# taz.de -- Integration in Wuppertal: Zukunft einfordern | |
> Einkommen, Hautfarbe oder Bildungsschicht spielen in der Initiative | |
> "Chance! Wuppertal" keine Rolle. Aber wie kann Integration funktionieren? | |
> Und was sagt die Jugend dazu? | |
Bild: In der "Chance! Wuppertal“ soll nicht nur Hausaufgabenhilfe für eine i… | |
von [1][ANN-KATHRIN LIEDTKE] | |
Wuppertal gehört vermutlich nicht zu den beliebtesten Städten Deutschlands, | |
mit 350.000 Einwohnern auch nicht zu den allergrößten. Und sie gehört | |
nicht, wie manch einer denken mag, zum Ruhrgebiet, sondern liegt im | |
Bergischen Land. Man verbindet mit ihr am ehesten die Schwebebahn. Doch was | |
viele nicht wissen: Wuppertal ist deutschlandweit die treppenreichste | |
Stadt: Es sind 469, um genau zu sein. | |
Eine der zahlreichen Treppen führt durchs Arbeiterviertel Langerfeld und | |
direkt zum „Stobbe“. Hier, hinter den geschlossenen Türen, hört man | |
Stimmengemurmel, klackern Tastaturen, raschelt Papier. Ganz vorne, am | |
Eingang des Hauses, hängen Zettel. Sie sind auf eine Schnur gespannt und | |
tanzen im Wind. Auf jedes Blatt ist ein großer Buchstabe gedruckt: CHANCE! | |
WUPPERTAL steht dort. | |
Ebendiese Initiative, die „[2][Chance! Wuppertal]“, ist es, die | |
taz.meinland nach Wuppertal geführt hat. Die Einheimischen nennen sie | |
liebevoll „Stobbe“, nach ihrem Gründer, dem franziskanischen | |
Arbeiterpriester Joachim Stobbe. | |
## Wo liegen die Probleme? | |
In gemütlicher, bunter Runde wurde im Haus der Einrichtung intensiv | |
diskutiert, debattiert und vor allem: auf Augenhöhe miteinander gesprochen. | |
Denn: Wir müssen reden – sagt die taz. Bis zur Bundestagswahl im September | |
tourt taz.meinland durch die Republik. Wir wollen wissen: Was ist hier | |
eigentlich los? Wie ist die Stimmung im Land und wo liegen die | |
tatsächlichen Probleme? | |
Das wollen wir auch in Wuppertal erfahren. „Wenn unterschiedliche Menschen | |
zusammen kommen, kommt es immer wieder zu Spannungen“, erzählt Pater Stobbe | |
zu Beginn der Veranstaltung. Auch in der Chance! Wuppertal. | |
Die christliche Initiative bietet jungen Menschen schwerpunktmäßig | |
Hausaufgabenhilfe an, von der Grundschule bis zum Abitur, von halb zwölf | |
bis Mitternacht. Das Besondere dabei: vor allem auch Kinder aus | |
zugewanderten Familien werden gefördert. Sie sollen bestmöglich integriert | |
werden. | |
Bis zu 130 Kinder und Jugendliche kommen täglich zur kostenlosen | |
Hausaufgabenhilfe vorbei. Einkommen, Hautfarbe oder Bildungsschicht spielen | |
keine Rolle. Auch Religion nicht. Die Leiter der Initiative Pater Joachim | |
Stobbe, der die Chance! Wuppertal 1976 gründete, und Thomas Willms sind | |
katholisch. Das Miteinander der unterschiedlichen Religionen sei für sie | |
aber kein Problem. Sie sind bestrebt, das Miteinander der unterschiedlichen | |
Religionen zu fördern. | |
Aber wie sieht es in der restlichen Stadt aus? Wie ist die Stimmung | |
gegenüber Andersdenkenden? Gegenüber Geflüchteten und gegenüber Menschen, | |
die vielleicht keine weiße Hautfarbe haben? | |
Gebetsverbot in Wuppertal | |
2014 fiel die Stadt negativ auf, weil sieben Männer mit Warnwesten und dem | |
Aufdruck „Shariah Police“ in der Innenstadt die Einhaltung von islamischen | |
Sitten einforderten. Und kürzlich wurde das Ganztagsgymnasium Johannes Rau | |
mit einer kontroversen Forderung medial bekannt: Dort sollte ein | |
[3][Gebetsverbot] für muslimische SchülerInnen eingeführt werden. | |
Mittlerweile hat die Bezirksregierung Düsseldorf das Verbot als | |
Schulaufsicht auch bestätigt, weil sich andere Schüler und Lehrer durch das | |
Verhalten der betenden Schüler bedrängt gefühlt hätten. | |
„Ich unterstütze es natürlich, wenn jemand seinen Glauben, seine Kultur | |
ausleben will“, meint Stobbe dazu. Er sagt aber auch: „Voraussetzung sollte | |
immer sein, dass ich andere damit nicht belasten darf.“ Das Klassenzimmer | |
während einer Prüfung für ein Gebet zu verlassen, gehöre da beispielsweise | |
dazu. | |
Anita Ferizoviqi war selbst Schülerin auf dem Gymnasium. Einen | |
tatsächlichen Konflikt hätte es dort allerdings nie gegeben, sagt sie. „Ich | |
habe nie mitbekommen, dass jemand den Unterricht wegen des Betens | |
unterbrochen hat. Das Problem wurde von den Medien aufgebauscht.“ Es hätte | |
eine Unterschriftenaktion für einen Gebetsraum gegeben; für die meisten | |
SchülerInnen sei die Sache dann aber erledigt gewesen. | |
Woher kommt überhaupt die stärkere Hinwendung junger Menschen zur Religion? | |
Der Wunsch, sich an vermeintlich strengere Regeln zu halten oder mehrmals | |
täglich zu beten? | |
Eine Frau aus dem Publikum meint: „Viele Muslime fühlen sich in Deutschland | |
unterdrückt. Ich glaube, das Beten bedeutet für sie, gesehen zu werden, | |
beachtet zu werden. Ich glaube, ihr Beten heißt: Ich bin hier und ich bin | |
stark.“ | |
## Die unsichtbaren Frauen | |
Umso wichtiger erscheint die Arbeit, die im „Stobbe“ geleistet wird. Neben | |
der Hausaufgabenhilfe gibt es eine Kinderkochgruppe, monatliche | |
Diskussionsforen für Jugendliche, eine Lebensmittelausgabe, Sozialberatung, | |
Deutschkurse – und einen Frauentreff. Anita Ferizoviqi und Rend Ibrahim | |
organisieren das Treffen einmal im Monat. | |
„Viele Frauen aus muslimisch geprägten Ländern wollen nicht zu unseren | |
Veranstaltungen kommen, wenn dort Männer anwesend sind, die sie nicht | |
kennen – oder besonders, wenn sie Single sind“, erzählt Ferizoviqi. „Dah… | |
wollen wir Räume schaffen, in denen die Frauen ungestört miteinander und | |
mit uns sein können.“ | |
„In meiner Kultur ist es üblich, dass sich Männer und Frauen in getrennten | |
Räumen aufhalten“, ergänzt Ibrahim. „Ich bin als Kind nach Deutschland | |
gekommen, für mich war es leicht mich daran zu gewöhnen. Aber meinen Eltern | |
fiel das sehr viel schwerer.“ | |
## Kultur darf nicht verloren gehen | |
Ein Problem, das sich auch in anderen Veranstaltungen der Initiative | |
niederschlägt: 2016 sollte das Fastenbrechen gemeinsam im Haus der Chance | |
gefeiert werden. Allerdings: es kamen fast nur junge Männer. Die Frauen | |
blieben zuhause. „Das lag daran, dass die Frauen sich um die Kinder kümmern | |
mussten“, meint ein Mann aus dem Publikum. „Und es ist nun mal so, dass | |
hier sehr viele Single-Männer sind. Die kommen natürlich alleine.“ | |
Ferizoviqi hingegen meint, dass das Fastenbrechen kein Einzelfall gewesen | |
sei. „Wir versuchen den Frauen zu erklären, dass wir hier in Deutschland | |
alle alles gemeinsam tun, dass es keine strikte Trennung von Männern und | |
Frauen im Alltag gibt.“ Bis sie ganz selbstverständlich miteinander Kaffee | |
trinken können, sei es noch ein langer Weg. | |
Eine schwierige Situation. Den neu Ankommenden sollen keine deutsche | |
Gewohnheiten übergestülpt werden. Die Kultur der Herkunftsländer müsse | |
nicht abgelegt, aber die neue akzeptiert werden. Das erfordert allerdings, | |
dass sich beide Seiten entgegen kommen. | |
Mit Rassismus leben müssen | |
Die Erfahrungen, die die Teilnehmenden in der Vergangenheit bereits mit | |
[4][Rassismus ]machten zeigt, dass dies nicht immer funktioniert. Margam | |
Quilolo, deren Eltern aus dem Kongo nach Deutschland kamen, erzählt davon, | |
dass sich im Bus niemand neben sie setze oder LadenbesitzerInnen sie oft im | |
Geschäft verfolgten und beobachteten, ob sie etwas klaue. „Das ist | |
schmerzhaft“, erzählt die 19-Jährige. „Aber ich glaube, es hat mich auch | |
stärker gemacht.“ | |
„Ich finde nicht, dass mich die Konfrontation mit solchen Situationen | |
stärker gemacht hat“, entgegnet Ibrahim. Sie trägt Kopftuch. „Ich habe | |
lange gebraucht, bis ich mich an die Blicke der Leute gewöhnt habe. | |
Mittlerweile tut es nicht mehr ganz so weh.“ Letztendlich sei ein Kopftuch | |
doch auch nur ein Stück Stoff, findet eine junge Frau aus dem Publikum. | |
Nur, dass es eben die Haare bedecke, nicht die Arme oder Beine. | |
Hubertus Engelmann leitet ehrenamtlich einen Deutschkurs in der Initiative. | |
Er sagt, dass nicht nur Deutsche Probleme mit Ausgrenzung und Rassismus | |
hätten. „Ich konnte in meinem Kurs beobachten, wie sich nach und nach | |
Assad-Gegener und -Befürworter in Gruppen zusammenschlossen. Oder dass | |
Sunniten und Schiiten nicht gemeinsam einen Kurs belegen konnten. Manche | |
wollen einfach keinen offenen Austausch.“ | |
Eine fehlgeschlagene Integration also? Zumindest in der Chance! Wuppertal | |
hat man diesen Eindruck nicht. Gerade die vielen jungen Leute tragen durch | |
ihr Ehrenamt dazu bei, dass die Einrichtung, die sich durch Spenden | |
finanziert, funktioniert. | |
## Einfach da sein | |
Wie die 22-Jährige Mariam Ibrahim, die von sich aus anbot, einen | |
Deutschkurs für syrische Kinder zu geben. Oder Margam Quilolo, die zunächst | |
mit einer Hauptschulempfehlung zur Hausaufgabenhilfe ging – bald wird sie | |
Zahnmedizin studieren und gibt längst selbst Nachhilfe. Sie tut es auch, um | |
etwas zurückzugeben. | |
Es ist ebendiese Jugend, die am Ende der Veranstaltung sagt, wie sie sich | |
ein gemeinsames Zusammenleben, eine offene Gesellschaft vorstellt. Es sind | |
Schlagworte wie Toleranz, Gleichheit, Bunt-Sein und Gemeinschaft. Eine | |
Gemeinschaft, in die man sich selbst einbringen müsse. „Wir haben da, im | |
Gegensatz zu vielen anderen Einrichtungen, einen entscheidenden Vorteil“, | |
schließt Stobbe. „Wir sind einfach immer da.“ | |
21 Mar 2017 | |
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## AUTOREN | |
Ann-Kathrin Liedtke | |
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