| # taz.de -- Aufbruch im Armenhaus | |
| > Äthiopien war einst Synonym für Hunger und Krieg. Das ist jetzt vorbei – | |
| > aber die Zweifel wachsen, ob das Land zusammenhält ■ Aus Addis Abeba | |
| > Sinikka Kahl | |
| Heitere Nachtschwärmer flanieren vor blitzblanken Luxuskneipen. | |
| Feinschmeckermenüs gibt es darin, Bier und Musik. An der Straßenecke | |
| verkaufen Jugendliche Oppositionszeitungen. Soldaten sind nicht zu sehen. | |
| Das ist Addis Abeba, Hauptstadt Äthiopiens. Einst war hier Militär | |
| allgegenwärtig, nachts erzeugte die Ausgangssperre Geisterstadtstimmung. | |
| Heute, nahezu drei Jahre nach der Einnahme der Stadt durch Guerilleros, dem | |
| Sturz der Diktatur von Mengistu Haile Mariam und der Machtergreifung durch | |
| die „Revolutionäre Demokratische Front des Äthiopischen Volkes“ (EPRDF) i… | |
| eine neue Leichtigkeit spürbar. Oder ist das nur Fassade? | |
| Das lähmende Gewicht der Diktatur ist verschwunden. Im ganzen Land | |
| besprechen Dorfräte („Kebele“) die Zukunft des Landes. Zur Diskussion steht | |
| die neue Verfassung, die die Verwandlung des einstigen zentralistischen | |
| Kaiserreiches Äthiopien in einen Bundesstaat besiegeln soll. | |
| Staatspräsident Meles Zenawi und die EPRDF-Übergangsregierung sagen: Der | |
| Föderalismus wird die Herrschaft einiger ethnischen Gruppen über die | |
| anderen beenden. „Amharen und Tigreer haben die Kultur und die Rechte der | |
| anderen Gruppen unterdrückt“, sagt Ato Taye Atskeselassie, Sprecher der | |
| Arbeitsgruppe, die die neue Verfassung schreibt. Jahrhundertelang, bis | |
| 1991, herrschte die amharische Minderheit über Äthiopiens mehr als 80 | |
| ethnische Gruppen – erst in einem Kaiserreich, dann mit Mengistus | |
| kommunistischen Militärs. Die derzeitige EPRDF- Regierung wird von der TPLF | |
| dominiert, der einstigen Guerilla des nördlichen Tigre-Volkes. | |
| Der neue Regierungskurs überzeugt dennoch nur wenige, obwohl kaum jemand | |
| die Repression der Vergangenheit bestreitet. Auf einer Nationalkonferenz im | |
| Sommer 1991 wurde Äthiopien in zwölf Regionen auf ethnischer Grundlage | |
| aufgeteilt plus Addis Abeba und Harar als Stadtstaaten. Wichtige | |
| Kompetenzen sind an die regionalen Behörden delegiert worden: Sie bestimmen | |
| die Lehrpläne der Schulen, haben teilweise Steuerhoheit und sind für 80 | |
| Prozent der Sozialausgaben verantwortlich. Mehrere Völker haben in ihren | |
| Regionen die frühere Amtssprache Amharisch durch die Ortssprache ersetzt – | |
| Afar, Oromo, Somali. | |
| Die Kehrseite: ein Geburtsfehler bei den ersten Regionalwahlen im Sommer | |
| 1992, die nach Meinung vieler Beobachter manipuliert wurden. Die EPRDF und | |
| die ihr nahestehenden Gruppen errangen 96 Prozent aller Sitze. Aus Protest | |
| gegen die Art der Abhaltung der Wahlen trat die „Oromo- Befreiungsfront“ | |
| (OLF) aus der Regierung aus. | |
| In vielen Gebieten sind Milizen gebildet worden, die Angehörige von | |
| Minderheitengruppen aus den jeweiligen Regionen vertreiben. „Die | |
| Oromo-Behörden vertreiben gebildete Amharen und ersetzen sie durch unfähige | |
| Oromos“, sagt der europäische Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. In den | |
| Oromo- und Somali-Regionen hat es blutige Zusammenstöße mit OLF- Gruppen | |
| gegeben, die nach den Regionalwahlen zurück in den Untergrund gingen. | |
| „Die Regierung schürt den Nationalismus“, sagt Abebe Areru, Vertreter der | |
| oppositionellen „Southern People's Coalition“, die diverse südliche | |
| Minderheitenvölker vertritt. „Sie praktiziert eine | |
| Teile-und-herrsche-Politik. So können die nur drei Millionen Tigreer, die | |
| die EPRDF beherrschen, die restlichen 50 Millionen Äthiopier allein | |
| regieren“. | |
| Andere Beobachter verweisen voller Entsetzen auf einen Artikel der | |
| geplanten zukünftigen Verfassung, der den einzelnen Regionen das Recht zur | |
| Sezession gewährt. Im Frühsommer 1993 konstitutierte sich das einst | |
| äthiopisch besetzte Eritrea auf solch einer Grundlage per Referendum als | |
| unabhängiger Staat. Der nächste Kandidat für eine Sezession könnte die | |
| Oromo-Region sein. Aber die Oromos stellen ein Drittel der äthiopischen | |
| Bevölkerung; ihre Region erstreckt sich über ein Drittel des Staatsgebietes | |
| – vor allem im Süden und im Zentrum – und produziert 80 Prozent des | |
| Bruttosozialprodukts. Die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba ist eine | |
| Enklave in der Oromo-Region. „Wenn die Oromos unabhängig werden“, sagt ein | |
| Diplomat, „ist Äthiopien am Ende“. | |
| Atskeselassie ist zuversichtlich, daß das nicht passiert. „Wenn man den | |
| ethnischen Gruppen erlaubt, unabhängig zu werden, werden sie es nicht mehr | |
| wollen“, behauptet er. Aber viele fürchten den Sezessionsvirus. „Ohne eine | |
| gemeinsame Sprache kann ein Land von der Vielfalt Äthiopiens nicht | |
| zusammengehalten werden“, sagt der französische Ethnologe Jacques Bureau, | |
| der seit zehn Jahren in Äthiopien lebt. | |
| Im Juni soll eine verfassunggebende Versammlung gewählt werden. Die | |
| Opposition – darunter OLF, die „Southern People's Coalition“ und diverse | |
| amharische Gruppen – droht mit Boykott. Sie sagt, die freiheitliche | |
| Stimmung in Addis Abeba sei nur vordergründig. Tatsächlich sind | |
| Regimekritiker und Journalisten verhaftet worden, Oppositionsversammlungen | |
| wurden verboten, 41 Universitätsprofessoren entlassen. Durch Verhaftungen | |
| wurde vor wenigen Wochen eine „Versöhnungskonferenz“ der Oppositionsgruppen | |
| in der Hauptstadt erschwert. Die Opposition spricht auch von Behinderungen | |
| beim Zeitungsverkauf und Einschüchterungen ihrer Vertreter in den Dörfern. | |
| Anhänger der Regierung halten dagegen, daß die Opposition selber nur enge | |
| ethnische Interessen vertrete und in sich gespalten sei. „Die | |
| Menschenrechtsverletzungen dieser Regierung sind Kleinkram, verglichen mit | |
| der Ermordung von Tausenden in der Mengistu-Ära“, betont ein Diplomat. | |
| In Lalibela, einer armen nördlichen Kleinstadt, haben die Menschen ohnehin | |
| anderes im Kopf. Seit dem Machtwechsel gibt es Trinkwasser und einen | |
| Stromgenerator. Die Bauern haben über 50 Kilometer feste Straßen gebaut; es | |
| gibt Pläne für eine Klinik und einen Flughafen. „Die Leute sind wahnsinnig | |
| motiviert“, sagt Hirut Bekele, äthiopischer Ortsvertreter einer | |
| niederländischen Hilfsorganisation. „Und die wichtigste Verbesserung ist | |
| der Frieden. Junge Leute werden nicht mehr zwangsrekrutiert, und das bringt | |
| der EPRDF Popularität“. | |
| 4 Mar 1994 | |
| ## AUTOREN | |
| sinikka kahl | |
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