# taz.de -- Reisetagebuch der taz on tour: Geschichten von der Straße | |
> Am Rande der taz.meinland-Auftaktdiskussionen entdecken und erleben wir | |
> Bemerkenswertes, hier die Randnotizen. | |
Bild: Drei Kilometer Rügenbrücke - für uns staufrei | |
Im Minibus schnattert es fröhlich durcheinander, Kollegin B. analysiert die | |
Reportage über Prora – unser Gesprächsthema heute Abend im | |
[1][Grundtvighaus in Sassnitz] – mit kritischem Blick, derweil sich Kollege | |
F. entzückt zeigt über die vorpommersche Landschaft. | |
Wenige Stunden später, während wir entlang der von Kanzlerin Merkel | |
persönlich eingeweihten, gut ausgebauten und viel befahrenen Autobahn die | |
Insel überqueren, ist es leiser geworden. Die Landschaft jedoch bleibt | |
entzückend. Rügen ist grün und ordentlich. Auf den ersten Blick wirkt alles | |
intakt. So, sind wir uns einig, sieht es nicht aus in einem Wahlkreis, wo | |
sich rechte Parteien hohe Wahlergebnisse ausrechnen dürfen. Und, wie um | |
diese Feststellung zu untermauern, taucht das erste großformatige | |
AFD-Wahlplakat am rechten Fahrbahnrand auf – beschmiert. | |
Im Grundtvighaus werden wir bereits mit Kaffee erwartet, ein „Runder Tisch“ | |
mit weißem Tischzeug ist im alten Saal des ehemaligen Pfarr- und heute | |
alternativen Veranstaltungs-, Kino- und Konzerthauses auch schon | |
hergerichtet. Die hölzerne Bühne am Ende des Raumes bleibt – so will es | |
unser Veranstaltungskonzept – verwaist. | |
Mittagessen zum Solipreis | |
Anfangs traf dies noch auf das gesamt Haus zu. Die Bevölkerung mied es | |
aufgrund seiner kirchlichen Entstehungsgeschichte, erzählt uns Jörg Piecha, | |
der das Mehrgenerationenprojekt zusammen mit einem kleinen Team führt. | |
Heute gibt es hier morgens und mittags Essen zu solidarischen Preisen. | |
Das Nachtlager findet sich im Grundtvighaus selbst, unter dem Dach werden | |
drei liebevoll mit antiken Möbeln eingerichtete Ferienzimmer – mit | |
Meerblick! – bezogen. Kollege W. und Kollege J. teilen sich die | |
Hochzeitssuite, ein drittes Bett, welches traditionell dem Trauzeugen | |
vorbehalten ist, (so erklärt es wenigstens der Hausherr) bleibt leer. | |
KollegInnen W. und K. hängen taz-Banner an den Zaun und über die Bühne, | |
legen Zeitungen aus und richten ein Tischlein mit Aboflyern her, | |
schließlich wollen sie berufsbedingt die Gelegenheit nutzen, hier auf Rügen | |
für die taz Werbung zu machen. Kollege F. shoppt Badetextilien, der Strand | |
ist schließlich nicht weit. | |
Das gemeinsame Abendessen nach der Diskussion können wir an diesem für die | |
Ostsee untypisch lauen Abend draußen genießen. Zu Fisch aus der Region | |
lassen wir die Diskussionsrunde Revue passieren und fachsimpeln über – was | |
sonst – die Chancen der AFD. | |
Zum Baden an den KdF-Strand | |
Am nächsten Morgen unternimmt die Eventabteilung einen Strandausflug nach | |
Prora, während die Herren Redakteure arbeiten müssen – Nachberichte | |
schreiben. Kollege W. sieht Prora zum ersten Mal. Der mehrere Meter hohe | |
Rohbau der überdimensionierten Kraft durch Freude-Anlage, der sich über 4 | |
Kilometer in unmittelbarer Nähe zum Ostseestrand erstreckt, ist fast | |
vollständig eingezäunt. Der unsanierte Block IV wirkt aber auch von außen | |
imposant, fremd und lieblos. Am Sandstrand treffen wir nur wenige Badegäste | |
bei strahlendem Sonnenschein, 19 Grad kühles Wasser ist dann doch | |
ostseetypisch erfrischend. | |
Wir machen uns auf den Weg nach Güstrow, biegen auf halber Strecke aber | |
nach Norden auf die Darßer Halbinsel ab: Die Eltern von Kollegin K. haben | |
zum Mittagstisch geladen. In einer kleinen Reihenhaussiedlung hinter dem | |
Bodden tischt uns Frau K. köstlichen Kartoffelsalat, selbst gemachte | |
Bouletten, Spiegeleier und Würstchen auf. | |
Die Weiterfahrt durch Vorpommern führt über schlecht asphaltierte | |
baumbestandene Straßen u.a. am Grab von Kollegin K.‘s Urgroßmutter vorbei, | |
doch neben aller Familienfolklore machen wir uns langsam Gedanken, was uns | |
wohl in Güstrow erwartet. In einem rechtsradikalen Forum wurde gegen die | |
Veranstaltung gehetzt – wie gehen wir denn um mit Rechtsradikalen, die | |
möglicherweise kommen, um zu stören? | |
Kein brauner Besuch | |
Kollege W. informiert die örtliche Polizei, die haben uns „schon auf dem | |
Schirm” und geben uns die direkte Durchwahl zum Streifenwagen, kann ja | |
nichts mehr passieren jetzt. Kollegin K. guckt sich trotzdem wachsam vor | |
dem Haus der Kirche nach „Nazistrauchdieben“ (Zitat Herr F.!) um, es kommen | |
aber keine, und das freut uns irgendwie alle. | |
Stattdessen kommen peu a peu die ersten Gäste und schlängeln sich vorbei an | |
spielenden Kindern, die im Haus der Kirche ihre Ferienfreizeit verbringen, | |
Richtung Saal 5. Der Kinderbetreuer, Mitte 30, groß und mit tiefer Stimme, | |
schickt die 8- bis 12-Jährigen mit strengen Worten aus dem Treppenhaus, | |
bevor er sich mit ernstem Blick bei uns erkundigt, mit wie vielen braunen | |
Gästen wir rechneten. | |
Statt Nazis kommen freundliche und interessierte Menschen jedweden Alters. | |
Schon bald brauchen wir zusätzliche Stühle aus der Kammer. Sie alle, das | |
wird schnell deutlich, sind besorgt um ihre Region, die sie nicht den | |
Neonazis überlassen wollen, die aber auch so viel mehr ist als rechtes | |
Rückzugsgebiet. Er habe schon diverse Male sein taz-Abo gekündigt, weil er | |
die Berichterstattung zu eindimensional und vorurteilsbelastet empfunden | |
habe, meldet sich ein Zuhörer. | |
Als wir zwei Stunden später mit 160 Km/h und bedenklich leerem Tank auf der | |
Autobahn sind, ist unser Auto voll besetzt. 9 Leute – die Maximalzahl | |
übrigens, wenn man über keinen Sonderführerschein verfügt – haben sich auf | |
die drei Reihen des Vitos verteilt und diskutieren lärmend. Fühlt sich an | |
wie ein Klassenausflug. An der Tankstelle dauert es lange, bis alle | |
Zigaretten geraucht, alle Getränke gekauft und Notdurften verrichtet sind. | |
Ziemlich genau um 0.30 Uhr ist das Auto dann abgegeben und das Taxi nach | |
Hause bestellt. Es ist schön zurück zu sein, sagt Kollegin S. Es war aber | |
auch schön unterwegs. | |
ANDREA KADEN und JAKOB WERLITZ, Organisation taz on tour | |
7 Sep 2016 | |
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[1] http://www.grundtvighaus.de/ | |
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