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# taz.de -- Soziologe Harald Welzer im Gespräch: Gehört Pegida ignoriert?
> Sind wir in der Krise? Harald Welzer redet ganz analog über die offene
> Gesellschaft und darüber, warum Deutschland so verspannt ist.
Bild: Gar nicht so relevant? Die aktuell bekannteste deutsche Brett-vorm-Kopf-B…
taz: Herr Welzer, unsere These lautet: Wir leben in einer guten
Gesellschaft, die wir uns selber errungen haben. Stimmen Sie zu?
Harald Welzer: Ja. Die Willkommenskultur funktioniert. Das, was wir im
Spätsommer gesehen haben und was bis heute anhält, ist eine Geschichte des
Gelingens: dass es in diesem Land vermocht wurde, eine Bürgerschaft zu
etablieren, die für die offene Gesellschaft nicht nur verbal eintritt,
sondern sie auch lebt. Auch die ganzen angeblichen Ängste muss man in
Relation setzen. Wovor haben die Leute denn Angst? Also, wenn ein
Atomschlag stattgefunden hätte oder die Pest zurückgekehrt wäre, okay. Aber
wie diese – aus Verwaltungsperspektive – große Zahl von Menschen doch in
den meist funktionierenden Kommunen gehändelt wird, ist faszinierend. Alles
eher Nichtkrise als Krise.
Weshalb verneinen Sie die Idee der Krise: Tragen moderne Gesellschaften
Krise als Antriebsstoff nicht immer in sich?
Die Flüchtlingszuwanderung ist keine Krise, sondern Teil eines
fundamentalen Gestaltwandels: von Kapitalismus zu etwas anderem. Eine Krise
ist sie deswegen nicht, weil sie nicht verschwinden wird. Es wird ja
absehbar keine Fluchtursache entfallen, im Gegenteil. Was wir gerade an
vielen Phänomenen sehen, ist, dass 30 Jahre Neoliberalismus eine radikal
zerstörerische Bilanz hinterlassen.
Zum Beispiel?
Nun: Zweite-Generation-Terrorismus, fehlende Bildungsprogramme, prekäre
Beschäftigung, zurückgefahrener sozialer Wohnungsbau. Man kann das auch
umdrehen und sagen: Alles, was an unseren Gesellschaften problematisch ist,
ist auch problematisch ohne die Flüchtlingsfrage. Es gibt also eine Chance
der Repolitisierung dessen, wie unsere Gesellschaft eigentlich sein soll.
Eine Krise zeichnet sich dadurch aus, dass man davon ausgehen kann, sie
irgendwann zu überwinden. Das wird aber nicht überwunden. Was ganz anderes
ist das Phantasmagorische, das im Moment die Diskussion kennzeichnet.
Wie meinen Sie das?
Wenn man die Friedrichstraße in Berlin runtergeht, drängt sich das
Flüchtlingsthema ja nicht wirklich auf. Kann es auch nicht, bei etwas über
einem Prozent Bevölkerungszuwachs. Das ist ja das Absurde. An den Hotspots
wie Flensburg oder in Passau gibt es Sichtbarkeiten, auch dort, wo Heime
sind. Aber dieses Phantasma, das ist was völlig anderes. Das hat viel damit
zu tun, wie das Thema parteipolitisch instrumentalisiert wurde. Und mit
einer überraschend unglücklichen Rolle vieler Medien.
Wie lässt sich das ändern?
Wir haben mit der Debattenaktion „Welches Land wollen wir sein?“ versucht,
aus den Medien rauszugehen: Wir diskutieren analog, basisdemokratisch,
total klassisch. Heute ist die Zeit dafür, dass Leute miteinander reden.
Und funktioniert das?
Es haben jetzt 10.000 Leute daran teilgenommen. Die Diskussionen dort sind
überhaupt nicht hysterisch. Es gibt eine Abkoppelung zwischen dem, was die
Leute beschäftigt, und dem, was in den Medien zu lesen ist – immer
dazugesagt, dass wir ein spezielles Publikum haben, sehr wenig Pegidisten.
Vor allem ist mir im Moment die Medienlandschaft ein komplettes Rätsel. Ich
lese im Zug immer die Bild und denke: Gott sei Dank gibt es die noch. Die
machen bei der Negativpropaganda nicht mit. Im Gegensatz zu anderen. Die
bürgerliche FAZ etwa dreht total durch.
Die Linke erwartet ja traditionell, dass man politische Kämpfe verliert.
Woher kommen nun die Leute, die sagen: „Wir werden vor den Rechten nicht
klein beigeben“?
Ich nenne es deep memory: Es gibt in diesem Land kaum eine Familie ohne
Flüchtlingserfahrung. Das erzeugt eine Identifikation, besonders bei den
älteren Generationen. Es ist auch ein intergenerationelles Thema. Und es
ist merkwürdigerweise gelungen, diese Gesellschaft tatsächlich zu einer
offenen demokratischen Gesellschaft zu machen. Natürlich auch durch
entsprechenden Wohlstand. Aber immerhin. Da hat was funktioniert als
Gesellschaft.
Sollte man der Pegidaströmung nicht viel weniger Verständnis
entgegenbringen?
Pegida an sich war ein lokales Phänomen. Diese Leute hätte man einfach von
Anfang an ignorieren müssen. Die AfD, die im Kern auf derselben
Menschenfeindlichkeit reitet, ist leider etwas, was man nicht mehr so
einfach ignorieren kann. Aber heißt das im Umkehrschluss, dass man jeden
gedanklichen oder mündlich vorgetragenen Furz von Menschen, die man vor
zwei Wochen noch nicht kannte, zum Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit
machen muss? Das ist der Klassiker der politischen Psychologie, dass man
auch aus der kritischen Position heraus die Leute hochschreibt.
Worauf kommt's wirklich an?
Darauf, dass diejenigen, deren Großeltern von woanders hergekommen sind,
auf ihre nachhaltigen Ausgrenzungserfahrungen hinweisen. Deutschland ist ja
das einzige Land, wo es den Begriff „mit Migrationshintergrund“ gibt. Warum
muss man denn so ein Begriffsmonstrum auf höchstem Abstraktionsgrad
erfinden? Oder „aus bildungsfernen Schichten“. Weil man nicht darüber
sprechen mag, dass es Armut und Ungleichheit gibt, erfindet man solche
Verspannungsbegriffe. „Mit Migrationshintergrund“ bedeutet:
„Entschuldigung, ich habe Schwierigkeiten, zu akzeptieren, dass jemand von
woanders herkommt, weiß aber, dass ich das so nicht sagen darf.“ Also kommt
man mit solchen sozialpädagogischen Begriffen, die die Wirklichkeit
unsichtbar machen.
Das Interview führten [1][MAREIKE BARMEYER] und [2][JAN FEDDERSEN].
10 Feb 2016
## LINKS
[1] /Mareike-Barmeyer/!a19031/
[2] /Jan-Feddersen/!a76/
## AUTOREN
Mareike Barmeyer
Jan Feddersen
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