# taz.de -- ESSAY: Neue Köpfe für Afrika | |
> ■ Der Machtwechsel durch freie Wahlen in Sambia konsolidiert die | |
> Demokratisierung Afrikas — doch die Schwierigkeiten sind nicht vorbei | |
Amos Tutuola, der alte nigerianische Schriftsteller, beschreibt in seinem | |
Roman Mein Leben im Busch der Geister einen mörderischen Krieg, bei dem der | |
erzählenden Person der Kopf abgeschlagen wird. Nachher wird ihm, wie allen | |
toten Soldaten, der Kopf wieder aufgesetzt — doch leider ist es der falsche | |
Kopf: Er gehört einem Geist. „Da aber jeder Geist geschwätzig ist“, fährt | |
der Erzähler fort, „machte dieser Kopf Tag und Nacht die verschiedensten | |
Geräusche und roch außerdem schlecht. Ob ich es nun war, der redete, oder | |
nicht, fortwährend plauderte der Kopf die Worte aus, die ich eigentlich | |
nicht sagen wollte, und verriet alle meine geheimen Absichten.“ | |
Die Geschichte stammt aus den fünfziger Jahren, als Nigeria wie fast ganz | |
Afrika von europäischen Kolonialmächten regiert wurde. Die dunkle Nacht der | |
Kolonisation, die die Mehrzahl der Afrikaner als Krieg und Terror erlebte, | |
mündete wenig später in eine befreiende Morgenröte, die Wiedererweckung | |
Afrikas zur Selbständigkeit. Alte Gesellschaften erhielten neue Köpfe. Doch | |
erlitten sie alsbald ein sehr ähnliches Mißgeschick wie Tutuolas Held: Die | |
Köpfe begannen zu stinken und in einer selbstsüchtigen Weise geschwätzig zu | |
werden. Afrikas nachkoloniale Regimes, so inzwischen der breite Konsens, | |
haben ihre Chance der Befreiung verpaßt. Die Generation der Befreier hat | |
Afrika die Freiheit nicht bringen können. | |
## Abgang eines Unabhängigkeitshelden | |
Bei Tutuola wird der Irrtum des falschen Kopfes rasch bemerkt. Der richtige | |
Kopf läßt nicht lange auf sich warten. In der afrikanischen Wirklichkeit | |
aber dauert alles länger. Erst in diesen Jahren, eine Generation nach dem | |
Abgang der Kolonisatoren, werden aus dem Irrtum Konsequenzen gezogen: in | |
Form von Demokratiebewegungen. So wählte das Volk Sambias letzten | |
Donnerstag seinen Führer und Unabhängigkeitshelden Kenneth Kaunda nach 27 | |
Jahren Herrschaft haushoch ab. | |
Kaunda nahm seinen Abgang mit Würde. „Ich bin stolz, sehr stolz“, sagte er | |
am Wochenende, als er die Macht an seinen Nachfolger Frank Chiluba übergab. | |
Und Chiluba gebärdete sich nicht minder feierlich. „Dies ist die | |
Bestätigung der Macht der Geduld“, sagte er vor seinen jubelnden Anhängern. | |
„Mein erster Akt ist ein Gebet.“ | |
Sambias neuer Präsident bezeichnet sich als wiedergeborenen Christen — auch | |
Kaunda ist stark religiös — und hofft, mit seinem Sieg die Wiedergeburt | |
Sambias einzuleiten. „Sambia ist nicht der Mittelpunkt des Universums“, | |
sagte er in seiner ersten Rede als Präsident. „Doch Sambia ist der | |
Mittelpunkt unseres Universums. Wir sagen: Die Stunde ist gekommen, Sambia | |
und die Sambier an vorderste Stelle zu setzen.“ Von politischen Ideologien, | |
von Sozialismus oder Liberalismus, ist hier keine Rede. Nicht mehr vom Kopf | |
auf die Füße soll Sambia gestellt werden — der Kopf soll einfach zu den | |
Füßen passen. „Die Regierung allein ist nicht die Lösung unseres Problems; | |
lange genug war die Regierung das Problem“, sagt Chiluba. „Zum ersten Mal | |
in unserer Geschichte müssen die Bürger Sambias nicht mehr ein System | |
erfinden, nach dem sie leben sollen. Wir müssen nicht bis spät in die Nacht | |
darüber reden, welches System besser ist. Wir müssen nicht den Führern | |
Gerechtigkeit abringen. Wir brauchen sie nur aus uns selbst zu holen.“ | |
Doch weiß auch Chiluba, was die anderen neuen demokratischen Führer Afrikas | |
wissen: Die Zukunft ist nicht offen. Sie kann ihre Vergangenheit nicht | |
abschütteln. Zu Sambias Vergangenheit gehört das wirtschaftliche Desaster | |
der Kaunda- Zeit. Es gibt keine Devisenreserven — dafür eine wachsende | |
Auslandsschuld und einen Streit mit den Geldgebern IWF und Weltbank. Die | |
landwirtschaftlich genutzte Fläche ist heute geringer als zur Zeit der | |
Unabhängigkeit. Noch immer ist die Ökonomie hochgradig vom Kupferexport | |
abhängig, obwohl dessen Weltmarktpreise seit den siebziger Jahren in den | |
Keller gerutscht sind. In den Industrie- und Bergwerksstädten grassiert die | |
Furcht vor Hungersnot. Alte ethnische Antagonismen, die Kaunda kunstvoll | |
neutralisieren konnte, sind noch virulent. Und ob die siegreiche „Bewegung | |
für Mehrparteiendemokratie“ mehr als ein heterogenes Zweckbündnis sein | |
kann, bleibt noch zu beweisen. | |
## „Wir sind krank, aber wir leben noch“ | |
Der Weg in eine rosige Zukunft ist weit. „Am wichtigsten ist, ein | |
dauerhaftes Vertrauen in die soziopolitische Stabilität unseres Landes zu | |
schaffen“, sagt der neue Präsident und ruft gleichzeitig, unter Beschwörung | |
Winston Churchills („Blut, Schweiß und Tränen“) zu harter Arbeit auf: | |
„Sambia ist wie ein Patient, der aus einem langen Koma erwachte. Wir sind | |
schwach, doch wir sind wach. Wir sind krank, doch wir leben noch.“ | |
Doch kann dies die sambische Jugend befriedigen, die Chiluba an die Macht | |
brachte? Gestern warnte der kamerunische Schriftsteller Celestin Monga in | |
dieser Zeitung vor der Frustration einer marginalisierten Stadtjugend, die | |
Gewalt einsetzt, „um sich gegen einen gesellschaftlichen Körper zu stellen, | |
der sie ablehnt“, und schrieb: „Es nützt überhaupt nichts, ihnen ein Syst… | |
fiktiver Werte vorzuschlagen.“ Auch in den Metropolen Sambias — und | |
letztlich weltweit — zählt die Perspektive materieller Verbesserung. Auch | |
wenn der Impuls, der Diktatoren gestürzt und politische Systeme verändert | |
hat, primär ein moralischer ist. Afrikas Welle demokratischer Bewegungen | |
nimmt ihre Kraft aus dem seltenen Zusammentreffen der zwei Hoffnungen nach | |
wirtschaftlicher und nach moralischer Erneuerung. Der Ruf nach | |
„Ehrlichkeit“, der in den Wahlreden Sambias wie auf Demokratiekundgebungen | |
anderer afrikanischer Länder immer wieder ertönt, soll sowohl die | |
Korruption verdammen wie auch die „ehrliche Arbeit“ rehabilitieren, aus dem | |
Glauben an die Kraft der eigenen Gesellschaft sogar unter widrigsten | |
weltwirtschaftlichen Umständen. | |
## Die Milliardenkonten der Diktatoren | |
Aber die notwendige Erneuerung kann nicht an Staatsgrenzen haltmachen. | |
Heute in Sambia, morgen vielleicht in Zaire, lastet das Gewicht des | |
Wiederaufbaus auf den Schultern einer neuen Generation, die gegenwärtige | |
Leiden nicht mehr mit der kolonialen Vergangenheit entschuldigt, | |
entschuldigen kann. Diejenigen, die ihre Macht der Entkolonisierung | |
verdanken, treten von der Bühne ab. Es wäre der Zeitpunkt für Europa, ihre | |
eigene Verantwortung wahrzunehmen und das Geflecht kolonialer | |
Klüngelstrukturen zu entwirren, das erlaubt, die Reichtümer afrikanischer | |
Staaten hinter Zürcher Nummernkonten zu verbergen. | |
Gegenwärtig läuft zwischen Mali und der Schweiz ein juristischer Streit um | |
zwei Milliarden Dollar, die Exdiktator Traore vom Staatshaushalt abgezweigt | |
und auf Privatkonten deponiert haben soll. Kaundas Auslandsguthaben | |
betragen dem Vernehmen nach vier Milliarden Dollar, Mobutu soll über acht | |
Milliarden verfügen — Gelder, die den Völkern Afrikas zukommen müßten. | |
Kenneth Kaunda muß mit seinen Milliardenkonten weder ins Exil gehen, wie | |
Äthiopiens Mengistu oder Tschads Hissein Habre, noch vor Gericht wie Malis | |
Moussa Traore. Er kann als geachteter Gründer der sambischen Nation seinen | |
Ruhestand genießen, während Chiluba mit IWF und Weltbank über | |
Finanzspritzen verhandelt und Lebensmittelsubventionen abschafft, um für | |
die Sanierung zu zahlen. | |
Auch wenn Chiluba für Sambia der richtige Kopf ist — der demokratische | |
Traum kann in der Konfrontation mit den Forderungen der reichen | |
Industrienationen verlorengehen. Gegen Ende von Mein Leben im Busch der | |
Geister landet Tutuolas Held auf einem Sklavenmarkt. „Da war ich nun 24 | |
Jahre, gepeinigt von Züchtigungen, im Busch verirrt gewesen, und als ich da | |
herauskomme, werde ich gefangen und wieder als ein Sklave verkauft, und nun | |
kauft mich ein reicher Mann, um mich für seinen Gott zu töten.“ Dominic | |
Johnson | |
5 Nov 1991 | |
## AUTOREN | |
dominic johnson | |
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