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# taz.de -- Neue Heimat Wendland: Integration statt Endlager
> Wo einst die Castoren rollten, leben nun Geflüchtete. Vor Ort hilft man
> ihnen, wo man kann. Wir haben Geflüchtete und HelferInnen besucht.
Bild: Heimat – pur. Schaufensterdeko im Danneberger Café Zuflucht
Protest, Eigeninitiative und alternative Lebensweisen: Dafür steht das
Wendland. Der jahrzehntelange Kampf gegen das Atommülllager Gorleben zog
Revoluzzer*innen und Linksalternative in den Landkreis; auch nach
Dannenberg. Die alten Kämpfer*innen haben sich ein neues Ziel gesetzt:
Geflüchteten eine neue Heimat bieten; sie als Bürger*innen behandeln.
Nichtdeutsche kennen die meisten der 8000 Bewohner Dannebergs, einem
kleinen Städtchen in Niedersachsen an der Elbe, eher aus Fernsehen und aus
dem Urlaub, als aus der Heimat. Dannenberg sieht aus, wie man sich eine
niedersächsische Dorfidylle vorstellt: Fachwerkhäuser in langer Kette an
der Hauptstraße entlang aufgereiht, eine Kirche, ein paar Imbisse und
Cafés, ein Dönerladen. Hier kennt jeder jeden. Ausländeranteil: Fast null.
## Freiwillige nehmen die Sache in die Hand
Das hat sich im vergangenen Jahr schlagartig geändert: Einige hundert
Geflüchtete leben nun in Containern, in denen ehemals Polizisten
nächtigten; an den Gleisen, auf denen einst die Castoren rollten. Die
Aufgabe, die Geflüchteten zu unterstützen und ihnen beim Ankommen in
Deutschland zu helfen, haben viele der Einwohner*innen selber in die Hand
genommen: Sie gründeten eine Solidaritätsinitiative, die im „Café Zuflucht…
ihre Basis hat.
Ehrenamtliche Lehrer bieten dort kostenlos Deutschkurse an, andere helfen
beim Ausfüllen von Formularen und organisieren Freizeitangebote wie Näh-
und Malkurse. Einmal in der Woche kochen alle zusammen in der kleinen Küche
des Cafés. Die Zivilgesellschaft füllt hier die Lücken, die staatliche
Integrationspolitik offen lässt.
Zugegeben, die Zivilgesellschaft in Dannenberg-Lüchow ist durch die
jahrzehntelangen Proteste gegen das Atommülllager Gorleben eng verschweißt.
„Wir sind eigentlich alle immer schon politisch aktiv gewesen“, erzählt
Ingrid Helene, eine Frau um die 70, die nach der Wende selbst ins Wendland
„floh“. „Früher war es die Anti-AKW-Bewegung, heute sind es Geflüchtete…
die man sich kümmert.“
Begonnen hat alles mit einem Fest, dass die Dannenberger zusammen mit den
Neubürgern organisierten. Ein erster Kontakt, der schnell zu viel mehr
führen sollte. „Das Fest war zwar toll, aber das kann noch nicht alles
gewesen sein!“ erklärt Klaus Zimmermann. Der rüstige 75jährige trägt einen
braunen Lederhut mit Feder und ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Klaus -
Café Zuflucht“. Sein freundliches Gesicht und die ruhige, offene Art geben
ihm das Auftreten eines liebevollen Großvaters. Ein fester Treffpunkt
musste her. Aus der Idee entstand sehr schnell ein handfestes Projekt: Das
Café Zuflucht.
## Sprachen und Lachen
Geht man durch die Tür ins Café hinein, fällt gleich auf, wie herzlich und
offen die Menschen hier miteinander umgehen. Im lautem deutsch-arabischen
Sprachengewirr sitzen Neubürger*innen zusammen mit Dannenberger*innen. Es
wird gelacht, einige Kinder laufen im Gewusel umher. Die Verständigung
funktioniert vor allem über die brüchigen Deutschkenntnisse der neuen
Dannenberger*innen. Klappt das nicht, hilft man sich hier mit broken
English.
Aus dem Café entstand auch eine Kreativwerkstatt. Gemeinsam mit
Dannenberger*innen nähen geflüchtete Frauen an laut ratternden Maschinen
aus bunten Stoffresten Vorhänge, Kissenbezüge und kleine Taschen. Begonnen
hat es mit einer kleinen Nähecke im Café; mittlerweile hat die Werkstatt
eigene Räume, die sie mietfrei nutzen kann. Es geht darum, zusammen zu
arbeiten, Spaß zu haben und etwas zu erreichen. Gemeinsame Erfolge
verbinden.
Das Café ist vor allem ein Treffpunkt, die Betreiber*innen sind
Anlaufstelle für kleine, manchmal auch größere Probleme. Die Geflüchteten
werden hier an die Hand genommen, in die Dorfgemeinschaft integriert – sei
es beim Gang zum Arzt, oder dass eine Neudannenberger*in ein Fahrrad
braucht. Schnell findet sich jemand, der jemanden kennt, der weiterhelfen
kann.
Doch ist das Café Zuflucht keineswegs das einzige Projekt der Dannenberger
Community. Auch die Notunterkunft in den alten Polizeikasernen wird von
ihnen mit Klamotten, Spielzeug, Fahrrädern usw. unterstützt. Zimmermanns
neuestes Projekt: Eine Mukkibude für die Notunterkunft. „Damit die ganze
Energie abgelassen werden kann“ sagt Klaus; konstruktiv, versteht sich. In
einer Lagerhalle der Notunterkunft hat er aus Holzplatten einen
abgegrenzten Raum gebaut, in dem Geflüchtete Tischtennis spielen, auf
Boxsäcke eindreschen und an Fitnessgeräten „pumpen“ können.
Die Geräte kamen als Spende über Bekannte zusammen. Einer richtet alte
Fahrräder für Geflüchtete her, ein Anderer hat eben noch Hantelbank und
Boxsack Zuhause rumstehen. „Es gibt hier so eine inoffizielle
Infrastruktur. Viele Leute, investieren sehr viel Zeit“, berichtet Ingrid.
## Eine Chance für die Region
Das Engagement von Zimmermann und Co. ist ein full-time Job. Zeit haben sie
genug, viele von ihnen sind bereits in Rente und haben nun auch selbst eine
neue Passion gefunden. Die Initiative zeigt, dass Kontaktaufnahme beide
Seiten bereichert. Und die Fürsorge der Dannenberger*innen wird sich
auszahlen – nur wenn sich die Geflüchteten hier wohl fühlen, werden sie
bleiben und arbeiten.
Zwar gibt es wenig Arbeit, viele Schaufenster sind leer, der Landkreis
Dannenberg-Lüchow ist hochverschuldet. Die Jugend verlässt die Gegend nach
der Schule, zum Studieren oder Arbeiten und kehrt nur selten zurück. Die
neuen Bürger*innen sind auch ihrerseits eine Chance, nämlich dafür, die
Kaufkraft und damit die Wirtschaft der Region zu stärken. Mehr Leute, mehr
Arbeit.
Das Gelingen von Integration hängt von Einzelpersonen ab. Ohne die
Mobilisierung durch die alt-linken Atomkraftgegner wäre auch in Dannenberg
noch tiefster Integrationswinter. Die Freiwilligen sehen ihr Engagement
aber nicht als besondere Ausnahme – für sie ist es selbstverständlich. „W…
sind alles Menschen, haben alle dasselbe Herz“, sagt Zimmermann.
Doch gibt es nicht überall Menschen wie Klaus oder Ingrid, die diese
Pionierarbeit leisten. Die Wendland-Community ist etwas ganz besonderes.
Ihre Arbeit zeigt aber auch, dass Geflüchtete sehr schnell zu einem Teil
der Gesellschaft werden können, wenn man sie lässt. Integration ist ein
Prozess, der von beiden Seiten Offenheit und Interesse aneinander verlangt.
Text: [1][LUIS WILLIS], Redakteur des taz.lab, Fotos: [2][MARION
BERGERMANN], Redakteurin des taz.lab
29 Mar 2016
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## AUTOREN
Luis Willis
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