# taz.de -- Ein paar Präservative für die Babuschka | |
> Abtreibungen zählen in Rußland zu den geläufigen Methoden der | |
> Empfängnisverhütung. Erst seit drei Jahren existieren Beratungsstellen in | |
> Moskau ■ Von Barbara Kerneck | |
Ich selbst erinnere mich ja nicht so genau daran“, erzählt die Moskauer | |
Gynäkologin Margarita Sinjawskaja: „aber meine erwachsene Tochter | |
behauptet, sie habe als Kind zuerst das Wort Abtreibung sagen können.“ Wir | |
sitzen mit der dunkelhaarigen Philosophin Natalja Grigorjewa im | |
proletarischen „Kulturhaus“ gleich an der „Straße der Wahrheit“. In dem | |
Haus mit den schiefen Fußböden und abgerundeten Treppenstufen hat sich das | |
Projekt „Rußland 01“ eingemietet, für das die Frauen arbeiten. Eine | |
Familienplanungsinitiative – speziell für russische Frauen. | |
Die ärztliche Leiterin Margarita Sinjawskaja war früher Chefin einer | |
gynäkologischen Klinik. Dort verbringen in Rußland Ärzte und Ärztinnen etwa | |
die Hälfte ihrer Zeit mit Abtreibungen. Bis 1966 waren bei solchen | |
Eingriffen grundsätzlich keinerlei schmerzstillende Maßnahmen erlaubt. Auch | |
heute müssen sich Frauen dabei häufig Spötteleien des medizinischen | |
Personals gefallen lassen. Im Durchschnitt läßt die russische Frau sieben | |
bis acht Abtreibungen im Leben vornehmen. In den gegenwärtigen unsicheren | |
Zeiten verschieben auch Frauen, die sehr gern ein Kind hätten, ihren Wunsch | |
auf „irgendwann später“. | |
Während 1987 auf 100.000 BewohnerInnen der Russischen Föderation 17 kleine | |
RussInnen pro Jahr geboren wurden, waren es 1993 nur noch 9,5. Nach wie vor | |
ist der Abort in Rußland die Hauptmethode der Empfängnisverhütung. Dagegen | |
wollen die 126 hauptamtlichen MitarbeiterInnen von „Rußland 01“ im ganzen | |
Land ankämpfen. ÄrztInnen, Hebammen und SozialarbeiterInnen verteilen | |
Präservative, Spiralen und Anti-Baby-Pillen im Rahmen des | |
Familienplanungsprogrammes kostenlos; sie bilden medizinisches Personal aus | |
und ziehen sich Fabrikangestellte als LaienhelferInnen heran. Das russische | |
Programm unter Unesco-Schirmherrschaft initiierte das traditionelle | |
Moskauer „Internationale Frauenzentrum“ mit finanzieller Hilfe der | |
„Amerikanischen Föderation für Familienplanung“. | |
„Gesundheit für alle Frauen und gesunde, erwünschte Babies auf dem Wege | |
über Geburtenkontrolle“ – lautet die Devise. Im Land öffnet sich eine | |
verhängnisvolle demographische Schere: von den immer weniger Babies, die | |
geboren werden, sterben im internationalen Vergleich viel zu viele. Die | |
Sterberate der Säuglinge betrug im vergangenen Jahr 21 von 100.000 | |
Neugeborenen, 15 Prozent der Säuglinge leiden unter angeborenen | |
Behinderungen und Krankheiten. Hinzu kommen Behinderungen durch eine | |
unsachgemäße Geburtshilfe. Der kleinen Tochter meines jungen Hausmeisters | |
wurde bei ihrer Geburt ein Schlüsselbein gebrochen und der Schädel | |
verformt. – Margarita Sinjawskaja fühlt sich durch die Vorwürfe an die | |
Ärzte in ihrer Berufsehre keineswegs gekränkt und führt den sich zunehmend | |
verschlechternden Gesundheitszustand der Mütter als Hauptursache für die | |
hohe Sterberate an. Die vielen Abtreibungen seien genauso schuld wie | |
falsche und nicht ausreichende Ernährung. Nur zwei Prozent der Frauen | |
lassen sich regelmäßig gynäkologisch untersuchen. Kein Wunder, denn | |
Verhütungsmittel bekommen sie in den Arztpraxen selten. | |
Die klassischen Sowjet-Präservative – im Volksmund „Galoschen“ genannt �… | |
platzten, wenn Mann sie nur ansah. Heute gibt es ein internationales | |
Sortiment an jeder Ecke. Aber die Frauen genieren sich, „so etwas“ zu | |
kaufen, und die Männer halten sich für „so etwas“ nicht zuständig. „Vi… | |
Männer wissen gar nicht, daß ihre Frauen Abtreibungen machen und wollen es | |
auch gar nicht wissen“, erzählt Margarita Sinjawskaja. „Was heißt hier, | |
wissen nichts von den Abtreibungen“, fällt ihr Natalja Grigorjewa ins Wort. | |
„Ich habe sogar mal einen Mann getroffen, der gar nicht wußte, was das ist: | |
eine Abtreibung.“ Aber manchmal stehen die Männer in den Betrieben auch | |
Schlange, wenn die MitarbeiterInnen von „Rußland 01“ die Präservative | |
kostenlos verteilen. Seit drei Jahren arbeitet die Organisation in 18 | |
Moskauer Industriebetrieben, der Universität und an der Medizinischen | |
Akademie. In der Zwölfmillionenstadt erreicht sie 20.000 BürgerInnen. | |
Eigentlich sollen die Präser an Männer und Frauen im gebär- und | |
zeugungsfähigen Alter abgegeben werden. Aber Natalja Grigorjewa, die | |
Philosophin, macht auch Ausnahmen. „So mancher alte Pförtner will uns | |
weismachen, in seiner Familie hätten alle Männer noch als Rentner Kinder | |
gezeugt. Und neulich kam eine Babuschka, deren Enkel gerade aus der Armee | |
zurückgekehrt war. Die alte Frau jammerte: Mein ganzes Leben habe ich | |
meiner Fabrik geopfert, und jetzt hat sie nicht mal ein Präservativ für | |
mich übrig. – Klar, daß wir ihr die verlangte Großpackung gegeben haben.“ | |
Ein paar Schritte weiter die Straße hinunter ist die Fabrik „Kommunar“. Ein | |
Gebäude wie aus Holzklötzchen aufgerichtet. Früher wurden hier Hubschrauber | |
und anderes militärisches Gerät gebaut, heute sind es Staubsauger. Hier, im | |
„Medizinischen Sanitätspunkt“, arbeitet die Gynäkologin Ella Swiridowa, | |
eine Frau Mitte Dreißig mit Lachfünkchen in den Augen. Sie ist die | |
Vertrauensperson von „Rußland 01“. Das Ambulatorium erinnert ein wenig an | |
Tschechows Zeiten: die weißen Kacheln bis zur Decke, vor dem | |
gynäkologischen Stuhl ein Paravent mit feiner weißer Voilebespannung, | |
altmodische Phiolen. Doch der Schein trügt. Hier ist das 20.Jahrhundert im | |
Vormarsch. An der Tür treffen wir die resolute Arbeiterin Ira. Eine | |
Dreierpackung Antibabypillen in der Hand: „Anfangs haben wir das alles | |
erstmal mißtrauisch aufgenommen“, kommentiert sie: „Wir hielten das für | |
irgendeine ausländische Spendenaktion: Mehr Lärm als realer Nutzen. Aber | |
die kleinen Pillen sind prima. Jetzt leidet meine Ehe nicht mehr durch den | |
Gedanken an eine ungewollte Schwangerschaft. Und seitdem ich die Dingelchen | |
nehme, ist plötzlich auch mehr Einverständnis in der Familie, mehr Wärme | |
zwischen mir und meinem Mann.“ | |
In den vergangenen anderthalb Jahren holten sich 575 Frauen die | |
Pillenschachteln. „Das sind schon viele“, sagt Ella Swiridowa, „wo die | |
Leute überhaupt aufgehört haben, zu den Ärzten zu gehen, weil sie es sich | |
nicht mehr leisten können.“ Ella Swiridowa läuft häufig die Werkbänke | |
entlang. „Sofort, wenn mir eine Frau im gebärfähigen Alter hier ins Auge | |
sticht, frage ich: Und womit verhüten Sie? Und dann predige ich, weil die | |
Frauen hier sozusagen sexuelle Analphabetinnen sind.“ | |
Neuerdings gibt es auch an einigen Schulen zaghafte Versuche, einen | |
Aufklärungsunterricht abzuhalten. „Manche Schuldirektoren haben uns einfach | |
die Tür gewiesen“, erzählt Margarita Sinjawskaja. „So etwas gibt es bei u… | |
nicht, sagen sie dann gewöhnlich. Und wenn wir fragen: Was gibt's nicht? | |
Dann antworten sie: Na eben das!“ Sex in Rußland? Den gab's offiziell schon | |
zu Zeiten der Sowjetunion nicht. | |
„Meine Tochter ist 13“, sagt Ella Swiridowa: „In ihre Klasse bin ich zuer… | |
gegangen und habe den Mädchen dort die Geschlechtsorgane und die Funktion | |
der Menstruation erklärt.“ Heute besucht sie für „Rußland 01“ auch and… | |
Schulen. Schülerinnen der zehnten und elften Klassen bekommen von ihr | |
Verhütungsmittel in die Hand gedrückt. Läßt sich denn bei Kichern und | |
Tuscheln überhaupt sachlich über Sexualität und Verhütung im Unterricht | |
sprechen? „Natürlich. Ganz im Gegenteil, ich habe mich immer wieder | |
gewundert, wie informiert sogar die Kinder in den unteren | |
Mittelschulklassen schon sind. Da sagt doch neulich ein Mädchen zu mir: Was | |
soll's – nun bin ich aber schon mal schwanger geworden.“ Für die | |
Zwölfjährige kamen Präservative und Aufklärungsunterricht ein paar Monate | |
zu spät. | |
Im vergangenen Jahr starteten auch in einigen Dörfern derartige | |
Aufklärungsprojekte. Noch in diesem Jahr soll in Moskau eine Musterklinik | |
für Familienplanung gegründet werden. Und schließlich – nach 5 Jahren – | |
hoffen die Frauen auf eine selbständige Organisation ähnlich der Pro | |
Familia in Deutschland. Wie es scheint, nehmen russische Teenager den | |
Spruch: „Gib Aids keine Chance“ ernst. Selten vergißt ein Schüler, sich | |
seine Monatsration von 12 Präservativen abzuholen. Aber könnte es nicht | |
auch sein, daß die Jungs mit den Kondomen einen schwunghaften Handel | |
treiben? „Möglich ist alles“, sagt Ella Swiridowa. „Aber ich will nichts | |
Schlechtes denken. Das Gute, was ich doch tun kann, würde mir dann nicht | |
mehr gelingen.“ | |
25 Feb 1994 | |
## AUTOREN | |
barbara kerneck | |
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