# taz.de -- Im Tal der Tränen | |
> ■ Nach 59 Jahren holen französische Tennisspieler den Davis-Cup wieder | |
> nach Frankreich - Guy Forget entschied das Finale durch einen Sieg gegen | |
> den völlig demoralisierten US-Boy Pete Sampras | |
Berlin (taz) — Es ist ein Wunder, was ein Ballspiel aus Männern machen | |
kann. Ein Wesen, das im schlimmste Schicksalsschläge mit steinerner Miene | |
und scheinbar unbewegt ertragen kann, metamorphiert innerhalb von Sekunden | |
zum verspielten Sensibelchen, sobald sich ein Ball nur nähert. Verschwindet | |
das Objekt der Begierde, bleibt vom Wesen nur die emotionsgehemmte Hülle | |
zurück. | |
Am Sonntag in Lyon beim letzten Tag des Davis-Cup-Finales wimmelte es nur | |
so von Männern und Bällen — ergo: die Hüllen waren voller Gefühl. Besonde… | |
die französischen: Das Team von Alt-Tennisstar Yannick Noah war nach dem | |
überraschenden Sieg gegen die USA außer sich. Guy Forget, ansonsten eher | |
mit dem dünnhaarigen Charisma eines gehobenen Bankangestellten behaftet, | |
brach nach dem entscheidenden Matchball zusammen und wälzte sich zuckend | |
auf dem Plastikfußboden. Mit seinem 7:6 (8:6), 3:6, 6:3, 6:4-Sieg gegen den | |
total verunsicherten Pete Sampras hatte er nach 59 Jahren Enthaltsamkeit | |
den Cup wieder nach Frankreich geholt. Sekunden später waren die | |
Rasta-Locken von Noah über ihm, der Chef küßte und herzte ihn, bevor er | |
enthemmt in Tränen ausbrach. Die Ersatzspieler Fabrice Santoro, Oliver | |
Delaitre und Arnaud Boetsch weinten mit, schließlich kam der Held von Lyon, | |
Henri Leconte. Völlig out of space ließ er seine Gesichtszüge entgleiten | |
und warf sich in die Arme seiner heulenden Kumpels. | |
Auch bei den 8.500 Fans auf den Tribünen jagte eine frenetische | |
Übersprungshandlung die nächste: Sie heulten vor Glück, schrien, tobten und | |
ließen die Welle schwappen. „Die USA hat nicht erkannt, welche Bedeutung | |
der Davis-Cup für das französische Volk hat. Wir haben nur die Fußball-WM, | |
die Tour de France und den Davis-Cup. In den USA gibt es zehn wichtigere | |
Dinge“, sagte Guy Forget. Tatsächlich war Pete Sampras von der | |
überschwappenden Stimmung kalt erwischt worden: „Ich habe nicht gewußt, was | |
mich erwartet“, stammelte der große Verlierer, der auch sein erstes Einzel | |
gegen den entfesselten Leconte abgegeben hatte. Am Boden zerstört hob der | |
19jährige an zur Selbstgeiselung: „Ich fühle, daß ich mein Land im Stich | |
gelassen habe.“ Auch US- Teamchef Tom Gorman war untröstlich: „Ich hatte | |
gedacht, wenn Pete nur 75 Prozent von dem spielt, was er tatsächlich | |
gespielt hat, würde es reichen.“ | |
Tatsächlich war Sampras vor Druck total paralysiert. Als er im dritten Satz | |
vier Breakbälle gegen Forget nicht verwandeln konnte, hatte er den Cup | |
verloren. Besonders, da Forget ihn durch enorme Risikofreude zusätzlich | |
demoralisierte. Den letzten Breakball nämlich wehrte der Franzose mit einem | |
As ab — beim zweiten Aufschlag. „Das war eine äußerst mutige Handlung. Ich | |
konnte es einfach ncht glauben“, stotterte Sampras. Und Forget? „Yannick | |
hat mit Geschmack für solche Dinge gegeben.“ | |
Immer wieder Yannick. Die unglaublichen Leistung des Halbinvaliden Henri | |
Leconte und die plötzliche Nervenstärke des Guy Forget, alles wird dem | |
Magier Noah zugeschrieben. Was sich tatsächlich im einwöchigen | |
Trainingslager der Franzosen abgespielt hat — ob Africa-Voodoo- Kult oder | |
gemeinsames Kampftrinken — heraus kam ein Teamgeist Aladinscher Ausmaße. | |
Am Rande des Nationalgefühl- Kollaps balanciert auch die französische | |
Presse. Die France-Soir jubelt: „Dank den drei Glorreichen. Noah hatte | |
Glück, aber es genügt nicht, das Glück anzuziehen, man muß es auch suchen. | |
Das Glück Noahs heißt diesmal Leconte, eine Fee wie aus dem Märchen.“ | |
Weniger märchenhaft sah es der britische Independent, der einen | |
„Massenexorzismus“ ausmachte. Doch teuflisch war sie nicht, die Stimmung, | |
eher kindisch-rührig. Yannick Noah, der wie alle seine Mannen natürlich den | |
„schönsten Tag seines Lebens erlebte, krönte diesen mit ungeheuer | |
schmalzigen Reden. Er ließ keine Tränendrüse ungenutz. Ohne jede Scham | |
zitierte er den Liebesbrief von Lecontes Sohn („Pappi, ich liebe dich, | |
gewinne den Cup für mich“), und raubte damit Paps Henri die letzte Fassung. | |
Während dieser schluchzend in Tränen ausbrach, bastelte Noah bereits an | |
seiner neuen Karriere als Chorleiter: Als Gotthilf-Fischer von Lyon stimmte | |
er mit den 8.500 stimmgewaltigen Fans seine „Saga Africa “ an. | |
Fischerchor-artig sang die Masse mit, und setzte die Marseillaise drauf. | |
Schließlich weinten alle. Um diese rührige Masse wieder zur Vernunft zu | |
bringen, hilft nur noch eins: Schnell! Nehmt ihnen die Bälle weg! miß | |
3 Dec 1991 | |
## AUTOREN | |
miß | |
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