# taz.de -- Kann nicht Skateboard fahren | |
> „Cultural Studies“: Die Münchener Villa Stuck zeigt Arbeiten von Dan | |
> Graham ■ Von Jochen Becker | |
Dan Grahams Stärke liegt im Mix: Die Verbindung von Recherche, Poptheorie | |
und genreloser Produktion verhalf ihm zum Geheimtip-Status unter frei | |
vagabundierenden Kunstschulabbrechern. Eher beiläufig schlidderte der | |
damals 25jährige 1964 in das „art system“ hinein, leitete kurzfristig | |
zusammen mit Freunden eine kleine Galerie in Manhattan und umgab sich bis | |
zum raschen Bankrott des Hauses mit Bekanntschaften wie Sol LeWitt, Donald | |
Judd, Robert Smithson, Dan Flavin oder Carl Andre. Sein späteres Interesse | |
für Videoperformances, Post-Punk oder Manhattans Hochhaus-Arkadien | |
markierten schon bald eine deutliche Distanz zu den erfolgreicheren, dabei | |
jedoch recht biederen Künstlerkollegen. Grahams Einsichten – an Dean | |
Martin, Patti Smith und Malcolm McLaren statt Frank Stella oder Clement | |
Greenburg geschult – machten ihn dagegen zum „legendären Typen“: Daß er | |
heutzutage wie Flavin auch Schnickschnack für den neuen Münchner | |
Franz-Josef-Strauß- Flughafen projektiert oder zum Broterwerb artige | |
Glaspavillons in Gärten setzen läßt, ist in seinem Fall kaum der Rede wert. | |
Die unter dem Titel „Rock my Religion“ kürzlich herausgegebene Textsammlung | |
und eine Ausstellungstour, die nunmehr in der Münchner Villa Stuck mit | |
einem Katalog abgeschlossen wird, könnten Dan Graham auch in Deutschland | |
eine Breitenwirkung verschaffen. Während die zur Schau gestellten, mehrfach | |
verspiegelten Pavillons nicht nur Kamerateams zu aberwitzigen Schwenks | |
animieren, sondern gleichfalls als Vorführobjekte für so manchen | |
oberbayerischen Privatparkbesitzer dem Außenraumgestalter Graham zu neuen | |
Aufträgen verhelfen mögen, halten sich andere Besucher an dessen gut | |
aufgelegte „Cultural Studies“. Dieses in Europa weitgehend unbeachtete | |
Wissenschaftsgenre der Erkundung kultureller Produktion wurde vom | |
Kunstbegleiter Graham praktiziert, noch bevor es eine solche Bezeichnung | |
überhaupt gab. Pollock-Gemälde werden bei Graham nur als doppelseitiger | |
Artikel der Zeitschrift Life abgebildet; und Van Gogh heißt Kirk Douglas, | |
wenn man ihn im Spiegel der Medien betrachtet: „Art is a social sign.“ | |
Grahams Essays konstituieren so „eine Geheimgeschichte der Transformationen | |
kapitalistischer Kultur im Nachkriegsamerika, betrachtet durch die | |
kulturellen Manifestationen der Konzeptkunst, Rockmusik und postmoderner | |
Architektur“, formuliert in seinem Vorwort der Herausgeber Brian Wallis. | |
Wer allerdings direkte Kapitalismuskritik erwartet, wird enttäuscht: Die | |
Indifferenz gegenüber seinen Bildgegenständen, die Dan Graham in | |
„Eisenhower and the Hippies“ an den Sonntagsmalereien des Präsidenten | |
liebt, zieht auch er als Betrachterhaltung vor. | |
Graham spult seine breitgefächerten Themen nach einem festen Programm ab: | |
ausführliches historisches Intro, Beschreibung und exzellente Bebilderung | |
exemplarischer Produkte (Schwerpunkt Popmusik und Architektur), abruptes | |
Ende und als Auslaufrille ein umfassender Fußnotenapparat. Musterbeispiel | |
hierfür ist seine Beschreibung der „Corporate Arcadias“, die überdachten | |
Gartenvorhallen der Hochhäuser Manhattans. Ein besonderes Gesetz erlaubte | |
es den Firmen, höher zu bauen, wenn sie im Gegenzug quasi-öffentliche Zonen | |
auf Straßenniveau schaffen. Graham stellt in seiner Betrachtung das Ford | |
Foundation Building – hoher Lichthof, ein Teich mit Regenwasser, | |
verwitternde und somit Alterungsprozesse thematisierende Stahlelemente, | |
Pflasterung und Bepflanzungen wie in New Yorker Parks – dem jüngeren Chem | |
Court Building gegenüber. Hier dominieren deutlich künstlichere Materialien | |
wie Aluminium; der Raum wurde eine Art Gewächshaus, mit Palmen und | |
exotischen Früchten bei künstlichem Sonnenlicht und einer immerwährenden | |
Weihnachtsbeleuchtung ausgestattet – jeder Baumstamm ist verkabelt. Natur | |
wird dem öffentlichen Raum rückeingepflanzt, als teileingelöster Garten | |
Eden. Die „corporate showcases“ finden ihre Fortsetzung in den Atrien einer | |
Versicherung und eines Tabakherstellers, die wiederum dem Whitney-Museum | |
als Zweigstellen dienen. | |
Vor allem übt Graham Museumskritik. Seine Arbeit „Die Stadt als Museum“ | |
beschreibt Robert Venturis Anlage des „Western Plaza“ in Washington als | |
„outdoor museum“, das die Stadt zum Thema nimmt und damit einen | |
öffentlichen Platz besetzt. Der begehbare und verkleinerte Grundriß des | |
Regierungs- und Museumsviertels verdeutlicht die Machtachse Capitol–White | |
House (sie heben sich als einzige Gebäude plastisch aus dem Grundriß des | |
Stadtplans hervor) und veranschaulicht durch sein Layout den | |
Vorbildcharakter europäischer Gartenarchitektur für die neugegründete | |
Hauptstadt. Der ursprünglich unter dem Titel „Nicht Post-Modernismus: | |
Geschichte verglichen mit Historismus“ publizierte Artikel befaßt sich | |
außerdem mit dem Franklin House in Philadelphia, einem weiteren | |
Venturi-Arrangement der Vergangenheit. Wie ein Geisterhaus wachsen die zehn | |
Meter hohen Grundrisse des vormals bescheidenen Vorbildes als begehbare | |
Skulptur in einem zwischen Garten und vorstädtischem Innenhof pendelnden | |
Areal. In der Ebene darunter befinden sich ein Kino und das Museum, in dem | |
man per Telefon Franklins Zeitgenossen anrufen kann. Graham ist hier | |
besonders von Venturis Unentschiedenheit zwischen Kitsch und historischer | |
Aufklärung fasziniert, dem Pendeln zwischen high & low. | |
Die Analyse der Dean-Martin- Show läßt das parallel betrachtete | |
bundesdeutsche Weihnachtsprogramm noch trister erscheinen: „Ein beliebtes | |
Martin-Stück besteht darin, beim blinden Starren in die Kamera ertappt zu | |
werden, während er dem Material auf den Spickzetteln Sinn zu geben | |
versucht.“ Die Komplizenschaft mit dem unsichtbaren Studiopublikum als | |
einem Dritten, an dem der trunkene Blick – zwischen Gast und Kamera | |
umherschweifend – Halt sucht, beschreibt Graham mit einer Extraportion | |
„V-Effekt“. Dabei hätte es der ästhetischen Absicherung bei | |
Brecht/Warhol/Godard gar nicht bedurft, schaut man sich das beigefügte | |
Setfoto an. Da steht ein sonnenstudiogebräunt und geliftet erscheinender | |
Dean Martin zwischen Jimmy Stewart und Orson Welles. Alle drei tragen nicht | |
nur üppige Perücken, sondern zusätzlich noch Lockenwickler. Stewart – etwas | |
steif im Frack – blinzelt unter einem überlangen Pony hervor, Welles mit | |
offenem Hemd scheint lauthals zu singen, während der köstlich amüsierte | |
Gastgeber sich die Hände reibt: „Alles, was ich machen muß, ist ein paar | |
Spickzettel zu lesen und vier bis fünf Lieder zu singen.“ | |
„Eine neue Klasse, die sich Marx nicht vorgestellt hat: Jugend.“ Von | |
Anbeginn begleitete Dan Graham die Punk- und Wave- Bewegung und ihr Pendeln | |
zwischen Kapitalismuskritik und Marktdurchdringung. In „Punk als | |
Propaganda“, einem Diavortrag mit Musikausschnitten, der 1979 erstmals | |
abgedruckt wurde, stellt er Devos Disco-Beat bei deren Stones-Remake | |
„Satisfaction“ einem Foto gegenüber, das die Sex Pistols beim Unterzeichnen | |
ihres Plattenvertrags zeigt. Auf die Rockmusik, welche die Neuentdeckung | |
„Jugend“ durchkommerzialisierte, reagiert Punk mit Selbststilisierung und | |
verpaßt sich seine eigenen Images. Popimpresario Malcolm McLaren, den | |
Graham in die Tradition des Beatles- Managers Brian Epstein stellt, | |
durchbricht jedoch diese Selbstgestaltung und entwickelt marktgängige | |
Produkte. Auf „Sex Pistols“ folgt „Bowwowwow“, wobei der Kinder-Sex der | |
Sängerin Annabella genauso ausgebeutet wurde wie Brooke Shields für „Calvin | |
Klein Jeans“: 80er-Backlash der Frauenbewegung. Grahams aktuelle Referenzen | |
an die youth culture ist sein merkwürdig unbrauchbarer Children's Pavillon | |
(siehe auch taz vom 21.12.93) oder das Modell einer Skateboard-Bahn mit | |
aufgekritzeltem „Dan Graham kann nicht Skateboard fahren“. | |
„Schriften und Kunstprojekte“ lautet der Untertitel des nach nicht weiter | |
erklärten Gesichtspunkten kompilierten Sammelbandes „Rock My Religion“, | |
wobei das „und“ eher das Trennende markiert als eine Verbindung zwischen | |
Texten und künstlerischen Arbeiten. Tom Holert argumentiert in seinem Essay | |
„Wissenswertes“ (Texte zur Kunst Nr.12), daß Graham „peinlich darauf ach… | |
daß die ,writings‘ von Hinweisen auf seine eigene künstlerische Produktion | |
frei sind“. Dies entspräche der selbstkritischen Erkenntnis des vormaligen | |
Junggaleristen, „daß eine künstlerische Arbeit Schwierigkeiten bekommt, den | |
Kunst- Status zu erhalten, wenn nicht darüber geschrieben wird [...] Eine | |
Arbeit muß nur in einer Galerie ausgestellt, dann darüber geschrieben und | |
als Foto in einem Kunstmagazin reproduziert werden.“ Um diesem Mechanismus | |
zu entgehen, suchte Graham eben den deutlichen Split und entwickelte die | |
Doppelstrategie der „Cultural Studies“ (Essays ohne Bezug auf die | |
künstlerischen Arbeiten) und der „works for pages“ – gezielt für ein | |
Zeitschriftenlayout hergestellte konzeptionelle Studien über die Serialität | |
von Fertighäusern oder Tabellen wie „Side Effect/ Common Drug“. | |
Mir scheint jedoch, daß in Umkehrung der Holertschen Fragestellung Dan | |
Grahams künstlerische Arbeiten zunehmend eine Illustration dessen sind, was | |
er mittels seiner Artikel erkundet hat. Nur so ließen sich diese | |
halbverspiegelten Pavillons und postminimalistischen Kuben im Grünen | |
rechtfertigen: Nicht der Text legitimiert die Arbeit; vielmehr trottet die | |
Kunst den kulturellen Studien hinterher. Schönstes Exponat in der Villa | |
Stuck ist dann auch die Videodokumentation „Two Way Mirror Cylinder Inside | |
Cube and Video Salon“, hergestellt anläßlich einer Einladung der Dia | |
Foundation for the Arts. Vor dem Hintergrund seiner gleichnamigen | |
Installation auf einem Lagerhausdach mitten in Manhattan faßt Graham seine | |
verstreut publizierten Architekturessays in großen Zügen zusammen. Der | |
kosmopolite Studienreisende mit dem Camcorder baut sich dort in the middle | |
of nowhere einen Ort, wo seine Videos – und die seiner Kollegen – adäquat | |
gezeigt werden können. | |
Die Münchner Ausstellung „Kunst und Architektur/Architektur und Kunst“ ist | |
bis zum 24. April im Museum Villa Stuck zu sehen. „Rock My Religion“, Dan | |
Grahams gesammelte Schriften und Projektbeschreibungen, ist bei The MIT | |
Press (Cambridge (USA)/London) erschienen und kostet umgerechnet ca. 110 DM | |
29 Mar 1994 | |
## AUTOREN | |
jochen becker | |
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