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# taz.de -- ■ Wie jiddisch sprechen wir Deutschen?: Guten Rutsch!
Kein Skinhead nähme es dir übel, wünschtest du ihm einen Guten Rutsch!, und
selbst ein eingefleischter Antisemit fühlte sich eher geschmeichelt, denn
gekränkt. Urdeutsch klingt's ja, dieses Rutsch. Im Synonymwörterbuch finden
wir, es sei eine saloppe Entsprechung für der Abstecher (kleinere Fahrt
nach einem bestimmten Ziel). Aber da stocken wir schon: Nur so einen Trip
nebenbei haben wir da gewünscht? Einen frohen Neujahrssinn gibt das wohl
kaum.
Unsere germanistisch-deutschen Wörterbücher lassen uns ratlos. Aus gutem
Grund! Jenes Rutsch leitet sich nämlich keineswegs aus dem Germanischen,
sondern von jiddisch rosch her, Kopf, Anfang, und rosch ha schono heißt
Anfang des Jahres, Neujahr. Als Neujahrsgruß also ist rosch ins Salonfähige
eingedeutscht, seine weit älteren Spuren jedoch sind vergessen: Schon in
der „Rotwellschen Grammatik“ von 1755 steht Rathsrutscher für Bürgermeist…
und Rosch abmacheyen für köpfen.
„Ausländer raus!“ bekäme unserer Muttersprache übel, und selbst „Juden
raus!“ ließe sie um weit mehr als um unseren volkstümlichen Neujahrsgruß
ärmer werden.
Jiddisches im Deutschen – nur zu oft erkennen nicht einmal Germanisten
seine Spuren und verfallen statt dessen auf abstruse Ableitungen. So wird
seltsamer Kauz im dreibändigen „Etymologischen Wörterbuch des Deutschen“
allen Ernstes ins Ornithologische verwiesen, denn diese Wendung knüpfe „an
die zurückgezogene Lebensweise und das bei Tage unbeholfene Gebaren des
Vogels“ an. In Wirklichkeit steckt jiddisch kodesch darin, heilig! Die
Redensart ist nichts anderes als ein Synonym von ein seltsamer Heiliger.
Überhaupt die Vögel! Selbst den Kuckuck, der auf deinen besten Stücken
klebt, weisen die Deutschsprachler ins gefiederte Reich: „scherzhaft steht
der Name für den früher auf dem Siegel des Gerichtsvollziehers befindlichen
Wappenadler“. Irrtum! Dieser Kuckuck hat keine Federn, er kommt von
jiddisch chokak, zu deutsch eingegraben, bezeichnet.
Haargenau dieselbe Wappenadler-Erklärung finden wir bei Pleitegeier
angegeben. Sie ist, wie sie klingt: scheinbar naheliegend, doch krampfhaft
weit hergeholt. Wieder führt das Jiddische auf die richtige Spur: pleto
bedeutet Flucht, auch die Flucht des Schuldners vor seinen Gläubigern, als
Bankrotteur, und Geier ist die jiddische Aussprache von Geher.
Dafür, daß Pleitegeier selbst vom gemeinen Volk nicht mehr verstanden und
als Vogel aufgefaßt wurde, gibt es einen treffenden Beleg: In meiner
Jugendzeit nannte der Volksmund den zum Nazi-Symbol gestylten deutschen
Reichsadler Pleitegeier: Er hielt den Hakenkreuzkranz in den Klauen, das
Zeichen des drohenden Zusammenbruchs, das Schandmal.
Durchaus ornithologisch gibt sich auch: Du hast einen Vogel – dem Anschein
nach eine der deutschesten aller deutschen Redensarten. Nur eben: sie kommt
aus dem Jiddischen! Du haißt 'n weokal, zu deutsch: du bist ein völlig
Verdrehter. Im „Etymologischen Wörterbuch des Deutschen“ suchen wir
vergeblich nach dieser Ableitung. Dortselbst stoßen wir dagegen auf eine
reichlich verkrampfte Erklärung für Ölgötze: „vielleicht gekürzt aus
Ölberggötze für die am Ölberg schlafenden Jünger“. Schon Luther habe
gesagt: „da stehn wir wi di ol gotzen.“ Weiß Gott, da war der
Sprachgewaltige ganz nahe dran, zumindest dem Wortklang nach: Jiddisch ol
joez heißt hoher Rat. Das Bild des Politbüros, das steif vor Würde dem
DDR-Fernsehteam posiert, zum Fetisch erstarrtes Protokoll – Ölgötzen!
Zitat „Etymologisches Wörterbuch des Deutschen“: „Sauregurkenzeit f.
,ereignisarme Zeit‘, eigentl. ,Juli und August, die Zeit, in der die Gurken
reifen‘...“ Nein, meine Damen und Herren, in Wahrheit ist die geschäftlich
schlechte Zeit gemeint, abgeleitet von jiddisch zoro (Not) und joker
(schwer).
Nahe dabei liegt gib ihm Saures. Es geht auf jiddisch zoros zurück,
Feindseligkeiten. Auch hier ist die ursprüngliche Bedeutung den Sprechenden
nicht mehr bewußt. Ebenso bei dem doppelt gemoppelten frech wie Oskar, in
dem jiddisch ossok steckt, frech.
Noch ein paar überraschende Beispiele: es zieht wie Hechtsuppe – von
jiddisch hech supha (wie Sturmwind); auf der Palme sein – von jiddisch baal
allim (gewalttätiger Mensch); Schmiere stehen – von jiddisch schmiro
(Bewachung, Wächter). Und wenn der Feldwebel den allzu zivilen Rekruten
anbrüllt: Schlappschwanz, du bist bei mir Mode!, gebraucht er unwissend das
jiddische modia sein (bekannt machen).
Gleich drei Wörter für verprügeln fallen mir ein: Jiddisch taboch
(Schlächter, Koch, auch Scharfrichter) steckt in vertobaken, jiddisch simon
(Zeichen) in versimsen, Simse bekommen und jiddisch meanne sein (demütigen,
peinigen) in zur Minna machen.
Meanne gehört zu jiddisch inus, innes, deutsch: Qual, Leiden. Womit wir
auch bei der grünen Minna angelangt wären, mit der die Polizei dich in den
Knast karrt. Grün steht bei den Eingeweihten, den kleinen Dieben, den
Ganoven, den Knastbrüdern für unangenehm, nicht geheuer, auch unfertig –
hier gehört der grüne Junge hin. Und an jiddisch knas (Geldstrafe),
hebräisch qanas (strafen) erinnert Unangenehmes: verknasten, verknacken, in
den Knast kommen, Knastbruder, für den altgedient Entlassenen Knastologe.
Bei knast gibt selbst das „Etymologische Wörterbuch des Deutschen“ die
richtige, die jiddische Wurzel an. Bei Tasse dagegen finden wir als einzige
Bedeutung Trinkgefäß mit einem Henkel. Aber wieso verstehen wir dann unter
'ner trüben Tasse einen Doofen, einen geistig Minderbemittelten, einen
Versager? Jiddisch toschia hilft weiter. Klugheit, Verstand. An
Gehirnschmalz also mangelt es jenem, der nicht alle Tassen im Schrank hat.
Vielen Wendungen sieht man die jiddische Herkunft auf den ersten Blick an:
Reibach, Rebbach – von rewach (Zins); Schickse – von schickzo
(nichtjüdisches Mädchen); Tinnef – von tineph (Kot, Dreck, Unflat); schofel
– von jiddisch schophol, hebräisch šafal (wertlos, lumpig); meschugge – v…
meschuggo (verrückt).
Bei anderen vermutet sie niemand. Ein besonders schönes Beispiel ist
Sargnagel für Zigarette. Ein Raucher, darauf aufmerksam gemacht, jede
Zigarette sei ein Nagel zu seinem Sarg, antwortete: „Scheißegal, und wenn
mein Sarg wie ein Stachelschwein aussieht.“ Falsch, mein Lieber, jiddisch
sarchen ist deutsch stinken. So wird der Tabak zum sarcher und der
Glimmstengel zum sarchnagel – seines Gestanks und seiner Gestalt wegen.
Neuester Zuwachs: rote Socken. Ja gewiß, mit den Roten sind die Kommunisten
gemeint, die Betonköppe unter ihnen zumal. Aber wieso Socken? Jiddisch
soken ist der Bejahrte, der Greis! Na also: Rote Socken als Überrest von
DDR-Gerontokratie.
Schluß jetzt! Sonst falle ich Ihnen auf den Wecker, womit wir bei jiddisch
weochar angelangt wären: er hat sehr aufgeregt. Zuallerletzt noch jiddisch
tof, toffte, hebräisch tow, davon kommt Dufte Bienen, dufte Jungs – guten
Rutsch!1 Reimar Gilsenbach (Schriftsteller)
31 Dec 1992
## AUTOREN
reimar gilsenbach
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