# taz.de -- In Sechserreihen ungestört durch Rudolstadt | |
> Polizei ließ Neonazis aufmarschieren/ Trotz Verbots konnten mehr als | |
> 2.000 Rechtsradikale im thüringischen Rudolstadt den | |
> Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß hochleben lassen/ 93 | |
> GegendemonstrantInnen festgenommen ■ Aus Rudolstadt Bernd Siegler | |
„Was soll ich denn machen, ich habe beim Ministerium Verstärkung | |
angefordert, habe aber bis jetzt noch keine Rückmeldung erhalten.“ | |
Polizeieinsatzleiter Frank Schnaubert sitzt ratlos mit vierzig Beamten in | |
seiner Polizeistation am Rasthof „Hermsdorfer Kreuz“. Draußen auf dem | |
Parkplatz beobachtet ein Streifenwagen die Lage. Und die ist ernst. Bis 14 | |
Uhr haben sich dort schon mehr als eintausend Neonazis und Skins aus ganz | |
Deutschland versammelt. Sie warten auf das Kommando zum Aufbruch, um | |
endlich ihren „Rudolf-Heß-Gedächtnismarsch“ in einer thüringischen Stadt | |
abzuhalten. Bis es eineinhalb Stunden später so weit ist, haben sie einem | |
Pressefahrzeug die Reifen plattgemacht, „Sieg-Heil“-Sprechchöre eingeübt, | |
die polnischen Fernfahrer vertrieben und einen ungarischen Tramper | |
zusammengeschlagen. Das Hermsdorfer Kreuz ist zu dieser Zeit rein- deutsch. | |
So wollen es die mehr als 2.000 Neonazis in martialischem Outfit auch im | |
ganzen Land haben. „Deutschland den Deutschen — Ausländer raus“ | |
skandierend, ziehen sie schließlich durch die thüringische Kleinstadt | |
Rudolstadt, 40 Kilometer südlich von Jena. Ungestört von | |
Polizeieinsatzkräften waren sie mit 18 Bussen und einer Vielzahl von PKWs | |
im Konvoi vom Hermsdorfer Kreuz in die Kleinstadt gefahren. Die | |
Reichskriegsflaggen flatterten dabei aus den Fenstern. In Rudolstadt selbst | |
parken sie am Bahnhof und formieren sich in Sechserreihen. Ganze zwei | |
Polizeibeamte sind in der Nähe des Zuges anzutreffen. „1.500 Leute kann ich | |
nicht ruck, zuck aufhalten“, erklärt einer von ihnen den wenigen anwesenden | |
Journalisten. An der Spitze des gespenstischen Zuges läuft Esther („Lisa“) | |
Wollschläger, die Verlobte des an Aids verstorbenen Neonaziführers Michael | |
Kühnen. Sie trägt eine Urne vor sich her und wird begleitet von Trommlern | |
der „Freiheitlichen Arbeiterpartei Deutschlands“. Dahinter Fahnen unter | |
anderem von der NPD, der Hamburger „Nationalen Liste“, der „Ruhrfront“,… | |
„Nationalen Offensive“ und der „Vereinten Rechten Niedersachsen“. | |
Mitglieder der „Deutschen Alternative“, die mit drei Bussen aus Cottbus | |
angereist sind, führen nur ein Transparent mit. Die Aufschrift ist ihr | |
Programm: „Hoyerswerda“. Die „Nationalistische Front“ verteilt Flugblä… | |
zur „Auschwitz-Lüge“, andere tragen T-Shirts mit dem Ku-Klux-Klan- | |
Schriftzug oder dem Slogan „Blut & Ehre, stolz & weiß“. | |
Aktivisten und Sympathisanten, nahezu aus dem gesamten militanten | |
Neonazispektrum, angereichert mit Skins und Hooligans haben sich in | |
Rudolstadt versammelt, um den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß als | |
„Märtyrer für Deutschland“ hochleben zu lassen. In Wunsiedel und Bayreuth | |
war ihre Demonstration letztinstanzlich verboten worden, ebenfalls in | |
sechzehn thüringischen Städten. Sie wissen genau, daß auch ihr Marsch durch | |
Rudolstadt von den Behörden verboten worden war, doch das stört sie nicht. | |
Ebensowenig anscheinend wie das thüringische Innenministerium. | |
Die angeforderte Verstärkung trifft in Rudolstadt in Form von ganzen zwei | |
Hundertschaften erst ein, als sich die Neonazis zu ihrer Abschlußkundgebung | |
auf dem Busbahnhof versammelt haben. Dort kann Altnazi und | |
Ritterkreuzträger Otto Riehs die nationalsozialistische Zeit hochleben | |
lassen und Christian Worch, von der Hamburger „Nationalen Liste“ und | |
Organisator des Heß-Marsches, die „Kameraden“ aus Rußland, Italien, | |
Frankreich, Griechenland und den Niederlanden begrüßen. Michel „Leloup“ | |
Faci, der als Söldner sowohl im Irak als auch in Kroatien gekämpft hat, | |
erhält für seine Forderung, zuerst den „Kommunismus in Kroatien zu | |
vernichten“ und dann die „tyrannische Demokratie hier abzuschaffen“, den | |
stärksten Beifall. Um 19 Uhr ist der Spuk in Rudolstadt vorbei, die | |
Neonazis ziehen ungestört von Einsatzkräften der Polizei wieder ab. | |
„Ich bin entsetzt“, kommentiert eine 45jährige Rudolstädterin den Aufzug | |
der Neonazis. „Die müßten alle ins Arbeitslager und wenn sie aufmucken, | |
immer gleich eins drauf.“ Eine Forderung, die auch aus dem Munde eines | |
Neonazis, gerichtet an AusländerInnen oder Linke, hätte kommen können. Eine | |
Rentnerin ist ebenfalls empört, jedoch mit anderen Konsequenzen: „Wenn das | |
die Einheit sein soll, dann pfeif' ich darauf.“ Insgesamt säumen aber nur | |
wenige Passanten die Straßen. Rudolstadt wirkt wie ausgestorben, die | |
Neonazis sind unter sich. Thomas „Wulff“ Steiner, der den Ordnungsdienst | |
der Neonazis schon Wochen zuvor in Hetendorf bei Celle trainiert hatte, ist | |
zufrieden: „Das machen wir jetzt jedes Jahr so“, kündigt er an. Auf dem | |
Parkplatz am Hermsdorfer Kreuz hatte er zuvor ein striktes Alkoholverbot | |
ausgesprochen und jegliche Interviews von Journalisten mit den Neonazis | |
untersagt. Dem Einsatzleiter der Polizei sicherte er zu, daß er „keine | |
Exzesse“ dulden würde, daß es „keine Pläne“ für Kundgebungen geben w�… | |
und man sich hier „nur die Beine vertreten“ wolle. Artig bedankt sich der | |
Beamte für die Auskunft und gibt dem Neonazi den Rat mit: „Sorgen Sie | |
dafür, daß dies hier nicht zum Problem wird.“ Gegenüber der Presse | |
begründet die Polizei später ihre äußerst zurückhaltende Vorgehensweise mit | |
einer „Strategie der Deeskalation“. | |
## Gegendemonstranten festgenommen | |
Von polizeilicher Zurückhaltung und Fingerspitzengefühl war allerdings | |
gegenüber den antifaschistischen GegendemonstrantInnen nichts zu spüren. | |
Die drei Autokonvois mit etwa 2.500 antifaschistischen Personen konnten | |
zwar, abgesehen von Durchsuchungsaktionen, unbehelligt zur genehmigten | |
Demonstration nach Hof gelangen. Schon während der Demonstration und der | |
Kundgebung aber versuchten Beamte der bayerischen „Unterstützungskommandos“ | |
immer wieder, Transparente aus dem Demonstrationszug zu beschlagnahmen. Zu | |
kleineren Auseinandersetzungen kam es am Ende der Kundgebung, als | |
USK-Beamte mehrere DemonstrantInnen festnehmen wollten. Als drei Berliner | |
Busse sich nach Rudolstadt aufmachten, wurden sie von starken | |
Polizeikräften gestoppt. Die „starke“ Stunde von Einsatzleiter Frank | |
Schnaubert kam aber erst gegen Mitternacht am „Hermsdorfer Kreuz“. | |
Als dort Berliner AntifaschistInnen einem Zivilfahrzeug der Polizei, das | |
sich in ihren Konvoi eingeschlichen hatte, eine Fensterscheibe demolierten, | |
blies Schnaubert zur Offensive. 93 DemonstrantInnen wurden festgenommen, | |
mußten sich knapp eine Stunde mit auf dem Rücken gefesselten Händen und | |
Kopf nach unten auf den Boden legen. Beamte bewachten sie mit gezückten | |
Pistolen. | |
17 Aug 1992 | |
## AUTOREN | |
bernd siegler | |
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