# taz.de -- Leonard Peltier, „Mr.X“ und ein Justizskandal made in USA | |
> Anwälte und Unterstützer des wohl bekanntesten politischen Gefangenen der | |
> Vereinigten Staaten hoffen, daß der Gründer des „American Indian | |
> Movement“ aus dem Gefängnis kommt ■ Von Stefan Schaaf | |
Ungewöhnliches spielt sich an diesem spätsommerlich warmen Tag Anfang | |
Oktober in Bismarck, der Hauptstadt des US-Bundesstaates North Dakota, ab. | |
Auch Geringeres als ein gelbgewandeter buddhistischer Mönch vor dem Federal | |
Courthouse hätte wahrscheinlich Schlagzeilen in der Lokalzeitung, der | |
'Bismarck Tribune', provoziert. Die 50.000 Bewohner der Stadt sind, wenn es | |
nach ihnen geht, werktags mit den Weizenfeldern und Rinderherden und am | |
Wochenende mit Jagen oder Fischen vollauf beschäftigt. | |
Doch am Morgen tauchte der Mönch auf. Seitdem saß er vor dem | |
Gerichtsgebäude und schlug seine Trommel. Gegen acht Uhr begann sich eine | |
kleine Traube vor dem Courthouse zu bilden; die Kunden des „Seven-Eleven“ | |
auf der anderen Straßenseite verdrehten die Köpfe, als sie ihre Doughnuts | |
und ihren Kaffee auf dem Weg zur Arbeit holten. Erst als einer der | |
Wartenden ein großes dunkelrotes Tuch entfaltete, wurde der Grund für das | |
seltsame Treiben deutlich: „Free Leonard Peltier!“ ist darauf geschrieben. | |
Leonard Peltier war einer der Anführer des Ende der sechziger Jahre | |
gegründeten „American Indian Movement“ (AIM) und 1973 an vorderster Front | |
bei der 71tägigen Besetzung des Dorfes Wounded Knee auf der | |
Pine-Ridge-Indianerreservation dabei. Diese Aktion, 83 Jahre nach dem | |
legendären Massaker an 300 indianischen Männern, Frauen und Kindern, | |
markierte die Wiedergeburt einer kämpferischen Bewegung der amerikanischen | |
Ureinwohner. Peltier wurde im November 1975 des Mordes an zwei FBI-Beamten | |
angeklagt und 1977 zu zweimal lebenslänglicher Haft verurteilt. Der | |
47jährige Peltier sitzt seitdem im Bundesgefängnis von Fort Leavenworth, | |
Kansas — zu Unrecht, sagen seine Anwälte, sagt amnesty international und | |
sagt nun auch ein mysteriöser „Mister X“, der vor einigen Wochen gegenüber | |
einem Journalisten zugegeben hat, daß nicht Peltier, sondern er die beiden | |
FBI-Leute erschossen habe. | |
## Schwache Beweise | |
Der fragwürdige Prozeß, den man Peltier 1977 machte, ist Thema des Hearings | |
im Gerichtsgebäude von Bismarck. Die fünf Sitzreihen des Zuschauerraums | |
sind mit Peltiers Freunden, Verwandten und UnterstützerInnen vollgepackt. | |
Peltiers Anwälte haben kaum etwas unversucht gelassen, doch bisher waren | |
alle Versuche erfolglos, das Verfahren neu aufzurollen. Selbst ihre | |
Forderung, den Angeklagten zu dieser Anhörung aus Fort Leavenworth | |
herbeizuholen, wurde von der Richterin abgelehnt. Peltiers Anwalt, der aus | |
vielen politischen Strafsachen bekannte New Yorker Jurist William Kunstler, | |
weist zu Beginn des Hearings auf den Sessel neben ihm, auf den er eine | |
Feder und einen Stein gelegt hat: „Dieser leere Stuhl ist für Leonard | |
Peltier, den sie nicht hier sein ließen. Wir zeigen dies durch eine heilige | |
Feder und einen heiligen Stein vom Lake Superior.“ | |
Indianische Spiritualität hat ansonsten keinen Platz in der Verhandlung. | |
Sie ist nur eine weitere Runde im juristischen Tauziehen um eine | |
Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Peltier, nachdem in den letzten Jahren | |
immer neue Belege für die Fadenscheinigkeit der damaligen Beweisführung ans | |
Tageslicht gekommen waren. Aus der angeblichen Tatwaffe, so fand man anhand | |
der Patronenhülsen heraus, konnten die tödlichen Schüsse gar nicht | |
abgefeuert worden sein. Eine wichtige Zeugin der Anklage namens Myrtle Poor | |
Bear sagte inzwischen, sie habe unter Druck der Behörden falsche Aussagen | |
gemacht. Und immer noch werden neue Beweise über die fragwürdigen Praktiken | |
des FBI im Fall Peltier bekannt, nicht zuletzt durch interne Dokumente der | |
Bundespolizei, die nach langem Kampf der Verteidiger nach und nach | |
freigegeben wurden. | |
## Kampagne des FBI | |
Die Mordtat, die Peltier vorgeworfen wurde, geschah vor dem Hintergrund der | |
Besetzung von Wounded Knee und der Kampagne des FBI gegen das American | |
Indian Movement, das von der Bundespolizei 1976 als „eine der 15 | |
gefährlichsten Terrororganisationen der Vereinigten Staaten“ gebrandmarkt | |
worden war. Eine Untersuchungskommission, die „Minnesota Citizens Review | |
Commission on the FBI“ schrieb 1977, das FBI habe seit Wounded Knee „in | |
systematischen Bemühungen den Versuch unternommen, AIM und seine Führer und | |
Anhänger aufzureiben, einzuschüchtern und auf andere Weise zu | |
,neutralisieren‘“. | |
Zu den FBI-Taktiken gehörten unter anderem „Verhaftungen ohne Begründung, | |
auch von Frauen und Kindern, der Gebrauch von bezahlten Informanten, | |
offener Meineid und Mißachtung von Gerichtsbeschlüssen, Einsatz von | |
militärischen Waffen und Personal“. Zwischen 1973 und 1976 wurden auf der | |
Pine Ridge-Reservation bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den | |
Schutzeinheiten der Reservatsverwaltung und den Indianern 342 Ureinwohner | |
getötet. | |
Im Juni 1975 kamen zwei FBI- Agenten auf die Reservation, angeblich weil | |
sie nach einem Mann suchten, der ein Paar Stiefel gestohlen hatte — eine | |
Straftat, die normalerweise dem FBI nicht einmal ein Schulterzucken | |
abnötigen würde. Sie feuerten dabei Schüsse auf einige von Indianern | |
bewohnte Häuser ab und provozierten so die bewaffnete Gegenwehr der | |
Reservatsbewohner. Die FBI-Beamten wurden durch Schüsse verletzt; ein Mann | |
habe die wehrlosen Polizisten darauf aus nächster Nähe exekutiert, so die | |
Staatsanwaltschaft, dieser Mann sei Leonard Peltier gewesen. | |
Peltiers Ankläger setzten mit gefälschtem Beweismaterial durch, daß der | |
außer Landes geflohene AIM-Aktivist einige Monate später von Kanada an die | |
USA ausgeliefert wurde. Vier Indianer wurden angeklagt, gegen einen wurde | |
die Anklage rasch fallengelassen. Zwei Mitangeklagte wurden freigesprochen, | |
Peltier wurde verurteilt. Ein Jahr später wurde eine Revision abgelehnt, | |
der Einspruch dagegen scheiterte 1979 am Supreme Court der USA. 1982 | |
versuchten Peltiers Anwälte zum erstenmal, einen neuen Prozeß zu erreichen, | |
da die Staatsanwaltschaft wichtige entlastende Beweisstücke unterdrückt | |
habe. Auch dieses Unterfangen endete 1987 vor dem Supreme Court ohne | |
Erfolg. | |
## Öffentlicher Druck | |
Peltiers Fall hat im Ausland Aufsehen erregt, amnesty international setzte | |
sich für ihn ein, die spanische Regierung verlieh ihm den „Internationalen | |
Menschenrechtspreis“ für die Verteidigung der historischen Rechte seines | |
Volkes, in der Sowjetunion wurden zwölf Millionen Unterschriften gesammelt. | |
„Leonard ist leider im Ausland viel bekannter als in den USA“, klagt dessen | |
Anwalt Eric Seitz. Aber dies hat sich in den letzten Monaten zu ändern | |
begonnen. Zuerst erklärte einer der Richter, die ursprünglich die Revision | |
des Urteils abgelehnt hatten, Peltier solle im Lichte der neuen Beweislage | |
begnadigt werden. Auch der Vorsitzende des Senatsausschusses für | |
Indianerfragen, Senator Daniel Inouye, hat sich gegenüber Präsident Bush | |
für eine Begnadigung ausgesprochen. | |
Sodann konnte vor einigen Wochen endlich ein Buch ausgeliefert werden, das | |
die bisher akribischste Recherche über den Fall enthält, und dessen | |
Erscheinen acht Jahre lang vom FBI durch Verleumdungsklagen verhindert | |
worden war. Ausnahmsweise zog das FBI diesmal den kürzeren. Peter | |
Matthiessen, der Autor des bisher nur auf Englisch erhältlichen Buchs In | |
the Spirit of Crazy Horse, glaubt, daß die öffentliche Aufmerksamkeit den | |
Staat zwingen kann, sich erneut mit dem Fall Peltier auseinanderzusetzen. | |
„Die Regierung will jedes Aufsehen vermeiden. Das FBI sieht ganz schlecht | |
aus mit seinen gefälschten Beweisen, den manipulierten und unter Druck | |
gesetzten Zeugen, Meineiden — es ist schuldig in allen Punkten“, sagt | |
Matthiessen. | |
Der Staatsanwalt, der heute selbst nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, | |
daß Peltier der Schütze war, sehe nicht viel besser aus, und Richter | |
Benson, dem bereits vor Peltiers Prozeß der Ruf des Indianerhassers | |
vorauseilte, habe dem Ansehen der Justiz auch nicht geholfen. Peltier sei | |
damals aus politischen Gründen verurteilt worden, sagt Matthiessen, denn er | |
war als einer der Hauptorganisatoren des AIM der prominenteste der vier | |
Angeklagten. | |
Matthiessen führte auch das Gespräch mit „Mr.X“, jenem Mann, an dessen | |
Stelle Peltier seit fünfzehn Jahren im Gefängnis sitzt. Peltier kennt die | |
Identität dieses Mannes. Er habe von ihm aber nie verlangt, daß er sich | |
stelle, berichtet Matthiessen. „Mr.X“ bot dem Buchautor gegenüber aber an, | |
daß Peltiers Anwälte ihn gegenüber dem FBI identifizieren dürften. Er werde | |
die Tat leugnen, und man werde ihn — mangels Beweisen — nicht verurteilen | |
können. Weder Mathiessen noch Peltiers Anwälte glaubten aber, daß dies zu | |
dessen Befreiung führen werde. Sie ersannen einen anderen, in ihren Augen | |
besseren Weg. „Mr.X“, den Kopf verhüllt und die Stimme verstellt, sagte vor | |
einer laufenden Filmkamera aus, daß er der Mörder der beiden FBI-Beamten | |
sei. Das Gespräch wurde im September in dem bekannten TV-Magazin Sixty | |
Minutes gesendet, im Rahmen einer für das FBI und die Staatsanwaltschaft | |
vernichtenden Zusammenfassung der Belege für Peltiers Unschuld. Anwalt | |
Seitz hält den Beitrag für einen äußerst wichtigen Schritt hin zur | |
Freilassung des AIM-Aktivisten. Und er freut sich, daß es bei dem Sixty | |
Minutes-Film nicht bleiben wird: „'Time Magazine‘ hat einen Artikel | |
vorliegen, in Kürze wird ein Dokumentarfilm fertiggestellt sein und Oliver | |
Stone arbeitet an einem Spielfilm über den Fall.“ | |
Das FBI hat unterdessen die Suche nach „Mr.X“ aufgenommen. Fünf Tage nach | |
der Sixty Minutes-Sendung brachen bewaffnete FBI-Beamte in Indianapolis in | |
die Wohnung des AIM-Mitglieds Kenny Kane ein. Gegen Kane war nach dem Mord | |
von Wounded Knee ohne Ergebnis ermittelt worden. Mehr als eine Stunde lang | |
versuchten sie, von Kane Erkenntnisse über „Mr.X“ zu gewinnen. Einer der | |
Polizisten habe zu ihm gesagt, so Kane: „Leonard wird wohl entlastet und | |
dann hängen wir einen von euch.“ | |
1 Nov 1991 | |
## AUTOREN | |
stefan schaaf | |
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