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# taz.de -- Wo die AfD ein Direktmandat holt: „Mannheim ist meinland“
> Ein Neonazi lässt sich beim türkischen Barbier die Glatze rasieren. Ein
> Beispiel für ein gelingendes Miteinander?
Bild: Am runden Tisch in "Tschänau" werden Erfahrungen ausgetauscht.
von [1][JANN-LUCA ZINSER]
Es gibt sicherlich schönere Städte als Mannheim. Klar, die barocke
Schlossanlage der Kurfürsten ist beeindruckend, aber die MannheimerInnen
sind aus ganz anderen Gründen stolz auf ihre Stadt: Schon die
Gründungsurkunde der Stadt ist ein Plädoyer für Vielfalt und
Gastfreundschaft.
Wenn man in den Stadtteil Schönau – oder wie man hier sagt, „auf die
Tschänau“ – möchte, passiert man zunächst ein Industriegebiet, man glaubt
die Stadt zu verlassen. Dann: 60er-Jahre-Bau, dreistöckig und blass in der
Farbe reihen sich die Wohnhäuser aneinander, quadratisch angeordnet wie die
ganze Stadt.
## Oft beschriene Ghettoisierung
Zwischen den Reihen ist viel Grün, Wiesen, auf denen Kinder spielen, ältere
Leute sitzen mit Bier auf Plastikstühlen und fangen die Sonnenstrahlen ein,
die es noch über die flachen Dächer der Siedlung schaffen.
In deren Mitte ist ein Fußballplatz, jung und alt spielen gemeinsam, ihre
Hintergründe haben sie in aller Welt. Die Anordnung der Bauten begünstigt
die oft beschriene Ghettoisierung, die Bewohner haben alles unmittelbar vor
der Tür, für die meisten alltäglichen Dinge müssen sie nicht einmal ihren
Block verlassen und die einfach gehaltene Gartenanlage ist für alle da.
Doch abgesehen vom Fußballplatz und einigen Familien scheint die Mehrheit
der Leute hier alleine unterwegs zu sein. Die Straßen sind einigermaßen
leer, hier und da sitzen ältere Damen draußen vor einer Kneipe, nur wenn
eine Straßenbahn nahe der Hauptstraße hält, füllen sich die Wege kurz mit
Leben. Vor einer Dönerbude steht ein Junge und zieht an seiner E-Zigarette.
## Gut funktionierende Integration?
In Mannheim-Schönau gibt es auch ein Jugendhaus, ein orangenes Gebäude
voller Graffiti, das eine Mischung aus Café mit Pooltisch und
Schulsporthalle ist. Hier diskutierte taz.meinland in Kooperation mit der
KONTEXT:Wochenzeitung das Miteinander in der Stadt, das einige gefährdet
sehen.
Die politischen Entwicklungen gerade in der Türkei sorgten zuletzt immer
wieder für Konflikte und Ausschreitungen zwischen Kurden und türkischen
Nationalisten – lange ein unvorstellbares Szenario im Zentrum der
Rhein-Neckar-Metropolregion. Schließlich schrieb man sich hier stolz eine
vergleichsweise gut funktionierende Integration auf die Fahnen.
Passend zum Veranstaltungsort wird an diesem Abend auch viel über die Rolle
der Jugendlichen gesprochen, Tobias Schirneck vom Musik- und
Integrationsprojekt Who.Am.I arbeitet mit über 300 von ihnen zusammen.
## Rappen um sich wiederzufinden
Er lädt sie in sein Tonstudio ein, um mit ihnen zu rappen. „Es geht um
Ergebnisse, in denen Jugendliche sich wiederfinden“, sagt er – innerhalb
eines Jahres hat er mit ihnen ein Album aufgenommen, in dem sich
verschiedenste Sprachen und Stimmen wiederfinden.
Manche sind nur einmal und dann nie wieder gekommen, viele sind dabei
geblieben und, sagt Tobias, in dem ganzen Jahr sei in seinem Studio nichts
weggekommen. Obwohl die allermeisten Teilnehmer aus schwierigsten
Verhältnissen kämen.
Die beiden Moderatoren Paul Toetzke und Minh Schredle befragen die Gäste
nach ihren eigenen Erlebnissen in der Periode der Eingewöhnung im neuen
Land.
Bektas Cezik, ehemaliger Koranlehrer und heute als Jugendarbeiter tätig,
ist als kleiner Junge nach Deutschland gekommen und erzählt von seinen
Erfahrungen als einziger Türke in der Grundschulklasse: „Ich habe früh
gelernt, aus schwierigen Situationen das Beste zu machen. Es ergibt keinen
Sinn, nebeneinander zu leben, sondern miteinander. Wenn man das einmal
erlebt hat, möchte man das nicht mehr missen.“
## Glatze beim türkischen Barbier rasieren lassen
Trotz positiver Erfahrungen – Ilyes Mimouni vom Stadtjugendring Mannheim
berichtet von einem Neonazi, der sich beim türkischen Barbier die Glatze
rasieren lässt – haben in Schönau viele AfD gewählt, eins von zwei
Direktmandaten in Baden-Württemberg wurde hier geholt.
Claus Preissler, seines Zeichens Integrationsbeauftragter der Stadt, war
von diesem Ergebnis sehr überrascht, spricht von einer „eigentlich roten
Hochburg“. Er plädiert für die Schaffung neuer und für den Erhalt
bestehender Begegnungsorte, die nicht nur projektbezogen funktionieren,
sondern immer und überall.
Integration kann sich, seiner Ansicht nach, nicht nur auf Ankommende
fokussieren, auch Migranten in zweiter oder dritter Generation müssten
einbezogen werden.
## Die einzige Türkin in der Klasse
Nazan Kapan ist bestens integriert. Die Stadträtin der
SPD-Gemeinderatsfraktion kam nach Deutschland, als sie nur einige Wochen
alt war. Auch sie weiß, wie es ist, die einzige Türkin in der Klasse zu
sein. Auf dem Gymnasium hätte sie teilweise derbe Erfahrungen gemacht, von
allen Seiten, auch im patriarchalischen Haushalt ihrer Eltern, hätte es
stets geheißen: „Die schafft das sowieso nicht!“.
Deshalb meidet sie auch Klassentreffen. Doch sie hat es geschafft und hat
Träume: „Ich möchte in diesem Land als Nazan Kapan sterben und als nichts
anderes“ sagt sie und erntet Applaus. In einer Demokratie müsse man
Beleidigungen schon ertragen, die Antwort darauf aber eben auch.
Für Ilyes Mimouni vom Stadtjugendring basiert Integration auf einem
gesunden Menschenverstand und damit einhergehend die Anerkennung anderer
Lebensentwürfe. Er erzählt von Diskussionen am Lagerfeuer mit einem
kurdischen Jungen und einem AKP-Befürworter. Die wären total konstruktiv
gewesen.
Für die teilweise Eskalation der Situation macht er auch die
Berichterstattung in den deutschen Medien verantwortlich, nicht nur
hetzerische Einflussnahme durch Akteure aus Erdogan-freundlichem Umfeld.
## Türkischstämmige Mannheimer in einem Loyalitätsdilemma
Claus Preissler weiß, dass viele dieser Agitatoren, die von außen kommen
und doch Demonstrationen in Mannheim organisieren wollen, sich ihres
Publikums – gerade im Stadtteil Schönau – also sehr bewusst sind. Trotzdem
sieht er die Stadt nicht in der Verantwortung, außenpolitische Konflikte zu
beurteilen.
Sehr wohl aber, das Grundrecht auf Demonstration zu wahren und für
friedliche Abläufe zu sorgen. Er sieht viele türkischstämmige Mannheimer
auch in einem Loyalitätsdilemma, die Verbundenheit zur Stadt sei bei den
allermeisten schließlich ungebrochen groß.
Auch der ehemalige Koranlehrer Bektas Cezik sieht die Atmosphäre durch
äußere Einwirkung gefährdet, will aber um das Recht der türkischen
Community, Stimmung zu machen, wissen. Schließlich würden Grüne und Linke
selbiges für die KDP tun. Trotzdem seien viele hier im Umgang mit der
problematischen Situation in der Türkei zu unkritisch.
## Ist die mediale Präsenz Erdogans in Deutschland zu groß?
Mimouni merkt an, dass die mediale Präsenz Erdogans in Deutschland zu groß
sei, gerade unter dem Aspekt der Ermangelung solcher, die mit gutem
Beispiel vorangingen hierzulande. „Immer nur Erdogan, Erdogan, Erdogan“
ruft er. „Die Kids brauchen echte Vorbilder!“.
Nazan Kapan sieht die Politik in der Verantwortung, demokratische Bildung
schon bei den Jüngsten zu forcieren. Dass man sich der Privilegien bewusst
wird, sie sei super stolz gewesen, als sie das erste Mal wählen durfte. Bei
einer Veranstaltung habe sie ein älteres Paar getroffen, dass wegen der
Rodung dreier Bäume in ihrer Straße derart frustriert war, dass sie nicht
mehr wählen gehen.
Man müsse, gerade auch im Alter und bei aller Selbstverständlichkeit,
aufpassen, nicht zu bequem für den demokratischen Prozess zu werden. „Und
die Bereitschaft zu teilen müssen wir schleunigst wieder in unser
Wertesystem integrieren. Als ich vor kurzem in der Türkei war, habe ich es
sehr genossen, auch das Wenige miteinander zu teilen.“
## Integration als gesamtgesellschaftliches Problem
Eine Dame aus dem Publikum stimmt ihr zu: „Alle sollten wieder mehr
wertschätzen, dass sie hier mitreden dürfen.“ Ein anderer Gast wirft ein,
dass die Möglichkeiten der Beteiligung auf kommunaler Ebene besser
vermittelt werden müssten. „Außerdem geht es bei der Integration nicht nur
um Jugendliche, das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.“
Claus Preissler, auf seine Wünsche und Visionen für die Zukunft Mannheims
angesprochen, berichtet von der „Gemeinsamen Erklärung der türkischen und
kurdischen Vereine zu einem friedlichen Umgang in Mannheim in Anbetracht
der aktuellen Konfliktlage in der Türkei“, die schon von zahlreichen
Initiativen, Unternehmen und Vereinen unterzeichnet wurde.
Sein Wunsch: „Dass dieses Bündnis weiter wächst und von allen gelebt wird.
Ein klares Nein zur Herabwürdigung anderer.“ Demokratie sei immer auch
Geduldsarbeit und anstrengend, aber lohne sich immer ergänzt Nazan Kapan.
Musiker Tobias Schirneck rappt sein Schluss-Statement und widmet es den
Nachtfaltern der Stadt, die hätten schließlich überhaupt keine Lobby. Ilyes
Mimouni sagt: „Deutschland ist nicht meinland. Tunesien auch nicht.
Mannheim ist meinland!“
24 May 2017
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[1] /!s=Jann-Luca/
## AUTOREN
Jann-Luca Zinser
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