# taz.de -- Das Land der Schimmelpilze | |
> Eine kleine, völlig subjektive Geschichte der Nahrungsaufnahme in der taz | |
> ■ Von Karl Wegmann | |
Das „Blumhagen“ im Parterre des taz-Hauses ist très chic. Auf der Karte | |
dieses modischen Restaurants, das mit bewundernswerter Penetranz die | |
typische Vorliebe der Deutschen für einen überladenen Teller bekämpft, | |
finden sich zwar keine Sterne, dafür aber ungefähr 37 verschiedene Sorten | |
Grappa. Der Speiseraum ist beeindruckend groß und strahlt die Atmosphäre | |
eines Bankiersgrinsens aus. Gäste, die hier verkehren, tragen selten ein | |
Brauereigeschwür, sondern überwiegend die Ergebnisse geduldiger | |
Solariumbesuche zur Schau. Dieser kultivierte Tempel der Nahrungsaufnahme | |
ist gleichzeitig auch der Futtertrog der taz-Mitarbeiter. Zur Mittagszeit | |
kann man sie hier bestaunen, wie sie mit kleinen bunten Essensmarken | |
wedeln, um eine der distinguierten Lohnabhängigen auf sich aufmerksam zu | |
machen. | |
Dem Hausmeister, der es leichtsinnigerweise wagte, sich mit knurrendem | |
Magen und in Freizeitkleidung (Shorts, Badeschlappen, keine Socken) an | |
diesem geweihten Ort niederzulassen, wurde prompt klargemacht, daß er den | |
Stil des Restaurants um ein klitzekleines Stückchen verfehlt habe, | |
woraufhin sich der Gedemütigte mit seiner Mahlzeit an seinen Arbeitsplatz | |
im ersten Stock zurückzog – und bis heute dort speist. Doch alle anderen, | |
sockentragenden tazler bekommen ein überaus höfliches und ausgefeiltes | |
Serviceprogramm geboten. „Haben die Herrschaften schon gewählt?“, „Hat es | |
den Herrschaften gemundet?“ fragen die schürzentragenden Bedienerinnen, | |
wenn sie denn einmal den Weg zu den billigen Tischen gefunden haben, und | |
die jüngeren Zeitungsangestellten fühlen sich gebauchpinselt im Angesicht | |
von so viel Unterwerfung. | |
Die wenigen taz-Fossilien jedoch kommen manchmal ins Grübeln und fragen | |
sich, wie es nur soweit kommen konnte. „Herrschaften“? War die taz nicht | |
vor 15 Jahren angetreten, um sämtliche „Herrschaften“ radikal abzuschaffen? | |
Und jetzt sollen wir selber welche sein? Haben wir etwa unsere Ideale für | |
ein Chicorée-Gratin und 37 verschiedene Sorten Grappa verkauft? | |
Als der Autor dieser Zeilen im Januar 1980 nach Berlin und zur taz kam, | |
hatte er zuvor zwei Jahre in Paris gelebt und sich gezwungenermaßen, aber | |
nicht ohne Vergnügen die dekadenten französischen Eßrituale zu eigen | |
gemacht. Er war ein „Genießer“ geworden. Nun mußte man nicht, so wurde ihm | |
von Freunden glaubhaft versichert, verrückt sein, um bei dieser neuen | |
linken Zeitung zu arbeiten, aber es würde doch sehr helfen. Das hörte sich | |
gut an. Eine direkte Frage nach den Eßgewohnheiten der engagierten taz-Crew | |
wurde allerdings mit einer geheimnisvollen Gegenfrage beantwortet: „Kennst | |
du das Land, wo Schimmelpilze blühn?“ | |
Das erste, was einem auffiel, war der zügellose Kaffeekonsum. Jeder tazler | |
hatte immer und überall eine Tasse mit tiefschwarzer Brühe in Arbeit. Bald | |
wurde, aus ideologischen Gründen, nur noch Nicaragua-Kaffee, die sogenannte | |
Sandino-Dröhnung, gesoffen, und zwar in einer Stärke, daß es jedem | |
Normalsterblichen schon nach dem ersten Schluck die Magenschleimhaut | |
zerfetzt hätte. Doch Magenschleimhäute hatten im politischen Kampf keine | |
Priorität, und so wurden sie einfach ignoriert. Gegessen wurde selten und | |
dann auch nur politisch korrekt. Die türkische Kebab-Bude gleich um die | |
Ecke machte ein Vermögen – die tazler müssen in dieser Zeit riesige | |
Hammelherden aufgefressen haben. | |
Eine Kantine gab es nicht in der jungen, selbstverwalteten Firma, dafür | |
stand fast in jeder Abteilung ein Kühlschrank, Marke ausgestorbenes Modell. | |
Ein Blick hinein genügte, und ich wußte, was mein Freund mit dem | |
geschändeten Goethe-Zitat gemeint hatte. Dann gab es da auch noch Menschen | |
wie Rainer. Der Mann sah aus wie etwas, worauf Grabschänder stoßen, und er | |
fraß alles. Schimmelige Kebabkanten, angefaulte Äpfel, verschmähte | |
Hundekuchen – nichts war vor ihm sicher. Eine von ihm entdeckte Büchse | |
Milch pflegte er auszusaugen wie ein verhungernder Vampir, so schnell und | |
so heftig, daß sich das Weißblech gequält nach innen bog. Der Mann war | |
zweifellos gefährlich. Fotoredakteur Udo, der seine Filme im Sazz- | |
Kühlschrank aufbewahrte, hatte so einen Respekt vor Rainers bestialischem | |
Hunger, daß er sein Material mit einem Zettel versah: „Als Appetitzügler | |
allemal empfehlenswert, aber eigentlich völlig ungenießbar. Bitte, tu's | |
nicht, Rainer!“ | |
Mitte der achtziger Jahre ging dann endlich ein Gespenst um im Berliner | |
Wedding, Wattstraße 11–12. Schluß sollte sein mit Cholesterinbomben, | |
Fast-food-Dauerbeschuß und der ewigen kulinarischen Tieffliegerei: Eine | |
Kantine wurde installiert – selbstverständlich nicht auf allgemeinen | |
Wunsch, sondern auf die Eigeninitiative einiger denkmalwürdiger | |
Mitarbeiterinnen hin. Sogleich kam Schadenfreude auf. Nie und nimmer wird | |
in diesem Chaos eine Küche funktionieren, war die einhellige Meinung, und | |
vereinzelt waren Sprüche zu hören wie: „O mein Gott, wenn das | |
Gesundheitsamt davon Wind bekommt, machen die gleich den ganzen Laden | |
dicht.“ Nur ein paar tazler der ersten Stunde ließen sich nicht | |
beeindrucken, denn sie wußten: Wenn die Sache irre wird, werden die Irren | |
zu Profis. | |
Und es funktionierte. Morgens wurde ein Frühstücksbüfett angeboten, und | |
mittags gab es meist die Auswahl zwischen zwei überaus schmackhaften | |
Gerichten, eines davon immer vegetarisch. Der Erfolg war überwältigend, | |
schon nach zwei Wochen wollte und konnte sich niemand mehr an die Zeiten | |
erinnern, als Gaumenfreuden etwas Unanständiges waren, etwas, was nur der | |
Klassenfeind haben durfte. Von ihrem gelungenen Durchbruch tollkühn | |
geworden, schafften die Macherinnen – vor ein paar Monaten noch undenkbar – | |
gar einen Cola-Automaten an. | |
Angebetete Stars wurden plötzlich geboren, und zwar direkt am Herd. Wenn | |
Claudia kochte, hielten wir den Atem an und Messer und Gabel bereit. Sie | |
konnte der Flüchtigkeit einer Gemüsebeilage den Anschein von Feierlichkeit | |
verleihen. Ihre Phantasie wurde angefeuert von Gott weiß was für Gedanken, | |
Gedanken, die kühn genug waren, um einen Wolfram Siebeck in Panik zu | |
versetzen. Oder Herr Thömmes: Wenn der morgens mit seiner Spätzle-Maschine | |
unterm Arm auftauchte, ging ein Raunen durch die Abteilungen, und jeder | |
starrte den ganzen Morgen über verstohlen auf die Uhr, um zum Zeitpunkt, da | |
der Zauberer seine neueste Kreation servierte, ganz vorne in der Reihe zu | |
stehen. Er schuf Gerichte, die Einsiedler aus den Bergen treiben konnten, | |
die die toten Geschmacksnerven der Nikotinsüchtigen wieder zum Leben | |
erweckten und die alte Hausfrauen dazu brachten, etwas über Gewürze | |
nachzulesen. Schön war die Zeit, allein, sie währte nicht lange. | |
Schon bald spendete Herr Thömmes seine ganze Schaffenskraft der | |
Sportredaktion, und Claudia wechselte in die Korrektur. Immer neue | |
Gestalten versuchten sich jetzt an den taz-Töpfen. Die Kochkunst jagte sie | |
– aber sie waren schneller. Sie setzten uns Pizza vor! Das Zeug war zäher | |
als Glasfieber, roch aber nicht so gut. Sie hackten ein bißchen Gemüse, | |
warfen alles in einen Bottich, kochten es ein paar Stunden lang und nannten | |
es dann Ratatouille. Böse Gerüchte und Witze machten die Runde. Es hieß | |
nach ein paar Monaten, mit der Ernährung durch die taz-Kantine werde man | |
zweifellos in die Geschichte der Inneren Medizin eingehen und deshalb könne | |
man seinen Körper für eine schöne Stange Geld den Universitäten im In- und | |
Ausland anbieten. Dafür, daß immer zuwenig Portionen vorhanden waren, gab's | |
ebenfalls eine logische Erklärung: Die Kantine wollte aus reinem | |
Selbsterhaltungstrieb die ganze Belegschaft nicht auf einmal umbringen. | |
Auch bei der Essensausgabe hatte sich einiges geändert. Die Zeit der | |
freundlichen Worte und der Fachsimpelei („eine Prise Kurkuma eröffnet dem | |
Ganzen eine völlig neue Dimension“ etc.) war vorbei. Der neue, | |
selbsternannte Koch starrte einen an wie ein Missionar seinen ersten | |
Heiden. Wenn man nicht flugs eine leicht gekrümmte Demutshaltung einnahm | |
und mit leiser Stimme um Nahrung flehte, bekam man vom unbekannten toten | |
Tier, das er da zerkocht hatte und das im übrigen wie etwas schmeckte, was | |
ein Aasfresser verschmäht hätte, mit Sicherheit nur Knorpel und Sehnen. | |
Doch es gab ein Leben nach dem ewigen Chili con carne und der matschigen | |
Pasta mit Käsesoße. Denn die Fluktuation unter den Küchenbullen war hoch, | |
und so blieb es nicht aus, daß ab und zu ein echter Meister klebenblieb. | |
Erleichternd hinzu kam im Juni 1989 der Umzug der gesamten Zeitung in die | |
Kochstraße. Die Kantine wurde ausgebaut und mit professionellen | |
Hilfsmitteln ausgestattet. Und endlich war genügend Platz vorhanden. Die | |
gesamte untere Etage wurde zum Speiseraum, und es gab sogar eine | |
Sonnenterrasse. In der Küche herrschte wieder eine Atmosphäre kühler | |
Überlegungen, kreativer Zusammenarbeit und gelegentlicher Intuition, und | |
selbst die Nicaraguaner hatten ein Einsehen und brachten eine | |
Sandino-Dröhnung light heraus. Alles stand bestens mit der | |
Nahrungsaufnahme, jeder bekam, was er wollte, kurzum: Es war vollbracht! | |
In so einer Situation, wenn alles glattläuft, fühlt sich der gemeine tazler | |
unwohl, da fehlt ihm einfach die tägliche Herausforderung. Also geht er | |
einen Schritt weiter – glaubt er. Oft ist das selbstbewußte | |
Vowärtsschreiten einfach nur ein Schritt zurück. Im Fall der Kantine war er | |
brutal und radikal: Sie wurde komplett abgeschafft. | |
Aus rein ökonomischen Überlebensgründen, wie die Geschäftsleitung erklärte, | |
wurde die inzwischen innig geliebte Küche demontiert und die gesamte Etage | |
für eine Handvoll Silberlinge im Monat zu einem Null-Sterne-Restaurant | |
degradiert. | |
Jetzt hängt eine Bierreklame am Rudi-Dutschke-Haus, und die tazler sehen, | |
während sie auf ihre Salatblätter warten, an den Nebentischen | |
Springer-Manager und auch schon mal einen Bundeswehroffizier tafeln. Nancy, | |
die einzige, die von der legendären Kantinencrew übriggeblieben ist, | |
schmiert morgens ein paar Brote, und alte stilbewußte Genießer wie ich | |
gehen mittags kurz um die Ecke – da hat nämlich gerade eine | |
unterstützungswürdige Kebab- Bude ihre Pforten geöffnet. | |
16 Apr 1994 | |
## AUTOREN | |
karl wegmann | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |