# taz.de -- INTERVIEW: „Wir alle, Ostdeutsche wie Westdeutsche, sind von Iden… | |
> ■ Drei (West-)Berliner PsychotherapeutInnen, Angelika Faas, Eva Jaeggi | |
> und Thomas Krauß, erforschten die Vorurteile zwischen Deutschen (Ost) und | |
> Deutschen (West) | |
taz: Vor rund einem Jahr haben wir ein taz-Gespräch zu den Ergebnissen | |
Ihrer Pilotstudie über deutsch- deutsche Familien geführt. Die Westler, so | |
berichteten Sie damals, hätten sich lange Zeit mit ihren Kaffeepaketen die | |
soziale Kontrolle über die „arme Verwandtschaft“ im Osten gesichert, doch | |
diese Rollen seien mit dem Fall der Mauer völlig durcheinander geraten. | |
Inzwischen haben Sie Ihr Forschungsprojekt zum Thema Psychologie der | |
Wiedervereinigung erweitert und rund hundert Einzelpersonen aus Ost und | |
West, darunter nicht wenige Psychologen, interviewt. Wie lauten denn | |
diesmal die Ergebnisse? | |
Thomas Krauß: Bei einer Tagung von westdeutschen Familientherapeuten Anfang | |
des Jahres in Heidelberg haben wir unsere Kollegen gebeten, aufzuschreiben, | |
was sie gegenüber den Ostlern empfinden. | |
Angelika Faas: Und dabei kam eine geballte Ladung Gemeinheiten heraus: die | |
Ostler seien Spießer, Kleinbürger, faul, angepaßt, autoritätsgläubig, | |
empfänden keine Leidenschaft, könnten keine Kinder erziehen. Als sie diese | |
Vorurteilssammlung auf der Tafel lasen, waren die Leute total entsetzt und | |
erschrocken über sich selbst. | |
Eva Jaeggi: Die Westpsychologen formulierten über die Ostpsychologen, diese | |
würden die Patienten trimmen, ans System anpassen, sie seien womöglich | |
Stasi-Agenten gewesen. Andersherum glauben die Ostpsychologen über uns, daß | |
wir kalt sind, heuchlerisch, nur vom Geld und von der Konkurrenz her | |
bestimmt, und uns an die Bürokratie angepaßt haben. Die eine Gruppe wirft | |
der anderen also vor, daß sie bei den grundlegenden menschlichen | |
Beziehungen versagen, während sie sich selbst Positives zuschreibt: Die | |
Ossis erzählen von sich, wie warm und herzlich es in ihrer | |
Solidargemeinschaft und in ihrer Nachbarschaft zuging, die bloß jetzt von | |
den Wessis kaputtgemacht wird. Und die Wessis sagen von sich: Wir sind | |
spontan, kreativ, authentisch. Das ist so klischiert, daß schon von weitem | |
sichtbar ist, daß es sich um Projektionen handelt. Nach unserer Deutung | |
projizieren die Wessis ihre eigenen 50er Jahre, ihre Spießigkeit, | |
Anpassungsbereitschaft und Autoritätsgläubigkeit in die anderen hinein, | |
während die in uns ihre eigene Kälte projizieren. | |
Thomas Krauß: Das hat unsere alte These bestätigt, daß durch den Fall der | |
Mauer beide Seiten zutiefst verunsichert wurden. Die Leute klammern sich an | |
Klischees wie an Strohhalme, um sich irgendeine Identität zu ermöglichen. | |
Und eine sehr simple, krude, einfache Variante von Identität erhält man, | |
wenn man sich gegen irgendeinen Außenfeind abschottet. Das ist auch das | |
Hoyerswerda-Syndrom: Wir sind die Guten, die Fremden sind die Schlechten. | |
Daß Psychologen unter ihrer Professionalität ihre eigene neurotische | |
Kleinbürgerlichkeit entdecken, ist ja nicht schlecht. Ihr Erschrecken über | |
die eigenen Vorurteile war genauso ehrlich wie die Klischees, die sie | |
formulierten. | |
Eva Jaeggi: Diese ganzen Ergebnisse haben wir dann Anfang Oktober in Berlin | |
bei einem Kongreß von mehreren hundert Familientherapeuten aus Ost und West | |
vorgestellt. Wir haben gesagt: beide Seiten projizieren. Doch viele Ossis | |
haben diese Aussagen als Angriff gegen sie verstanden. Eine Ost-Psychologin | |
sagte uns: „Als ich diesen Vortrag gehört habe, wollte ich gleich auf dem | |
Absatz kehrtmachen und mit diesen Leuten nichts mehr zu tun haben.“ Das ist | |
ein Stil, der unter Wissenschaftlern nicht üblich ist. Eine Psychologin von | |
der Charité hat auf dem Podium fast geweint: „Man will uns an den Kragen, | |
da interessiert mich so ein Psychokram nicht. Unsere Probleme sind ganz | |
real und nicht psychisch.“ Dieses Beharren, „schaut lieber, was real ist“ | |
heißt aber auch, „guckt uns nicht in die Seele hinein“. Man könnte dort z… | |
Beispiel entdecken, daß es mit der jetzt von allen geforderten | |
Eigeninitiative, zum Beispiel eine Praxiseröffnung oder anderes, nicht so | |
weit her ist. | |
taz: War das der Grund, warum manche Ostler so aggressiv reagierten? | |
Thomas Krauß: Ich denke schon. Objektive Probleme wie die Arbeitslosigkeit | |
dienen auch in anderen Debatten dazu, unangenehme psychologische Aspekte | |
beiseite zu schieben. Psychoanalyse heißt ja auch immer Ideologiekritik. | |
Sie löst die Ideologien der Individuen auf bis zu dem Punkt, wo manchmal | |
kein Halt mehr da ist. Bei ihrem Eröffnungsvortrag hat Eva Jaeggi das unter | |
anderem an dem Beispiel der „Authentizität“ deutlich gemacht: Von uns | |
Westlern wird andauernd gefordert, „authentisch“ zu sein. Auf Befehl | |
spontan zu sein. Diese Norm Authentizität wird dadurch schnell selbst zur | |
Fassade. Das ist also nicht die letzte Wahrheit von uns. | |
Angelika Faas: Auf sich selbst zurückverwiesen zu werden, bedroht Ossis und | |
Wessis. | |
Eva Jaeggi: Deutlich wurde auch die Heuchelei der Westler. In | |
Pausengesprächen hörten wir immer wieder von Kollegen: Die Ossis haben | |
keine Ahnung, therapieren können sie nicht, theoretisch wissen sie nichts, | |
mit denen den Kongreß zu organisieren, war eine Strafe. Offiziell aber | |
heißt es dann immer wieder sehr pastoral: Wir können beide voneinander | |
lernen. Uns hat bei unserer Forschung hingegen gar nicht interessiert, ob | |
wir etwas voneinander lernen können. Wenn zwei ideologische Systeme mit | |
verschiedenen Selbst- und Weltdeutungen aufeinanderprallen, können wir aber | |
auf eine Meta- Ebene schauen: Was bewirken diese Deutungen, zum Beispiel | |
die angebliche Authentizität der Westler, in unserer Interaktion? Und wie | |
können wir sie auf beiden Seiten unterwandern und als Ideologie entlarven? | |
Das hat Ängste bei Ostlern und Westlern ausgelöst und bei | |
autoritätsgläubigen Ostlern Hoffnungen auf eine schnelle Übernahme dieser | |
„Authentizität“ zerstört. Ostler warfen uns immer wieder vor, wir wollten | |
ihnen alles nehmen und sie beleidigen. | |
Bei den Projektionen zwischen Wessis und Ossis handelt es sich um | |
ungeliebte Eigenschaften, die letztlich oft auch faschistoid sind oder dem | |
Faschismus den Weg bereitet haben. Aber der Westen hat diese Vergangenheit | |
gar ungenügend aufgearbeitet und der Osten noch weniger. Und jetzt drücken | |
wir uns gemeinsam vor ihrer Bearbeitung. | |
Thomas Krauß: Man kann sogar sagen, daß die Existenz der beiden deutschen | |
Systeme mit den einander ausschließenden Ideologien die Aufarbeitung des | |
Faschismus verhindert hat. Solange BRD und DDR existierten, war auch die | |
Spaltung in „gut“ und „böse“ möglich. Jetzt erst haben wir diese Chan… | |
Wenn ich aber den Ossi nur als faul und autoritär und spießig ansehe, sehe | |
ich nicht die Wirklichkeit, sondern meine Phantasien. Also muß ich bei mir | |
beginnen, zu reflektieren: Warum habe ich es nötig, dort was abzuladen? | |
Keiner von uns hat mehr diese sichere BRD- und DDR-Identität, die wir mal | |
hatten. Wir alle sind von Identitätsauflösung bedroht. | |
Eva Jaeggi: Dieser erneute Fremdenhaß ist auch ein Zeichen der | |
Identitätsauflösung. | |
taz: Was ist denn Identität überhaupt? Wenn die Menschen eine so sichere | |
Ost- oder West-Identität hatten, ist doch unerklärlich, warum sie sich | |
heute so hassen. | |
Thomas Krauß: Es gibt verschiedene Reifungsstufen von Identität. Angefangen | |
von einer ganz einfachen Identität, die sich an gut und böse, schwarz und | |
weiß, oben und unten orientiert, die das Fremde als Böses abspaltet. Das | |
wäre eine faschistoide Identität. Die nächste Stufe wäre die | |
Rollenidentität — man kann verschiedene Rollen in verschiedenen Situationen | |
spielen, ohne auseinanderzufallen. | |
Eva Jaeggi: Das scheint aber eine sehr schwierige Aufgabe zu sein. Moderne | |
Menschen leiden ja ununterbrochen an ihren Identitätskrisen, die es früher | |
so nicht gegeben hat. Diese Art von moderner Identität ist schwer zu | |
ertragen, weil sie immerfort von Brüchen und Facettenwechsel gekennzeichnet | |
ist. Heute gehen Leute zum Therapeuten und sagen, sie seien mit sich nicht | |
identisch, sie könnten sich nicht abgrenzen. Zu Freuds Zeiten wäre das | |
undenkbar gewesen. Und natürlich sind auch die Krankenkassen nicht allzu | |
bereit, das zu finanzieren. | |
Thomas Krauß: Diese Form flexibler Rollenidentität ist aber immer noch | |
nicht die Endstufe. Dialektisch gesehen ist die höchste Stufe der Identität | |
vielleicht der Verzicht auf Identität. Jürgen Habermas beispielsweise sagt: | |
Eine hohe Stufe von Identität ist, wenn ich durchschaue, wie meine | |
Identität entstanden ist und sich immer wieder konstituiert, ohne daß mich | |
das verrückt macht. | |
Eva Jaeggi: Die Heucheleien der Ostler gegenüber ihrem Staat, ihre | |
Schwejkiaden — all das war eine einfachere Form der Identität. Sie wußten, | |
gegenüber wem sie sich abgrenzten, der Feind war klar. Die westliche | |
postmoderne Identität aber ist viel schwieriger zu erreichen, weil man | |
andauernd aufgerufen ist, sich selbst zu durchschauen ohne irgendeine | |
sichere Tradition im Rücken. | |
taz: Manchmal habe ich das Gefühl, daß wir in Zeitschleifen leben. Daß die | |
90er Jahre aus den 70er, den 50er und den 40er Jahren bestehen und | |
dementsprechend auch die Identität der Menschen... | |
Angelika Faas: Wenn so eine Identitätsverunsicherung da ist wie im Moment, | |
dann folgt immer der Rückgriff auf Altes und Vertrautes. | |
Thomas Krauß: Zumindest, postmodern diskutiert, in Form von Zitaten. Das | |
Alte wird nicht wiederholt, es wird heraufbeschworen, zitiert und imitiert. | |
Die Skinheads repräsentieren ja nicht den Faschismus von 1933. Das sind | |
emotional verwahrloste Jugendliche, keine analen zwanghaften Charaktere wie | |
in den 30er Jahren. Im Gegenteil: Sie sind unterhalb jeglicher psychischer | |
Struktur. Das Gefährliche sind auch nicht die Skins als solche, sondern die | |
Politisierung psychischer Tatbestände wie Identitätszerfall durch gewiefte | |
organisierte Rechtsradikale. | |
28 Oct 1991 | |
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