# taz.de -- Die Zeit des Boris Jelzin | |
> Einen langen Blick auf Rußlands Staatschef wirft in Moskau ■ Barbara | |
> Kerneck | |
So richtig geschnackelt hat es bei mir nie, wenn er auftrat. Aber ist das | |
Boris Nikolajewitsch Jelzins Schuld? Also, ich mochte ihn von Anfang an. | |
Genaugenommen nicht ihn persönlich, sondern seine Haltung gegenüber dem | |
Volk und für das Volk, das ihn sich ausgesucht hatte. Als erster Parteichef | |
von Moskau war er seinerzeit schon eine Art achtes Weltwunder: ein | |
kommunistischer Funktionär, der die Ideale des Kommunismus ernst nimmt. | |
So etwas hatte die ganze östliche Halbkugel seit Jahrzehnten nicht mehr | |
gesehen: er fuhr Straßenbahn, um zu sehen, wie sich das anfühlt; stand | |
inkognito Schlange und achtete an den Hinterfenstern der Läden darauf, ob | |
dort auch nichts fix verschoben wurde, während seine Beamten zur Vordertür | |
hereinkamen. „Haschen nach billiger Popularität im Volke“, nannte sich das | |
im KPdSU-Jargon. | |
Als Boris Nikolajewitsch es dann auch noch wagte, Generalsekretär Michail | |
Gorbatschow anläßlich von dessen Lobeshymne auf den 70sten Jahrestag der | |
Oktoberrevolution der Schönfärberei zu bezichtigen und bald darauf seine | |
ZK-Mitgliedschaft auf dem Oktoberplenum 1987 demonstrativ niederzulegen – | |
da flog er flugs von seinem Moskauer Parteichef- Posten. | |
Zu seinem sechzigsten Geburtstag im Februar 1991 schenkte ihm der Patriarch | |
der russisch-orthodoxen Kirche, Alexej II., eine Ikone mit den beiden | |
russischen Nationalmärtyrern Boris und Gleb. Mit geistherrlichem Scharfsinn | |
hatte der Oberhirte erkannt, daß erst das Märtyrertum es war, das den | |
Russen Jelzin so recht ans Herz wachsen ließ. Die beachtliche Reihe von | |
Auto- und Flugzeugunfällen, die der Ex-Parteichef von Moskau nach seiner | |
Absetzung erlitt, legt den Verdacht nahe, daß sich dahinter der eine oder | |
andere maskierte Anschlag verbarg. | |
Hinzu kommt eine Episode im Herbst 1987, als Jelzin, wie er in seinen | |
Memoiren schildert, in einem „Zustand zwischen Leben und Tod“ in der | |
Kreml-Klinik lag. Vorher hatte er aus Protest seine ZK-Mitgliedschaft | |
niedergelegt. Nun klingelte im Krankenhaus das Telefon: Michail Gorbatschow | |
zitierte den mit Drogen vollgepumpten, reaktionsunfähigen Jelzin zur | |
Zeremonie seiner eigenen Absetzung und setzte ihn dem öffentlichen Hohn der | |
Parteigenossen aus. Boris Nikolajewitsch bezeichnete diese Episode später | |
als „einem echten Mord ähnlich“. | |
Die Wahlen zum Obersten Sowjet der UdSSR im Jahre 1989 hatten für das | |
Selbstbewußtsein der russischen Bürger keine geringere Bedeutung, als | |
später die Niederschlagung des August-Putsches von 1991. Erstmals durften | |
die BürgerInnen einen gewissen Prozentsatz nicht von der Partei | |
vorgeschriebener KandidatInnen aufstellen. Diese Möglichkeit verteidigten | |
sie mit zäher Energie. | |
Das tat auch die Moskauer Wählerorganisation MOI, die ihren ureigensten | |
Kandidaten, Boris Nikolajewitsch Jelzin, mit unermüdlichem Einsatz | |
unterstützte. Hunderte von Hausfrauen, Rentnern und Studenten waren den | |
ganzen Winter lang zu Fuß durch Schnee und Eis, in überfüllten | |
Verkehrsmitteln, ja sogar mit Krücken unterwegs gewesen, um die Aufstellung | |
Jelzins zu sichern. | |
Als ich bereits im März jenes Jahres mit zwei Freunden aus der MOI in den | |
trostlosen Trabantenvorort Otradnoje zu einem Versammlungslokal fuhr, in | |
dem bereits die Überwachung der Auszählung besprochen werden sollte, | |
erlebten wir eine böse Überraschung: die beiden Zimmer waren buchstäblich | |
bis auf das letzte Stuhlbein zertrümmert, keine Fensterscheibe, die heil | |
geblieben wäre, kein Bild, das nicht aus dem Rahmen gerissen war. „So | |
zeigen uns unsere Gegner immer mal wieder, wes Geistes Kind sie sind“, | |
kommentierte mein Begleiter. | |
## Stalins Terror traf auch Jelzins Familie | |
Am Morgen des 27.März 1989 war es soweit: Der 58jährige Boris Jelzin hatte | |
89 Prozent der Moskauer Stimmen für sich verbucht. Die Russen hatten mit | |
einer beispiellosen Willensanstrengung der Welt demonstriert, daß es keine | |
Regel ohne Ausnahme gibt. Die Regel lautet: In totalitären Machtstrukturen | |
entsprechen auch bei formal freier Wahlmöglichkeit die Resultate den | |
Wünschen derer, die am effektivsten mit Gewalt drohen – und sei es nur mit | |
dem Entzug der seit Jahren angestrebten Kooperativen-Wohnung. | |
Erst am 30.September veröffentlichte die Komsomolskaja Prawda Akten der | |
Tatarischen OGPU aus Kasan, aus denen hervorgeht, daß auch Jelzins Familie | |
während des stalinschen Terrors zu den Entrechteten und Enteigneten | |
gehörte. Jelzins Vater, Nikolaj Ignatewitsch, und dessen jüngerer Bruder | |
kamen 1932 aus dem Dorf Butka im Ural als Zimmerleute auf eine | |
Fabrikbaustelle in diese Stadt. Großvater Ignat hatte zwei Mühlen und eine | |
Handvoll Pferde besessen, zählte also zur verfolgten Klasse der Kulaken. | |
Als die Brüder Jelzin 1934 zu drei Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurden, | |
spielte dies eine Rolle. Der Anklage zufolge hatten sie lose Reden geführt | |
und verkündet, daß die Sowjetmacht die Werktätigen unterdrücke. Als der | |
Vater die Frist abgesessen hatte und Boris schon fünf war, zogen die Eltern | |
ihr Hab und Gut selbst auf einem Karren von Butka nach Swerdlowsk. Dort | |
hausten sie mit Boris und dessen jüngerem Bruder und seiner Schwester | |
jahrelang im winzigen Raum einer unheizbaren Baubude. | |
Von der dickschädeligen Natur des Vaters scheint Boris einiges geerbt zu | |
haben. Zu Kriegsbeginn verlor er zwei Finger der linken Hand: er hatte eine | |
scharfe Granate geöffnet, „um zu gucken, was drin ist“. Der Drang, | |
auszuprobieren, wieweit er in die einmal gewählte Richtung gehen kann, hat | |
Boris Nikolajewitsch noch einige Male fast das Leben gekostet. Kritiker | |
werfen ihm heute vor, in seine hausgemachten Abenteuer auf Leben und Tod | |
ein ganzes Volk mit hineinzuziehen. | |
Tatsächlich aber ist unter Jelzin als Präsident bis zu diesem Oktober in | |
Rußland kein Blut vergossen worden. Angesichts der sozialen Situation des | |
Landes und seiner Nationalitäten-Konstellation grenzt dies an ein Wunder. | |
Dahinter steht ein gigantischer Aufwand an Kabinetts-Equilibristik. | |
Ein weiser Verzicht auf Imponiergehabe – man denke nur an Gorbatschows | |
Aufrufe an die Russen vor den blutigen Ereignissen im abtrünnigen Litauen | |
1991: es sei „Zeit, die Schützengräben zu verlassen“ – und ein Verzicht… | |
die von der alten UdSSR-Spitze so selbstverständlich praktizierte „Teile | |
und herrsche“-Politik. | |
„Sie können sich nicht vorstellen, wie oft bewaffnete Auseinandersetzungen | |
in meinem Kabinett verhindert worden sind“, erzählte mir kürzlich Jelzins | |
einstige Beraterin für Nationalitätenfragen, Galina Starowojtowa. Auch der | |
in diesem Herbst praktizierte schlaue und nicht wirkungslose Plan, die | |
Deputierten durch ein großzügiges Arbeitsbeschaffungsprogramm einfach aus | |
dem letzten Obersten Sowjet Rußlands „herauszukaufen“, ist typisch für | |
Boris Jelzin. | |
Und wenn jetzt in Rußland doch Blut vergossen wurde, so wollen wir doch | |
ordnungshalber festhalten, wer damit angefangen hat: nämlich jene Kräfte, | |
die schon immer dazu bereit waren, dieselben, die während des Wahlkampfes | |
im März 1989 die schäbigen kleinen Versammlungslokale der MOI in Otradnoje | |
und anderswo so brutal zertrümmerten. | |
Am entscheidenden Wahlmorgen im Herbst 1989 saß ich am Jelzinschen | |
Küchentisch in der geräumigen, sehr schlicht eingerichteten Stadtwohnung in | |
der staubigen Gegend um den Moskauer Weißrussischen Bahnhof. Dort lebt das | |
Ehepaar Jelzin mit Tochter Tanja, einer verschmitzten Mathematiklehrerin | |
und deren Sohn Boris, heute schon ein Teenager. Ihr Umgangston erschien mir | |
als der einer „modernen“ Familie, in der alle Mitglieder demokratisch die | |
anstehenden Fragen erörtern. Nur daß der Vater offenbar nicht über viel | |
freie Energie verfügte, um sich in die Erörterung häuslicher | |
Angelegenheiten zu vertiefen. | |
Zu Besuch kamen die ältere Tochter Jelena, Bauingenieurin, und | |
Schwiegersohn Valeri mit den beiden forschen Enkelinnen Mascha und Katja | |
(heute 9 und 13). Katja ließ zur Begeisterung der ganzen Familie vor dem | |
Wahlgang symbolträchtig eine Maus frei. Das Wort führten Tatjana und Naina | |
Jossifowna. Sie kommentierten die politische Situation und beklagten sich | |
über die Hetze der Massenmedien. | |
Dies war einer der Anlässe, bei denen sich die ganze Familie zusammenfand, | |
„wie immer, wenn wir uns gegenseitig beruhigen müssen“, wie der 40jährige | |
Kapitän der Zivilluftfahrt, Valeri Okulow, kürzlich in einem Interview mit | |
der Komsomolskaja Prawda äußerte. | |
## Gefährliches Zögern und wachsende Korruption | |
Viele Jahre lang quälten den heutigen russischen Präsidenten von der | |
Wirbelsäule ausstrahlende Kopf- und Rückenschmerzen als Folge seines | |
Engagements als Volleyball-Spieler in der Jugend. Im Frühjahr 1990, während | |
einer Spanien-Reise, nahmen sie nach einer Flugzeug-Havarie unerträgliche | |
Formen an. In diesem Sommer brach das Leiden erneut aus. Letzte | |
Fernsehaufnahmen zeigen Jelzin jedoch wieder beim Tennisspiel. | |
Wann immer die Spekulationen über den Gesundheitszustand des russischen | |
Staatsoberhauptes in der internationalen Presse aufleben, sind Mutmaßungen | |
über seinen Alkoholkonsum nicht fern. Die Russen stört dies kaum. Sie | |
rechnen fest damit, daß Jelzins Kräfte um ein Vielfaches wachsen und er | |
präsent ist, sobald es gilt, sich in einer Krise zu bewähren. Voll | |
bestätigt hat diese Annahme der August-Putsch 1991. | |
In jenen Tagen hat Jelzin ein einziges Mal gezögert: am Morgen des | |
19.August. Damals drängten ihn seine Berater, sich zum Oberbefehlshaber der | |
russischen Armee zu deklarieren. In der selben Frage zeigte er auch in | |
diesem Oktober wieder eine entscheidende Schwäche. Er entschied sich spät, | |
als es darum ging, die Armee zur Hilfe gegen die Marodeure zu rufen, die | |
den Fernsehsender Ostankino und das Bürgermeisteramt stürmten. | |
Hinter diesem Zögern steht wohl das Wissen um die Natur dieser Armee, die | |
sich in zwei Jahren eines von Einmischungen von außen fast freien Daseins | |
auf ihrem Weg zu einer Organisationsform mit zahlreichen kriminellen | |
Charakterzügen weiterentwickelt hat. Eine Vogel-Strauß-Politik in dieser | |
Frage könnte dem russischen Präsidenten in Zukunft zum Verhängnis werden. | |
Auf Grenzen stößt das Verständnis des russischen Volkes für seinen | |
Staatschef, wenn sich die klebrige Schicht von Bürokraten um ihn wie ein | |
dichter Ring schließt, die zu bekämpfen der Drachentöter einst antrat. So | |
waren Anfang des Jahres gewisse Kreise im Kreml dazu übergegangen, | |
Interviews mit ihm und Pressematerialien gegen Geld zu verkaufen. Und in | |
den Korruptionswirren dieses trüben Sommers hat sich die Unterscheidung | |
zwischen „ihrer Korruption“ – die der Angehörigen des Parlamentes – und | |
„unserer Korruption“ – innerhalb der Regierung – in seine Praxis | |
eingeschlichen. | |
Falls Jelzin nicht mehr für elementare Gerechtigkeit einzutreten vermag, | |
kann er auch mit dem Versprechen der Demokratie nur noch verlieren. | |
Boris Jelzin wird ein phänomenales Gedächtnis nachgesagt. Sein | |
Schwiegersohn berichtet, er habe einer Wette halber einmal Puschkins Roman | |
in Versen „Jewgenij Onegin“ auswendig gelernt. Als Tugend wird dem heutigen | |
russischen Präsidenten zudem gern die Fähigkeit und Bereitschaft | |
beschieden, von seinen Beratern zu lernen. | |
„Das ist mein Präsident“, schrieb der Kabarettist Michail Schwanezki in | |
Moskau News, nachdem Boris Jelzin am 21.September das Parlament aufgelöst | |
hatte. Und nach einer Philippika gegen Jelzin, der sein Vertrauen als | |
Wähler nach dem April-Referendum nicht zu nutzen verstanden habe, schließt | |
Schwanezki: „Aber er ist meiner, ob groß und gesund oder lahm und schief, | |
ob nüchtern oder betrunken... Meiner ungeteilten Unterstützung kann er | |
sicher sein. Aber unsere Zeit teilen wir nicht. Seine verfließt schneller.“ | |
15 Oct 1993 | |
## AUTOREN | |
barbara kerneck | |
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