# taz.de -- DOKUMENTATION: Die historische Chance nutzen | |
> ■ Richard von Weizsäcker zum revolutionären Wandel des alten Europa | |
Ich heiße den Rat der Außenminister der KSZE in Berlin herzlich willkommen. | |
Mein besonderer Gruß gilt dem Vertreter des neuerlich teilnehmenden | |
Albanien. Die Schlußakte von Helsinki soll nach ihrem Wortlaut „in ganz | |
Europa“ gelten. Zum ersten Mal ist nun heute und hier im Rat der | |
Außenminister Europa in seiner derzeitigen staatlichen Form vollständig | |
versammelt. Wir haben also, was den Geltungsbereich anbetrifft, einen | |
wichtigen Erfolg erzielt. | |
An historischen Maßstäben gemessen ist die KSZE noch sehr jung. Doch ist | |
ihre bisherige Leistung schon erstaunlich genug. Sie hat Europa grundlegend | |
beeinflußt und auf einen neuen und guten Weg in seiner Geschichte gebracht. | |
Dennoch bleibt der Löwenanteil der Aufgabe noch zu lösen. Gerade jetzt | |
leben wir in einer der seltenen Phasen der Geschichte, in der durch | |
kraftvolle Konzeption und Führung die Weichen zu langfristigen und | |
segensreichen Entwicklungen gestellt werden können. Dies ist keine Zeit, um | |
einen festgefahrenen Zustand zu verwalten. Vielmehr haben wir erstmals in | |
der europäischen Geschichte die Chance, ohne Krieg, ohne Sieger und | |
Besiegte und ohne Zwang von der Außenwelt durch freie Vereinbarung der | |
Völker zu einer europäischen Friedensordnung vorzudringen. | |
Es geht um mehr als die traditionelle Balance of Power, um mehr als | |
auswechselbare Allianzen und kündbare Verträge unter Nationen. Unser Ziel | |
ist ein durch allgemeine Rechtsregeln beschirmtes und durch gemeinsame | |
Institutionen gesichertes Europa. Seine Friedensordnung wird ihre Wirkung | |
tun, wenn sie auf einer gemeinsamen als sozial gerecht empfundenen | |
Lebensordnung beruht. Dies ist die uns heute gegebene Chance. Wir können | |
sie nutzen oder verfehlen. Um so größer ist unsere Verantwortung. | |
Einen Blick auf die bisherige Geschichte der KSZE empfinde ich als große | |
Ermutigung. Am Anfang der Nachkriegszeit stand der bestimmende Einfluß auf | |
Europa durch die beiden bündnisführenden Großmächte, die Vereinigten | |
Staaten von Amerika und die Sowjetunion. Ohne großen Einfluß der Europäer | |
entstanden aus Jalta Teilung, Konfrontation und kalter Krieg. Wer auf | |
diesem Weg in der Hoffnung auf eine dauerhafte europäische Ordnung lebte, | |
sah sich betrogen. | |
## Ende des Monopols der Nationalstaaten | |
Zwanzig Jahre später brach sich der Wille zur Entspannung Bahn. In | |
Erkenntnis seiner Verantwortung für Kriegsleiden und Kriegsfolgen spielte | |
mein eigenes Land dabei eine wichtige Rolle. Berlin-Abkommen, Moskauer und | |
Warschauer Vertrag ebneten den Weg zur Geburt der KSZE. Zwar war die | |
Begeisterung für sie anfänglich in Moskau und Washington ganz | |
unterschiedlich, und auch die Ziele stimmten zunächst durchaus nicht | |
überein. Als man begann, hieß das Unternehmen noch KSE, also Konferenz über | |
Sicherheit, ohne das Z, die Zusammenarbeit. Dann entwickelte sich aber eine | |
ganz neue europäische Dynamik. Alle Mitgliedstaaten, die europäischen | |
gemeinsam mit den USA, Kanada und der Sowjetunion in ihrer Gesamtheit, | |
haben ihren Beitrag dazu geleistet, um die (...) Interessenpolitik der | |
Nationalstaaten und ihrer Regierenden schrittweise zu ersetzen durch eine | |
europäische Innenpolitik der Völker und Bürger. | |
Wir stehen damit nicht am Ende von Nationalstaaten. Aber es ist das Ende | |
ihres 200jährigen Monopols über Wohl und Wehe Europas. (...) Die Schlußakte | |
von Helsinki ist ein Dokument von fundamentaler historischer Bedeutung für | |
unseren Kontinent geworden. Die Folgen für die Entwicklung in Europa | |
während der letzten 15 Jahre sind, wie wir alle wissen, revolutionär und | |
friedlich zugleich. Seit sieben Monaten haben wir die Charta von Paris als | |
Rahmenverfassung für das Zusammenleben in Europa. Nun müssen wir diese | |
Leitidee mit Leben erfüllen, aber auch ihre institutionelle Infrastruktur | |
stärken. Dazu bedarf es einer Erweiterung und Vertiefung der vier Begriffe, | |
die der Name KSZE umfaßt: Europa, Zusammenarbeit, Sicherheit, Konferenz. | |
Zunächst zum Begriff Europa. Er beschränkt sich nicht auf die Europäischen | |
Gemeinschaften, die Freihandelszone EFTA, den Europarat oder die | |
europäische Konföderation. (...) Auch wissen wir, was wir für den Frieden, | |
die Demokratie und die anziehungskräftige Leistung in Europa der | |
atlantischen Partnerschaft und der Zusammenarbeit der europäischen | |
Institutionen verdanken. Für die Zukunft gilt: Europa ist keine Festung, | |
sondern ein dynamischer Prozeß. (...) | |
Die Zusammenarbeit sollte sich in ähnlichem Tempo auf weitere Bereiche | |
ausdehnen, so wie der wirtschaftliche und soziale Wandel ganz Europa | |
ergreift. Wir arbeiten doch schon konstruktiv am Interessenausgleich im | |
Bereich der Sicherheit. Warum sollten wir außerstande sein, eine gemeinsame | |
europäische Energiewirtschaft, einen europäischen Kommunikationsverbund, | |
einen Verkehrsplan und eine umfassende Ökologiepolitik zu schaffen? | |
## Neue Spannungen zwischen Ost und West | |
Der Begriff der Sicherheit darf nicht durch militärische Vorstellungen | |
monopolisiert bleiben. Zwar wird kein Staat und keine Allianz auf die | |
Fähigkeit verzichten, die eigene Sicherheit zu schützen. Das ist legitim. | |
Aber die wahren Gefahren der Zukunft liegen nicht in militärischer Macht | |
oder Pression der Regierenden, sondern in der Enttäuschung von Bürgern und | |
Gesellschaften über vorenthaltene Grundrechte, wirtschaftliche | |
Ungerechtigkeit und soziale Unsicherheit. (...) Nicht die militärische, | |
sondern die wirtschaftliche und sozialkulturelle Ebene ist das Feld der | |
Begegnungen und Gegensätze nach der Öffnung. Nun darf sich das | |
Ost-West-Verhältnis nicht in eine neue Spannung zwischen Zivilisationen und | |
wirtschaftlichen Ungleichgewichten verwandeln. Das ist eine schwierige | |
Aufgabe. | |
Da und dort werden billige Auswege angeboten. Die einen sagen, die | |
Geschichte sei zu Ende, nachdem uns die Systemgegensätze nicht mehr | |
beherrschten. Dahinter verbirgt sich aber eine fatale Selbstgerechtigkeit. | |
Kein System hat bisher das globale Nord-Süd-Problem zu lösen vermocht. Auch | |
innerhalb des Westens, ja innerhalb einzelner westlicher Staaten gibt es | |
ungelöste Ungleichgewichte in der Entwicklung. Im europäischen | |
Ost-West-Verhältnis werden sie unsere ganze gemeinsame Anstrengung | |
erfordern. Der andere Ausweg lautet, die Geschichte wiederhole sich. Aber | |
es wäre fatalistisch und verantwortungslos, dem zu folgen. (...) Wir haben | |
große Fortschritte erzielt. Es gibt heute in Europa eine Mehrzahl | |
nationaler Grenzen zwischen Staaten, die sich nicht immer in ihren | |
Interessen decken und die doch ihre Grenzen nicht mehr militärisch | |
bewachen. Das ist eine Entwicklung, die es nie zuvor auf unserem Kontinent | |
gegeben hat. (...) Je besser die Zusammenarbeit desto größer die | |
Sicherheit. | |
Und zum letzten Begriff: Konferenz. Wir haben das Sekretariat in Prag, das | |
Konfliktverhütungszentrum in Wien und das Büro für freie Wahlen in | |
Warschau. Es ist von großer Bedeutung, diese Institutionen mit mehr | |
Kompetenzen zu versehen. Effektive Instrumente zur Streitschlichtung und | |
Krisenbewältigung sind für unsere unteilbare Sicherheit in Europa | |
unerläßlich. | |
Heute wird die KSZE um eine wichtige Institution erweitert: den Rat der | |
Außenminister. Sie befassen sich während Ihrer Berliner Tagung mit der | |
Rolle der KSZE in der künftigen europäischen Architektur. Berlin, eine | |
Stadt, die selbst Schauplatz von Irrungen des europäischen Nationalismus, | |
aber vor allem auch vom Willen der Menschen zu Frieden und Freiheit ist, | |
Berlin steht Ihnen heute und in der Zukunft zur Verfügung, wenn Sie es | |
brauchen. Der KSZE und ihren Institutionen kommt die maßgebende Rolle bei | |
der Schaffung eines geeinten Europa zu. Die Außenminister stehen an der | |
vordersten Front dieses positiven Prozesses. (...) Ich wünsche jedem von | |
Ihnen größten Erfolg bei Ihrer Aufgabe, zu Hause für das Ziel des | |
zusammenwachsenden Europas zu werben. Es wird dem Frieden unseres | |
Kontinents und dem Leben seiner Bürger zugute kommen. | |
21 Jun 1991 | |
## AUTOREN | |
richard von weizsäcker | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |