Unterschriften von Politikern, Künstlern | |
und Pfarrern an die brasilianische Regierung geschickt, in dem wir rigorose | |
Aufklärung der Verbrechen sowie Polizeischutz für die zukünftigen Opfer | |
fordern. Außerdem sind wir dabei, ein Komitee zu gründen, wo alle | |
Informationen zusammenlaufen sollen. Wichtig ist jedoch vor allem | |
internationale Unterstützung. Ohne sie können wir nicht überleben. | |
Interview: Astrid Prange | |
7 Mar 1991 | |
## AUTOREN | |
astrid prange | |
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